Knobloch und Weisband sprechen zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Der Bundestag gedenkt am Mittwoch, 27. Januar 2021, der Opfer des Nationalsozialismus. Gastrednerinnen sind die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Dr. h. c. Charlotte Knobloch, und die Publizistin Marina Weisband. Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble wird die Gedenkstunde um 11 Uhr mit einer Begrüßungsansprache im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin eröffnen. An der Gedenkstunde nehmen auch Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesratspräsident Dr. Reiner Haseloff, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesverfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Stephan Harbarth als weitere Vertreter der Verfassungsorgane teil.
Die Gedenkstunde wird live im Parlamentsfernsehen und im Internet auf www.bundestag.de sowie auf www.bundestag.de/gebaerdensprache übertragen.
1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Der „Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus“ wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Prof. Dr. Roman Herzog eingeführt. Seither findet jährlich am oder um den 27. Januar eine Gedenkstunde im Bundestag statt, an der neben dem Bundespräsidenten auch der Bundesratspräsident, die Bundeskanzlerin und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts teilnehmen. Anlass ist die Erinnerung an die Befreiung der Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945.
In diesem Jahr steht die Gedenkstunde im Zeichen des Jubiläumsjahrs „321 – 2021: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Akzentuiert wird der Zivilisationsbruch der Shoah, indem an die über viele Jahrhunderte prägende jüdische Kultur vor 1933 erinnert und der Blick auch auf das jüdische Leben seit 1945, im Schatten von Auschwitz, gerichtet wird.
Charlotte Knobloch
Die erste Gastrednerin Dr. h. c. Charlotte Knobloch, Jahrgang 1932, ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sie überlebte den Holocaust versteckt auf dem Land. Von der Deportation nach Theresienstadt bedroht, versteckte ihr Vater, der Rechtsanwalt Fritz Neuland, die Sechsjährige auf einem Bauernhof in Mittelfranken. Ihre Großmutter wird in Theresienstadt ermordet. Ihr Vater, durch Zwangsarbeit schwer gezeichnet, überlebt und wird nach 1945 Mitglied des Bayerischen Senates und engagiert sich für den Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde in München. 1951 heiratet sie den Shoah-Überlebenden Samuel Knobloch aus Krakau. Die geplante Auswanderung in die USA verschieben sie zunächst, ziehen drei Kinder groß und bleiben schließlich dauerhaft.
Von 2006 bis 2010 war die gebürtige Münchnerin Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, seit 1997 dessen Vizepräsidentin. Zudem war Charlotte Knobloch von 2003 bis 2011 Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses und von 2005 bis 2013 Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses, für den sie seit 2013 als Beauftragte für Holocaust-Gedenken tätig ist. Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen und Ehrungen wurde Charlotte Knobloch 2010 das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Marina Weisband
Die zweite Gastrednerin Marina Weisband ist Publizistin, Diplom-Psychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung. Sie spricht als Vertreterin der dritten Generation nach der Shoah. Die Tochter jüdischer Eltern wurde 1987 in Kiew geboren und zog 1994 mit ihrer Familie im Zuge der Regelung für Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland. Nach dem Abitur in Wuppertal studierte sie in Münster Psychologie.
Von 2011 bis 2012 war Marina Weisband politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland, wo sie für die Meinungsbildung innerhalb der Partei und für die Repräsentation nach außen zuständig war. Seit 2018 ist sie Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und engagiert sich dort in den Themenbereichen Digitalisierung und Bildung. In ihrem Buch „Wir nennen es Politik. Ideen für eine zeitgemäße Demokratie“ (2013) schildert sie für Politik-Neueinsteiger die Möglichkeiten neuer demokratischer Formen durch Nutzung des Internets.
Sulzbacher Torarolle von 1793
Ein kurzer Film über die in Israel restaurierte Sulzbacher Torarolle von 1793 ergänzt die Gedenkstunde. Die Torarolle wird am Ende der Gedenkstunde in einer feierlichen Zeremonie unter Beteiligung der Repräsentanten der Verfassungsorgane, der Gedenkrednerin Charlotte Knobloch, des Amberger Rabbiners Elias Dray und des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, im Andachtsraum des Bundestages im Reichstagsgebäude fertiggestellt werden – als Symbol staatlicher Selbstverpflichtung, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen und dauerhaft zu ermöglichen. Begrüßungsworte sprechen Elias Dray und Rabbiner Shaul Nekrich.
Die Sulzbacher Torarolle wurde 1793 für die neue Synagoge in Sulzbach (Oberpfalz) geschrieben und gilt heute als eine der ältesten noch erhaltenen Torarollen in Süddeutschland. 1822 überstand sie den Stadtbrand, durch den die Sulzbacher Synagoge zerstört wurde. Durch Auswanderung, Wegzug sowie Niederlassungsverbote für Jüdinnen und Juden verlor die stattliche, zwischenzeitlich bis zu 350 Personen zählende jüdische Gemeinde Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr Mitglieder, bis sie schließlich aufgelöst werden musste.
Reichspogromnacht unversehrt überstanden
1934 wurde aus der zwischenzeitlich wiedererrichteten Synagoge ein Heimatmuseum, und die Torarolle gelangte nach Amberg. Der dortige Gemeindevorstand, Lehrer Leopold Godlewsky, brachte die Torarolle mit anderen Wertgegenständen der Gemeinde kurz vor der Reichspogromnacht im November 1938 in das Heimatmuseum und übergab sie dessen Leiter, Oberlehrer Georg Döppl, zur heimlichen Verwahrung im Museum. Die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 überstand die Tora unversehrt. Die Amberger Synagoge wurde indes verwüstet, auch wenn sie – wohl wegen umliegender Gebäude – der Zerstörung durch Brandstiftung entging.
Nach 1945 entstand in Amberg wieder eine kleine jüdische Gemeinde unter dem aus Polen stammenden Rabbiner Dr. Nathan Zanger, dem die Sulzbacher Torarolle auf Geheiß US-amerikanischer Besatzungseinheiten zurückgegeben wurde. Im Toraschrein der Synagoge aufbewahrt, geriet die Torarolle vorübergehend in Vergessenheit. Erst Mitte des letzten Jahrzehnts förderte sie Rabbiner Elias Dray wieder zutage. Mit Unterstützung der Israelitischen Kultusgemeinde Amberg, von Abgeordneten und lokalen Verantwortlichen erreichte er, dass die Torarolle – finanziert unter anderem aus Bundesmitteln – durch einen Sofer (Toraschreiber) in Bnei Brak (Israel) restauriert werden konnte. Nach ihrer feierlichen Fertigstellung im Andachtsraum des Bundestages wird sie in den Gemeindedienst nach Amberg zurückkehren.
Musik im Plenarsaal und im Andachtsraum
Die Gedenkstunde beginnt mit der Kadenz von Joseph Joachim (1831-1907) zum ersten Satz des Violinkonzerts D-Dur opus 77 von Johannes Brahms (1833-1897), gespielt vom Violinisten Professor Kolja Lessing. Lessing trägt nach der Rede von Charlotte Knobloch auch das zweite Musikstück vor, Nr. 1 Andante, Nr. 4 Schnell und Nr. 5 Larghetto aus Aphorisms 1 (Fünf Stücke für Violine solo aus dem Jahr 2009) von Ursula Mamlok (1923-2016). Im Anschluss an die Rede Marina Weisbands bringen die Sängerin Yael Nachshon Levin begleitet von Haggai Cohen Milo am Kontrabass und dem Gitarristen Tomer Moked „Far away“ von Yael Nachshon Levin zu Gehör.
Während der Zeremonie im Andachtsraum ist das vom Synagogalchor „Le Chant Sacré“ aus Straßburg unter Leitung von Rémi Studer gesungene „Seu Sheorim“ von Samuel Naumbourg (1817-1880) zu hören. Solist ist Chasan Jacky Ouaknine. Im Hintergrund erklingt zudem das Instrumentalstück „Oyf’n Pripetchik“ von Mark Markowytsch Warshawsky (1848-1907), eingespielt und arrangiert vom Gitarristen Karsten Troyke, der auf der Violine von Daniel Weltlinger begleitet wird. „Le Chant Sacré“ trägt zudem „Baavur David“ von Joseph Rumshinsky (1881-1956) vor mit Chasan Jonathan Blum als Solisten.
Ausstellung im Paul-Löbe-Haus
Vom 27. Januar an wird zudem eine Ausstellung des Leo Baeck Institute (New York/Berlin) mit dem Titel „Shared History: 1.700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum“ im Paul-Löbe-Haus des Bundestages gezeigt. Sie wird allerdings erst nach Aufhebung der pandemiebedingten Besuchseinschränkungen im Bundestag öffentlich zugänglich sein.
Die Ausstellung endet am Freitag, 23. April 2021. Sie beleuchtet schlaglichtartig die individuellen und kollektiven Erfahrungen, die jüdisches Leben über Jahrhunderte prägten. (vom/22.01.2021)