Personalprobleme prägen Beratung über Jahresbericht 2022 der Wehrbeauftragten
Ausrüstung, Personal, Geld – der Bundeswehr mangelt es an allem. So lautet das Diktum der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Dr. Eva Högl, in ihrem Jahresbericht 2022 (20/5700), über den der Bundestag am Donnerstag, 20. April 2023, erstmals beraten hat. In den Mittelpunkt ihrer Rede zum Auftakt der Aussprache stellte Högl die Personalprobleme der Truppe. Im vergangen Jahr habe die Bundeswehr zwar rund zwölf Prozent mehr Soldaten rekrutieren können als 2021. Gleichzeitig sei allerdings die Zahl der Bewerber um elf Prozent gesunken. Und die Quote der Abbrecher in den ersten sechs Monaten ihres Dienstes sei mit 21 Prozent sehr hoch. Unter diesen Voraussetzungen sei das Erreichen der Zielmarke von rund 203.000 Soldaten bis zum Jahr 2031 ein Kraftakt.
Högl: Ausrüstung und Munition schneller nachbeschaffen
Eindringlich mahnte Högl eine Sanierung der Infrastruktur der Bundeswehr an. Neben den militärischen Anlagen betreffe dies auch die Unterkünfte der Soldaten, Truppenküchen, sanitäre Einrichtungen, Betreuungseinrichtungen und die Digitalisierung von Kasernen. Es bestehe ein Investitionsvolumen von rund 50 Milliarden Euro. Im Augenblick würde dafür aber lediglich etwa eine Milliarde Euro dafür aufgebracht. Es würde ein halbes Jahrhundert dauern, um die Kasernen zu modernisieren. „Das ist zu lange“, sagte Högl.
Die Wehrbeauftragte erinnerte zudem an die Herausforderungen, die mit dem Ukraine-Krieg auf die Bundeswehr zugekommen seien. Die Truppe habe Waffen und Munition aus den eigenen Beständen an die Ukraine abgegeben, bilde ukrainische Soldaten aus und beteilige sich an der Stärkung der Nato-Ostflanke im Baltikum und in der Ostsee. Högl mahnte an, dass die an die Ukraine abgegebene Ausrüstung und Munition sehr viel schneller nachbeschafft wird. Im vergangenen Jahr sei aus dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro noch nichts bei der Truppe angekommen.
Verteidigungsminister will Reform der Strukturen vorantreiben
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) kündigte in der Debatte an, die Reform der Strukturen in den Streitkräften voranzutreiben. „Wenn die Leute gut sind, aber die Ergebnisse sind es nicht, dann stimmen vielmehr die Strukturen und Abläufe nicht und müssen verändert werden.“ Er werde aber keine zusätzliche Bürokratie und Dienstposten schaffen. Er wolle die Zeitenwende „schneller und kraftvoller umsetzen und auch sichtbar in der Struktur“ des Ministeriums machen.
Pistorius sagte zudem zu, die Nachbeschaffung von Material und Munition zu beschleunigen. Die Unterstützung für die Ukraine werde aber so lange wie nötig fortgesetzt. Die Einsatzfähigkeit und die Kaltstartfähigkeit der Bundeswehr müsse deutlich erhöht werden. Dazu gehöre auch, die Zusage an die Nato, bis 2025 ein voll ausgestattete Division bereitzustellen, einzuhalten. Dies alles werde in Zukunft noch teurer werden. Er halte deshalb am Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes für Verteidigung auszugeben, fest.
CDU/CSU: „Warnschuss“ für die Ampelkoalition
Kerstin Vieregge (CDU/CSU) bezeichnete den Jahresbericht der Wehrbeauftragten als „Warnschuss“ für die Ampelkoalition. Das Jahr 2023 dürfe nicht wie das Vorjahr „wieder verschlafen“ werden. Das Sondervermögen für die Bundeswehr sei zwar richtig gewesen, aber letztlich sei es nur ein „Notpflaster“, sagte Vieregge.
Die Bundesregierung habe es versäumt, den regulären Verteidigungsetat dauerhaft zu erhöhen. Allein für die Beschaffung von Munition müssten rund 50 Milliarden Euro aufgebracht werden. Die Wehrbeauftragte spreche von einem Volumen von insgesamt 300 Milliarden Euro, das in die Bundeswehr investiert werden müsse.
Grüne: Arbeits- und Lebensbedingungen der Soldaten verbessern
Merle Spellerberg (Bündnis 90/Die Grünen) mahnte, der Jahresbericht der Wehrbeauftragten dürfe nicht wie so oft zu den Akten gelegt werden. Auch sie forderte deutlich größere Anstrengungen, um den Dienst in der Bundeswehr attraktiver zu machen. Mit Geld allein sei dies jedoch nicht zu machen. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Soldaten müssten insgesamt verbessert werden.
Spellerberg warnte in diesem Zusammenhang auch vor der gestiegenen Zahl sexueller Übergriffe in der Truppe, unter denen vor allem Frauen litten. Zudem monierte sie die noch immer fehlende Militärseelsorge für die rund 3.000 muslimischen Soldaten in der Bundeswehr.
AfD kritisiert falsche Personalwerbung
Hannes Gnauck (AfD) übte massive Kritik an der Abgabe von Waffen und Munition aus Beständen der Bundeswehr an die Ukraine. Dies würde der Bundeswehr mittelfristig mehr schaden als es der Ukraine nützen. Zudem warf er der Bundesregierung vor, sie betreibe eine falsche Personalwerbung. Bei der Nachwuchsgewinnung würde immer nur Karrieren als Mediziner oder Techniker in den Vordergrund gestellt.
Die Bundeswehr benötige aber vor allem Kämpfer. Die Streitkräfte müssten aber „auf dem Schlachtfeld bestehen und auch siegen können“. Die Ampelkoalition propagiere hingegen „eine politisch korrekte Armee mit Gendersternchen und nur ein bisschen Flecktarn“. Dies sei aber keine richtige Armee.
FDP mahnt Investitionsstau an
Marcus Faber (FDP) hielt Gnauck entgegen, seine Rede vermittle „ein Bild von Rechtsextremismus in der Bundeswehr“ und spielte damit auf dessen Karriere als Zeitsoldat in der Bundeswehr an. Faber mahnte den Investitionsstau in der Bundeswehr an, der durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine deutlich geworden sei.
Deshalb habe die Koalition das Sondervermögen für die Bundeswehr aufgelegt. Von diesem Geld würde im großen Umfang die persönliche Ausrüstung der Soldaten verbessert und „alte Kampfjets durch neue Kampfjets ersetzt, alte Transporthubschrauber durch neue Transporthubschrauber“ ersetzt. Zudem würde in ein Luftverteidigungssystem investiert, „um Raketen Russlands abzuwehren“. Um die Beschaffung zu beschleunigen, würde das europäische Recht genutzt, um Ausrüstung direkt zu bestellen.
SPD: Landes- und Bündnisverteidigung ist Kernauftrag der Bundeswehr
Eine beschleunigte Beschaffung aus Ausrüstung forderte auch Dirk Vöpel (SPD). Der Bundestag trage die Verantwortung für die Bundeswehr.
Das Parlament entsende die Truppe in ihre Einsätze und habe deshalb auch für eine angemessene Ausrüstung zu sorgen. Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sei aber die Landes- und Bündnisverteidigung wieder der Kernauftrag der Bundeswehr.
Linke: Steuergelder versickerten im Beschaffungswesen
Ali Al-Dailami (Die Linke) bezeichnete es als „eine Mär“, dass die Bundeswehr kaputtgespart worden sei. Der Verteidigungshaushalt sei in den vergangenen Jahren vielmehr ständig erhöht worden. Die Steuergelder aber versickerten im Beschaffungswesen. Umso erstaunlicher sei es, dass in Högls Bericht das Wort „Korruption“ noch nicht einmal auftauche, sagte Al Dailami.
Die Rüstungsindustrie müsse endlich in die Haftung genommen werden bei Kostensteigerungen. Massive Kritik übte der Abgeordnete zudem an der Rekrutierung von minderjährigen Soldaten. Deren Anteil habe in den vergangenen Jahren ständig zugenommen und dies würde mit dem Personalmangel begründet.
Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte
Das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr ist nach Einschätzung der Wehrbeauftragten Högl nicht ausreichend, um die volle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte herzustellen. Nach Einschätzung militärischer Experten sei dafür eine „Summe von insgesamt 300 Milliarden Euro“ notwendig, schreibt sie in ihrem Jahresbericht 2022. „Die Höhe des Verteidigungshaushaltes muss sich daher in den kommenden Jahren ausgehend von den im Berichtsjahr erreichten 1,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes stetig und in deutlichen Schritten hin zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato bewegen“, heißt es in der Vorlage.
So seien zweistellige Milliardenbeträge erforderlich, um die Munitionsbestände aufzufüllen und Munitionslager zu bauen. Diese Summen seien im Sondervermögen nicht enthalten, sondern seien aus dem regulären Verteidigungshaushalt zu finanzieren. Zudem machten die Preisentwicklung auf dem Energie- und Rohstoffmarkt sowie die angesichts des Ukraine-Krieges gestiegene internationale Nachfrage nach militärischer Ausrüstung steigende Verteidigungsausgaben auch in Zukunft notwendig.
Verpflichtungen gegenüber der Nato erfüllen
Die Wehrbeauftragte mahnt in ihrem Bericht eindringlich an, Deutschland müsse angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seine Verpflichtungen gegenüber der Nato erfüllen. Seien für Auslandseinsätze wie in Afghanistan zwei Verbände in Bataillonsstärke bereitzuhalten und auszurüsten gewesen, habe Deutschland der Nato für eine glaubwürdige Abschreckung drei Divisionen mit acht Brigaden und insgesamt 50.000 Soldaten zugesagt. Diese Großverbände müssten mit dem entsprechenden Großgerät und der notwendigen Ausrüstung und Bekleidung der Soldaten ausgerüstet sein.
Högl fordert vor allem eine deutlich schnellere Beschaffung von militärischer Ausrüstung an. Zwar sei mit den Beschlüssen zur Beschaffung des Mehrzweckkampfflugzeuges F-35 als Nachfolger für den Tornado, eines neuen Schweren Transporthubschraubers, bewaffneter Drohnen, neuer Sturmgewehre oder neuer digitaler Funkgeräte der richtige Weg beschritten worden. Bei den Soldaten sei im Jahr 2022 aber „noch kein Cent aus dem Sondervermögen angekommen“. Das Beschaffungswesen sei „zu behäbig“.
Marktverfügbares Material statt „Goldrandlösungen“
Lobend erwähnt die Wehrbeauftragte die Entscheidung, verstärkt marktverfügbares Material statt „Goldrandlösungen“ zu beschaffen und die Anhebung der Direktvergaben von 1.000 auf 5.000 Euro. Die angestoßenen Reformen bei der Beschaffung müssten „mit Hochdruck“ beschleunigt werden. Gleiches gelte auch für die Sanierung von Infrastruktur und Kasernen, von denen zu viele „in einem erbärmlichen Zustand“ seien. „Wenn es bei dem augenblicklichen Tempo und den bestehenden Rahmenbedingungen bliebe, würde es etwa ein halbes Jahrhundert dauern, bis allein nur die jetzige Infrastruktur der Bundeswehr komplett saniert wäre“, schreibt Högl.
Um die anvisierte Sollstärke von 203.000 Soldaten bis 2031 zu erreichen, muss die Bundeswehr nach Einschätzung Högls ihre bisherigen Anstrengungen bei der Personalgewinnung „massiv verstärken“. So habe die Truppenstärke von 183.051 Soldaten und Soldatinnen Ende vergangenen Jahres sogar um 644 unter der des Jahres 2021 gelegen und das Bewerberaufkommen habe sich um rund elf Prozent verringert. Viele Verbände und Einheiten hätten auch im vergangenen Jahr unter einer hohen Zahl unbesetzter Dienstposten gelitten. Von den 117.987 militärischen Dienstposten oberhalb der Mannschaftslaufbahn seien zum 31. Dezember 2022 mit 18.692 Dienstposten 15,8 Prozent unbesetzt gewesen. (aw/20.04.2023)