Scholz: Afghanistan-Abzug „nicht zufriedenstellend“
Berlin: (hib/CRS) Im weiteren Verlauf der Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan am Donnerstag ist Bundeskanzler Olaf Scholz als Zeuge vernommen worden, gefolgt vom ehemaligen Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt (AA). Der Ausschuss untersucht die Zeit zwischen dem Doha-Abkommen im Februar 2020 und der Evakuierungsmission Mitte August 2021 am Flughafen Kabul.
Olaf Scholz, nach eigenen Angaben damals „kein zentraler Akteur“ in der Afghanistan-Politik der Bundesregierung, thematisierte generell die Nachrichtendienste weltweit, die nicht voraussagen konnten, wann Kabul fallen würde, sowie die damalige afghanische Regierung, die das Land „kampflos“ den Taliban überlassen habe. Er stellte auch die Idee des „nation-building“ in Frage.
Er habe nie geglaubt, dass in Afghanistan „mit Hilfe eines militärischen Einsatzes ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland entstehen“ könne. Es habe jedoch viele gegeben, die dies so gesehen hätten. „Am Ende muss ein Demokratisierungsprozess aus dem Land heraus getragen werden“, sagte Scholz. „Die kampflose Aufgabe des Landes ist ein Zeichen dafür, dass dieser Einsatz keinen Erfolg hatte, sondern alle nach ihren eigenen Interessen gehandelt haben. Das müssen wir in Zukunft im Kopf behalten.“
Scholz, der damals Finanzminister im Kabinett Merkel und Vizekanzler war und deshalb als Zeuge angehört wurde, erklärte, der gesamte Afghanistan-Einsatz habe insgesamt rund 17 Milliarden Euro gekostet. Das sei ungefähr der Betrag, den Deutschland jährlich für die Unterstützung der Ukraine nach dem Angriff Russlands 2022 ausgebe. „Ich wollte die Dimensionen darstellen“, betonte Scholz.
Es sei unübersehbar gewesen, dass es zwischen der damaligen Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und dem damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in der Frage des Ortskräfteverfahrens (OKV) „Dissens“ gegeben habe. Er selbst sei immer für pragmatische Lösungen gewesen, wie sie auch Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen habe, erklärte der Bundeskanzler. Seehofer habe aus Sicherheitsgründen am herkömmlichen OKV festhalten wollen, was er nachvollziehen konnte. „Am Ende war es die pragmatische Lösung“, sagte Scholz, „auch wenn sie nicht sehr früh kam“.
Hätte man gewusst, wie schnell die afghanische Regierung zusammenbrechen und die Taliban das Land erobern würden, hätte man die Ortskräfte viel schneller aus dem Land gebracht, glaubt Scholz. Doch alle seien der Meinung gewesen, dass man noch Zeit habe. „Das war falsch, wie wir wissen“, sagte Scholz und fügte hinzu: „Das Ergebnis war nicht zufriedenstellend.“
Befragt zu den Abschiebeflügen, die noch kurz vor der Machtübernahme der Taliban geplant worden waren, erklärte der Bundeskanzler, er sei damals wie heute der Meinung, dass man Straftäter, wenn möglich, auch nach Afghanistan abschieben können müsse.
Als letzter Zeuge wurde der ehemalige Leiter des Ministerbüros des damaligen Außenministers Heiko Maas (SPD) angehört. Der Beamte beschrieb sein Verhältnis zu Maas als „gut und vertrauensvoll“. Bis auf die Dokumente der Staatssekretäre seien alle AA-internen Dokumente über seinen Tisch gegangen, erzählte er.
Nach der Unterzeichnung des Doha-Abkommens sei es das Ziel des Ministers gewesen, einen geordneten Übergang zu schaffen, das deutsche Engagement erfolgreich abzuschließen und die in den 20 Jahren zuvor geschaffenen Strukturen sowie die Stabilisierungsarbeit zu erhalten. Nachdem sich die Lage jedoch krisenhaft zugespitzt habe, habe Maas versucht, „eine Lösung für Ortskräfte zu finden, und zwar nicht nur für die Bundeswehr-Ortskräfte“. Für den damaligen Außenminister sei es wichtig gewesen, dass alle Ortskräfte gleichbehandelt würden, so der Zeuge.
Der Diplomat bestätigte, dass das AA argumentiert habe, man müsse so viele Ortskräfte wie möglich nach Deutschland bringen, und dass dies nur mit einem Verfahren möglich sei, bei dem das Visum an der Grenze ausgestellt werde - dem sogenannten „Visa-on-Arrival“ (VoA). Doch bis zum Ende sei in dieser Frage kein Einvernehmen erzielt worden.
Nach dem Fall Kabuls sei Maas jeden Tag im Ministerium gewesen. „Er war von morgens bis abends im Büro“, sagte der Zeuge. Er habe an allen Krisensitzungen teilgenommen, die täglich stattgefunden hätten. Maas habe am Abend des 15. August entschieden, die Botschaft in Kabul zu evakuieren.
Dass diese Entscheidung erst dann getroffen wurde, erklärte der Zeuge mit dem Wunsch, einen Ort zu haben, an dem die Handlungsfähigkeit erhalten bleiben könnte. Es sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt gewesen, dass die Botschaft auch am Flughafen hätte weiterarbeiten können. Nach seiner persönlichen Meinung habe es damals keinen sichereren Ort gegeben, um die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Der Plan sei gewesen, das Botschaftsgelände als Sammelplatz für die zu evakuierenden Personen zu nutzen und sie dann geschützt zum Flughafen zu fahren.
Auch dieser Zeuge, wie viele andere vor ihm, wies darauf hin, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) selbst in der akuten Krise noch gesagt habe, man habe bis zum 11. September Zeit.