Parlament

Bundestag fordert zeit­nahe Einrichtung eines Härtefall­fonds für SED-Opfer

Anlässlich des 70. Jahrestages haben Abgeordnete aller Fraktionen am Donnerstag, 15. Juni 2023, den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR als herausragendes Ereignis der deutschen Demokratiegeschichte und als Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit gewürdigt. Zudem verabschiedete der Bundestag einen gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen (20/7202) gegen das Votum der CDU/CSU-Fraktion. Die AfD- und die Linksfraktion enthielten sich der Stimme. Abgelehnt wurde hingegen ein Antrag der Unionsfraktion (20/7188) mit den Stimmen der Koalition und der Linken bei Enthaltung der AfD.

SPD: Es war der erste Riss im System

Die SPD-Abgeordnete Katrin Budde führte an, dass der Volksaufstand von 1953 das Potenzial gehabt habe, die Herrschaft der SED in der DDR vorzeitig zu beenden. Deshalb sei er von der politischen Führung und der Sowjetunion gewaltsam unterdrückt worden. Trotzdem sei der Volksaufstand kein reiner Misserfolg gewesen. „Es war der erste Riss im System“, das 1989 letztendlich gescheitert und beseitigt worden sei.

Budde erinnerte daran, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur im Gegensatz zur nationalsozialistischen Diktatur direkt nach ihrem Ende begonnen habe. Die Errichtung der Stasi-Unterlagen-Behörde und der Bundesstiftung Aufarbeitung, die Rehabilitierungsgesetze für die SED-Opfer und schließlich die Einrichtung des Amtes der Opferbeauftragten seien wichtige Schritte gewesen. Trotzdem gebe es noch viel zu tun, führte Budde an. Einiges davon habe die Koalition in ihrem Antrag formuliert.

Scharfe Kritik übte Budde an der CDU/CSU-Fraktion. Diese habe sich trotz Entgegenkommen der Koalition einem gemeinsamen Antrag versperrt. Der von der Union vorgelegte Antrag lese sich jetzt wie ein Eingeständnis des Versagens von 16 Jahren Regierungszeit unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU). 

Union: Symbol für den Widerstand in ganz Europa

Dr. Christiane Schenderlein (CDU/CSU) sagte, der 17. Juni 1953 stehe „wie kein anderer Tag für die Sehnsucht der Menschen in Ostdeutschland nach Freiheit“. Die Niederschlagung des Volksaufstandes habe mindestens 55 Menschen das Leben gekostet, mehr als 15.000 seien verhaftet worden, viele von ihnen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Deshalb müsse der Volksaufstand als Teil des nationalen Gedankens erhalten und gestärkt werden. Er sei ein Symbol für den Widerstand in ganz Europa gegen die kommunistische Diktatur. Damals habe die Sowjetunion diesen Widerstand mit Panzern unterdrückt und heute rollten russische Panzer in der Ukraine.

Kritik übte Schenderlein an der Bundesregierung. So sei bis beute weder das Denkmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft realisiert worden, noch der bundesweite Härtefallfonds für die Opfer.

Grüne: Nicht zufriedenstellend aufgearbeitet

Kassem Taher Saleh (Bündnis 90/Die Grünen) betonte, die friedliche Revolution von 1989 stehe „in der Tradition einer jahrzehntelangen Widerstandes“, der mit dem Volksaufstand von 1953 begonnen habe. Umso wichtiger sei es gewesen, nach dem Fall der Mauer und der Deutschen Einheit die Opfer der SED-Diktatur zu rehabilitieren und das erlittene Unrecht zu entschädigen.

Der Abgeordnete räumte jedoch ein, dass trotz aller Erfolge das Schicksal vieler Opfer „nicht zufriedenstellend“ aufgearbeitet worden sei. Als Beispiele benannte Taher Saleh die Zwangsarbeit von DDR-Häftlingen, von der auch westliche Firmen profitiert hätten, das staatliche Zwangsdoping von DDR-Sportlern, das Schicksal von Jugendlichen in den Jugendwerkhöfen und auch das der Kontraktarbeiter in der DDR aus Ländern des globalen Süden. Das Vermächtnis des Volksaufstandes von 1953 müsse es sein, solidarisch an der Seite aller Menschen in autoritären System zu stehen.  

AfD: Größte Massenerhebung in der deutschen Geschichte

Der AfD-Abgeordnete Dr. Götz Frömming bezeichnete den Volksaufstand als „die größte Massenerhebung in der deutschen Geschichte“. Die Menschen, die damals für ihre Freiheit gestritten hätten, seien „im wahrsten Sinne des Wortes Patrioten“ gewesen. Im öffentlichen Bewusstsein seien die Namen der Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Diktatur wie beispielsweise Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Sophie Scholl oder Georg Elser fest verankert, die Namen der Aufständischen von 1953 jedoch kaum, führte Frömming aus.

Umso wichtiger sei es, dass das Mahnmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft endlich realisiert werde. Doch acht Jahre nach dem Bundestagsbeschluss über die Errichtung des Mahnmals habe die Bundesregierung noch nicht einmal eine verbindliche Zusage für Grundstück, auf dem es entstehen soll, kritisierte Frömming.

FDP: Im historischen Gedächtnis verankert bleiben

Die FDP-Parlamentarierin Linda Teuteberg führte aus, dass die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes von 1953 „kein Betriebsunfall“ gewesen. Die Herrschaft der SED in der DDR habe immer nur mit Waffengewalt aufrechterhalten werden können. Im Volksaufstand habe sich der Widerstand in der DDR gegen die gescheiterte Planwirtschaft und die politischen Repressionen der SED offenbart. Von der politischen Führung sei dies jedoch lediglich als „Provokation faschistischer Agenten“ aus dem Westen verunglimpft worden.

Diese Legende lebe in gewisser Weise bis heute in der Aussage weiter, dass es im Osten Deutschlands entweder „nur Kommunisten oder Faschisten“ gebe. Dies sei eine Missachtung all der freiheitliebenden Menschen. Der 17. Juni müsse fest im historischen Gedächtnis verankert bleiben. Dies sei wichtig für den Erhalt der Freiheit, betonte Teuteberg.

Linke: Aufstand der Arbeiterklasse

Der Co-Vorsitzende der Linksfraktion, Dr. Dietmar Bartsch, bezeichnete die Niederschlagung des Volksaufstandes von 1953 zusammen mit dem Mauerbau von 1963 als „eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte“. Zugleich seien die demonstrierenden und streikenden Menschen in der DDR „Wegbereiter“ für die friedliche Revolution von 1989 gewesen.

Vergessen werde dürfe nicht, dass der Volksaufstand in erster Linie ein „Aufstand der Arbeiterklasse“ gewesen sei und „ein politischer Streik“, betonte Bartsch. Bis heute seien in Deutschland politische Streiks jedoch verboten. Dieses Verbot dürfe nicht länger aufrechterhalten werden. Die Linksfraktion fordere deshalb das Recht auf einen politischen Streik, führte Bartsch aus.

Staatsminister: 17. Juni als Gedenktag neu beleben

Der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider (SPD), erinnerte an die europäische Dimension des Volksaufstandes von 1953. Auf diesen seien der Aufstand 1956 in Ungarn, der Prager Frühling 1973 und die Solidarnosc-Bewegung in Polen in den 1980er Jahren gefolgt. 

All diese Freiheitsbewegungen seien von der Sowjetunion unterdrückt worden. Heute sei es Russland, das die Freiheit der Ukraine zu unterdrücken versuche. Und Russland unterstütze überall im freiheitlichen Europa rechte Parteien, die die Demokratie bedrohten, betonte Schneider. Der 17. Juni müsste deshalb als Gedenktag für Freiheit und Demokratie in ganz Europa neu belebt werden.

Antrag der Koalition

Anlässlich des 70. Jahrestages des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) fordern die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung auf, die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur und der Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR zwischen 1945 und 1990 im Rahmen der Erinnerungskultur fortzuführen und zu stärken. In dem entsprechenden gemeinsamen Antrag (20/7202) drängen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP zudem auf die zeitnahe Errichtung des Denkmals zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktatur in Deutschland sowie auf die Weiterentwicklung der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg zu einem Campus für Demokratie. Zudem sollen das „Forum Opposition und Widerstand 1945-1990“ aufbauend auf der im Auftrag des Bundestages erstellte Machbarkeitsstudie der Robert-Havemann-Gesellschaft und in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes eingebunden und die Transformation des Stasi-Unterlagen-Archivs in das Bundesarchiv zügig umgesetzt werden.

Darüber hinaus soll nach dem Willen der Koalitionsfraktionen die Evaluation der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze genutzt werden, um bei der anstehenden Novellierung die Impulse der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur zu berücksichtigen. Ebenso soll der im Koalitionsvertrag zugesagte Härtefallfonds für SED-Opfer zeitnah eingerichtet werden. Nach Ansicht der Fraktionen stellt der Volksaufstand am 17. Juni 1953 bis 1989 das „bedeutendste Ereignis“ in der Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR dar. Bereits vier Jahre nach der Staatsgründung hätten die Menschen in der DDR gegen eine schwierige Versorgungslage und schlechte Arbeitsbedingungen, aber vor allem für ein freies Leben mit freien Wahlen demonstriert. Deshalb stehe dieser Tag wie kein anderer „für den jahrzehntelangen mutigen Kampf vieler Menschen in der DDR für Freiheit, Demokratie und die Deutsche Einheit“, heißt es in dem Antrag.

Antrag der Union

Nach dem Willen der CDU/CSU-Fraktion sollte der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR als historisches Ereignis in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur gestärkt werden. In ihrem Antrag forderte die Union die Bundesregierung unter anderem auf, das „Forum für Opposition und Widerstand gegen die kommunistische Diktatur 1949-1990 – Engagement für Freiheit und Demokratie“ als „national bedeutsames“ Vorhaben anzuerkennen und mit Priorität zu realisieren, das vom Bundestag beschlossene Mahnmal für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft am geplanten Standort am Spreebogen in Berlin-Mitte noch in dieser Legislaturperiode zu errichten sowie den Bau des Freiheits- und Einheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit zügig zu realisieren.

Zudem forderte die Union deutliche Verbesserungen bei der Unterstützung der SED-Opfer. So sollte der geplante bundesweite Härtefallfonds noch 2023 eingerichtet, Verbesserungen und Erleichterungen bei der Rehabilitierung und sozialen Versorgung gesetzgeberisch und die Erweiterung der Opfergruppen umgesetzt, ein Zweitantragsrecht verankert, die Opferrenten dynamisiert, die Bedürftigkeitsklausel abgeschafft, die Absenkung der Ausgleichszahlungen beim Renteneintritt abgeschafft sowie gesundheitliche Folgeschäden von Opfern in den Anerkennungsverfahren besser berücksichtigt werden. (aw/hau/15.06.2023)