Verteidigung

Högl: Noch kein Cent des Sondervermögens bei der Truppe angekommen

Nach einem Jahr Überfall Russlands auf die Ukraine steht die Landes- und Bündnisverteidigung als Kernauftrag der Bundeswehr wieder im Mittelpunkt. Mit der Einrichtung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro sei eine Zeitenwende eingeleitet worden, um die vollständige Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zu ermöglichen. „Aber von den 100 Milliarden ist im Jahr 2022 noch gar kein Euro und Cent bei der Bundeswehr angekommen“, sagte die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Dr. Eva Högl, am Dienstag, 14. März 2023, im Interview mit dem Parlamentsfernsehen. Högl übergab am selben Tag ihren Wehrbericht 2022 (20/5700) an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas.

Wehrbeauftragte: Es dauert alles viel zu lang

„Das Beschaffungswesen ist zu behäbig“, analysierte Högl. „Es dauert alles viel zu lange.“ Die angestoßene Reform der Beschaffungsprozesse müsse mit Hochdruck beschleunigt werden. „Es muss noch deutlich mehr der Turbo angestellt werden. Das Geld muss spürbar bei der Truppe ankommen und zwar zügig“, forderte Högl. Insgesamt sollten Reglementierungen zurückgenommen und Bürokratie abgebaut werden. „Ich wünsche mir, dass der Jahresbericht ein Impuls ist für alle politisch Verantwortlichen, die Dinge zu ändern.“ Das derzeit enorme Interesse an der Sicherheit- und Verteidigungspolitik gebe die Möglichkeit, Dinge zu verbessern.

Eva Högl und Bärbel Bas stehen vor einer blauen Wand, davor die europäische und deutsche Flagge. In den Händen halten sie gemeinsam den Jahresbericht der Wehrbeauftragten.

Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, bei der Übergabe ihres Jahresberichts für 2022 an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. (© DBT/Thomas Imo/photothek)

Das Sondervermögen könne nur ein Zwischenschritt sein auf dem Weg zu einer „kaltstartfähigen, vollständig einsatzbereiten und gut ausgestatteten Bundeswehr“. Viele im Bericht aufgeführte Probleme seien seit Jahren bekannt. „Getan hat sich seitdem zum Teil erschreckend wenig“, monierte die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht, den sie im Anschluss an die Übergabe an Bundestagspräsidentin Bas der Presse präsentierte. 

Jahresbericht 2022

Um die volle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte herzustellen, sei nach Einschätzung militärischer Experten eine „Summe von insgesamt 300 Milliarden Euro“ notwendig, heißt es darin. „Die Höhe des Verteidigungshaushaltes muss sich daher in den kommenden Jahren ausgehend von den im Berichtsjahr erreichten 1,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes stetig und in deutlichen Schritten hin zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato bewegen“, schreibt Högl weiter.

Es seien zweistellige Milliardenbeträge erforderlich, um die Munitionsbestände aufzufüllen und Munitionslager zu bauen. Diese Summen seien im Sondervermögen nicht enthalten, sondern seien aus dem regulären Verteidigungshaushalt zu finanzieren. Zudem machten die Preisentwicklung auf dem Energie- und Rohstoffmarkt sowie die angesichts des Ukraine-Krieges gestiegene internationale Nachfrage nach militärischer Ausrüstung steigende Verteidigungsausgaben auch in Zukunft notwendig.

Schnellere Beschaffung militärischer Ausrüstung

Die Wehrbeauftragte mahnt in ihrem Bericht eindringlich an, Deutschland müsse angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seine Verpflichtungen gegenüber der Nato erfüllen. Seien für Auslandseinsätze wie in Afghanistan zwei Verbände in Bataillonsstärke bereitzuhalten und auszurüsten gewesen, habe Deutschland der Nato für eine glaubwürdige Abschreckung drei Divisionen mit acht Brigaden und insgesamt 50.000 Soldaten zugesagt. Diese Großverbände müssten mit dem entsprechenden Großgerät und der notwendigen Ausrüstung und Bekleidung der Soldaten ausgerüstet sein.

Högl fordert vor allem eine deutlich schnellere Beschaffung von militärischer Ausrüstung an. Zwar seien mit den Beschlüssen zur Beschaffung des Mehrzweckkampfflugzeuges F-35 als Nachfolger für den Tornado, eines neuen Schweren Transporthubschraubers, bewaffneter Drohnen, neuer Sturmgewehre oder neuer digitaler Funkgeräte der richtige Weg beschritten worden, aber im Jahre 2022 sei bei den Soldaten „noch kein Cent aus dem Sondervermögen angekommen“. 

Högl: Anstrengungen bei Personalgewinnung „massiv verstärken“

Lobend erwähnt die Wehrbeauftragte die Entscheidung, verstärkt marktverfügbares Material statt „Goldrandlösungen“ zu beschaffen und die Anhebung der Direktvergaben von 1.000 auf 5.000 Euro. Die angestoßenen Reformen bei der Beschaffung müssten „mit Hochdruck“ beschleunigt werden. Gleiches gelte auch für die Sanierung von Infrastruktur und Kasernen, von denen zu viele „in einem erbärmliche Zustand“ seien. „Wenn es bei dem augenblicklichen Tempo und den bestehenden Rahmenbedingungen bliebe, würde es etwa ein halbes Jahrhundert dauern, bis allein nur die jetzige Infrastruktur der Bundeswehr komplett saniert wäre“, schreibt Högl.

Um die anvisierte Sollstärke von 203.000 Soldaten bis 2031 zu erreichen, muss die Bundeswehr nach Einschätzung Högls ihre bisherigen Anstrengungen bei der Personalgewinnung „massiv verstärken“. So habe die Truppenstärke von 183.051 Soldaten und Soldatinnen Ende vergangenen Jahres sogar um 644 unter der des Jahres 2021 gelegen und das Bewerberaufkommen habe sich um rund elf Prozent verringert. So hätten viele Verbände und Einheiten auch im vergangenen Jahr unter einer hohen Zahl unbesetzter Dienstposten gelitten. Von den 117.987 militärischen Dienstposten oberhalb der Mannschaftslaufbahn seien zum 31. Dezember 2022 mit 18.692 Dienstposten 15,8 Prozent unbesetzt gewesen. 

Ombudsinstitution der Streitkräfte

Die Wehrbeauftragte wacht über die Wahrung der Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten sowie über die Einhaltung der Grundsätze der Inneren Führung. Die gewonnenen Erkenntnisse über den inneren Zustand der Bundeswehr hält die Wehrbeauftragte in einem umfassenden Bericht fest, den sie einmal jährlich dem Deutschen Bundestag vorlegt. Als „Anwältin der Soldaten“ und zugleich Hilfsorgan des Parlaments bei der Kontrolle der Streitkräfte nimmt die Wehrbeauftragte eine besondere Stellung innerhalb des parlamentarischen Systems ein – dabei ist sie weder Mitglied des Deutschen Bundestages noch Beamtin.

Tätig wird die Wehrbeauftragte aus eigener Initiative oder auf Weisung des Deutschen Bundestages oder des Verteidigungsausschusses. Ihre Informationen erhält sie durch angemeldete und unangemeldete Truppenbesuche, Gespräche und Eingaben, die sie aus der Bundeswehr erreichen. (aw/eis/14.03.2023)