„Kein Platz für Schuldgefühle“
Die Familienpolitikerin der Grünen, Ulle Schauws, im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag 7. Dezember 2024)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung -
Die frauenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Ulle Schauws, beklagt gravierende Versorgungs- und Informationsdefizite für ungewollt Schwangere in Deutschland. Eine Entkriminalisierung von Abtreibungen befreie nicht nur die Frauen von Stigmatisierungen, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte, sagt sie. Außerdem könne durch die Entkriminalisierung die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten verbessert und die Kostenübernahme des Eingriffs durch die Krankenkasse erleichtert werden.
Das Interview im Wortlaut:
Das Parlament: Frau Schauws, rund um die Debatten über das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche (Paragraf 219a) wurde Ihnen schon 2018 vorgeworfen, Sie wollten eigentlich nur an den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches ran. Das haben Sie damals abgestritten.
Ulle Schauws: Der Vorwurf stimmte ja auch nicht. Wir wollten das Informationsproblem für Ärztinnen und Ärzte lösen und haben die Diskussion um 218 klar als eine inhaltlich davon getrennte betrachtet.
Das Parlament: Dennoch entwickelte sich daraus eine recht grundsätzliche Debatte um Schwangerschaftsabbrüche, die erst 2022 mit der Streichung des Werbeverbots beendet wurde.
Ulle Schauws: Dass die Debatte eine so breite Dimension annehmen würde, damit hat eigentlich niemand gerechnet. Aber wir hatten auch nicht erwartet, dass die Versorgungslage für ungewollt Schwangere derart schlecht ist. In der 219a-Debatte haben wir das erste Mal seit vielen Jahren wieder auf die Situation von Schwangerschaftsabbrüchen geschaut, und durch Schilderungen von Ärztinnen und Ärzten und von Beratungsstellen ist uns klar geworden, dass die Lage viel problematischer ist als gedacht. Die ELSA-Studie über die Lebenslagen ungewollt Schwangerer hat dies inzwischen nachdrücklich bestätigt.
Das Parlament: Nun gibt es einen von SPD und Grünen initiierten Gesetzentwurf zur Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Warum ist es jetzt die Zeit dafür?
Ulle Schauws: Weil wir nach 30 Jahren feststellen, dass die aktuelle Gesetzeslage nicht zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen führt. Und weil es Zeit ist, die Frauen endlich von einem Schuldgefühl zu befreien, das entsteht, solange Schwangerschaftsabbrüche im Strafgesetzbuch als rechtswidrig eingestuft werden. Die andere Frage, die uns motiviert hat: Wie kommen Ärzte, die Abbrüche durchführen, aus der Stigmatisierung heraus? Wenn Sie in Bayern eine Praxis eröffnen, dann können Sie schnell ein Problem bekommen, wenn bekannt wird, dass Sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen.
Das Parlament: Wie wird dadurch das Versorgungsproblem gelöst?
Ulle Schauws: Eine Entkriminalisierung hat nicht nur positive Auswirkungen für das Empfinden der betroffenen Frauen. Sie erleichtert auch eine Kostenübernahme der Eingriffe durch die Krankenkassen und sie kann die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten verbessern. Hier müssen wir dringend vorankommen. Dies fordern übrigens auch die allermeisten der mehr als 70 Verbände, die Stellungnahmen dazu abgegeben haben.
Das Parlament: Was sind denn die Ursachen für diese Versorgungslücke?
Ulle Schauws: Momentan gehört das Erlernen von allen Methoden des Schwangerschaftsabbruchs nicht zum festen Bestandteil der gynäkologischen fachärztlichen Weiterbildung. Zudem werden in sehr vielen Lehrkrankenhäusern gar keine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Das muss sich ändern. Schwangerschaftsabbrüche müssen als eine normale Gesundheitsleistung anerkannt werden, so dass Ärztinnen und Ärzte damit selbstverständlich in ihrer Ausbildung in Kontakt kommen.
Das Parlament: Sie fordern, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche nicht mehr als Straftat gewertet und aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Haben Sie nicht Sorge, dass das Bundesverfassungsgericht eine solche Regelung verwirft?
Ulle Schauws: Die Situation vor 30 Jahren war eine andere als jetzt. Fragen rund um das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper haben seitdem auch in anderen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts eine viel größere Bedeutung erhalten. Und auch 1993 war die Diskussionslage keineswegs so eindeutig, es gab kritische Debatten und Sondervoten im Urteil der Verfassungsrichter.
Wir haben in dem Gesetzentwurf die Fragen des Selbstbestimmungsrechts und des Schutzes des ungeborenen Lebens sehr genau abgewogen, auf Basis der Empfehlungen der dazu von der Bundesregierung einberufenen Kommission. Eine Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts muss meiner Ansicht nach auch mitbewerten, ob sich durch die bisherige Rechtslage etwas verbessert hat und das ist eindeutig nicht der Fall.
Das Parlament: Die Unionsfraktion hat Gesprächsbereitschaft über den Gesetzentwurf signalisiert, fordert aber eine ausführliche Debatte darüber und keinen Schnellschuss so kurz vor der Wahl.
Ulle Schauws: Wenn die Union auf gründlicher Beratung besteht, dann frage ich mich, warum sie in dieser Woche eine Anhörung zu diesem Thema abgelehnt hat. Das ist nicht redlich. Entweder sagt man, man ist gesprächsoffen, aber dann blockiert man nicht gleichzeitig die Diskussion im Parlament. Im Sinne einer besseren Versorgungslage ist dies sicher nicht.
Das Parlament: Rund 100.000 Abbrüche gibt es jährlich in Deutschland, interessanterweise sind die Zahlen gerade bei den ganz jungen Frauen/Mädchen zurückgegangen und bei den etwas älteren Frauen gestiegen.
Ulle Schauws: Es stimmt, die Altersgruppe hat sich ein bisschen verändert. Meistens sind es Frauen, die schon Kinder haben, wo klar ist, ein weiteres Kind im Leben ist in der Familie nicht mehr finanzierbar oder die Wohnungsgröße passt nicht, die Partnerschaft oder die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind schwierig. Es sind immer mehrere Umstände, die dazu führen, aber insbesondere die Rahmenbedingungen für ein Kind werden oft als nicht mehr stemmbar erlebt. Der beste Lebensschutz ist von daher sowohl eine soziale Absicherung als auch eine gute, erreichbare Gesundheitsversorgung für Frauen.
Das Parlament: Die UN-Frauenrechtskonvention und die Istanbul-Konvention sind schon Jahrzehnte alt. Letzte Woche schockierten uns die Zahlen des BKA zum Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt. Wo sehen Sie die Lücke zwischen Theorie und Praxis?
Ulle Schauws: Ich glaube, man muss Gewaltschutz und Gewaltprävention politisch viel höher priorisieren. Nicht nur einmal im Jahr, rund um den 25. November. Wir brauchen endlich eine klare politische Ausrichtung zum Gewaltschutz und auch ein Bewusstsein, dass Gewalt ein absolutes No Go ist. Es ist kein Kavaliersdelikt. Wir fordern das seit Jahren und trotzdem bleibt das Thema politisch ein Stiefkind. Die Gewalt bekommt mittlerweile mit den Femiziden eine Dimension, wo es mir wirklich sehr kalt den Rücken runter läuft. Wenn wir uns nicht klar dafür entscheiden, in Gewaltprävention und Gewaltschutz mehr Geld zu investieren, dann wird das alles noch sehr viel schlimmer werden.
Das Parlament: Frauen sind auch nach Gewalterfahrungen mit regional sehr unterschiedlich ausgeprägten Hilfsangeboten konfrontiert. Warum sollte sich das angesichts der angespannten Haushaltslage in Bund und Ländern absehbar ändern?
Ulle Schauws: Diese Frage stellt sich immer beim Haushalt. Aber Gewaltschutz darf im Jahr 2024 nicht mehr als eine freiwillige Leistung betrachtet werden. Wenn eine Frau keinen Platz im Frauenhaus findet und in der Gewaltbeziehung bleiben muss, meistens mit Kindern: Es ist unvorstellbar, was da jeden Tag an Gewalt passieren kann. Und wir lassen die Menschen, die meistens Frauen sind, einfach in ihrem Zuhause in dieser Gewaltlage allein und helfen ihnen nicht? Das geht nicht!
Das Gespräch führte Claudia Heine.
Ulle Schauws (58) ist seit 2013 Mitglied des Bundestages und frauenpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Schauws ist Abgeordnete für den Wahlkreis Krefeld II - Wesel II.