Expertenstreit über Nordzulauf zum Brenner-Basistunnel
Berlin: (hib/HAU) Die von der Union erhobene Forderung, beim Nordzulauf zum Brenner-Basistunnel auf die geplante oberirdische Verknüpfungsstelle bei Kirnstein südlich von Rosenheim zu verzichten und stattdessen Alternativen zu prüfen, wie die einer „bergmännischen Lösung“ im Wildbarren, traf bei einer öffentlichen Anhörung des Verkehrsausschusses am Mittwoch teils auf Zuspruch, teils auf Ablehnung. Mit dem Brenner-Basistunnel entstehe in den Alpen eines der wichtigsten Verkehrsprojekte Europas, schreibt die Unionsfraktion in ihrem Antrag (20/11622). Die nördliche Zulaufstrecke zwischen München und Innsbruck sei ein wesentlicher, aber auch räumlich sensibler Teil dieses europäischen Zukunftsvorhabens. Er führe durch das oberbayerische Inntal zwischen Rosenheim und der Landesgrenze bei Kufstein.
Ingrid Felipe, Vorstandsmitglied für Infrastrukturplanung und -projekte bei der DB InfraGO AG, betonte bei der Anhörung, die Vorschlagstrasse - mit der überirdischen Verknüpfungsstelle Kirnstein - sei unter mehr als hundert Varianten in einem Trassenauswahlverfahren ausgewählt worden. Sie erfülle die technischen, betrieblichen und umweltfachlichen Anforderungen und sei nach aktuellem Kenntnisstand genehmigungsfähig. Die Verknüpfungsstelle Kirnstein, so Felipe, sei ein unverzichtbares Element des viergleisigen Ausbaus der Brennerachse.
Ein Tunnelbau im Wildbarren sei zwar denkbar, „allerdings wären die Tunnel nicht für den Bahnbetrieb nutzbar“. Die parlamentarische Befassung für das Bahnprojekt Brenner-Nordzulauf werde für das Frühjahr 2025 angestrebt, sagte die Bahn-Vertreterin. Die DB InfraGO bereite derzeit die entsprechenden Unterlagen vor und erarbeite eine aktuelle Kostenschätzung.
Felix Heizler vom Deutschen Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF) verwies auf eine Studie aus dem DZSF, die zu dem Fazit komme, „dass sich für die Einrichtung einer komplexen unterirdischen Verknüpfungsstelle in Tunneln für den Mischbetrieb von Güter- und Reisezügen innerhalb der EU kein vollständig geeignetes Referenzobjekt identifizieren lässt“. Die Verlegung der vorgesehenen Verknüpfungsstelle in einen Tunnel sei ohne Weiteres nicht uneingeschränkt regelwerkskonform.
Der Aufwand, der zur Kompensation einer unvollständigen baulichen Trennung zweier Tunnelröhren betrieben werden müsste, sei zum einen groß und zum anderen mit tunnelspezifischen komplexen Fragestellungen verbunden, deren Analyse einen beträchtlichen Aufwand hinsichtlich Zeit und Kosten verursachen würde, sagte Heizler. Zudem gäbe es keine Garantie, „dass diese Untersuchungen erfolgreich abgeschlossen werden können“.
Dem Einwand Heizlers hielt Wolfgang Rauscher, ehemaliger Gesellschafter und Geschäftsführer eines Ingenieurbüros und Berater der bayerischen Gemeinden im südlichen Inntal, entgegen, dass beim Bau der Bahnhöfe für die Stammstrecke S-Bahn München fünf unterirdische Bahnhöfe miteinander verbunden würden. Auch dies, so Rauscher, habe es bislang deutschland- und europaweit noch nicht gegeben. Ihn störe das nebulöse „geht nicht, ist schwierig und wer weiß wo wir da landen“, sagte er. Ein von den Inntalgemeinden finanziertes Gutachten internationaler Experten, sage zudem aus, dass auch im vorliegenden Fall die notwendigen sicherheitsrelevanten Fragestellungen gelöst und eine bergmännische Verknüpfungsstelle gebaut werden könne.
Lukas Iffländer, Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes Bayern beim Fahrgastverband Pro Bahn, stimmte DZSF-Vertreter Heizler zu. Gerade vor dem Hintergrund des Unfalls im Gotthardbasistunnel im August 2023 sei sehr zweifelhaft, ob die Tunnellösung genehmigt werde. „Das ist ein Lotteriespiel“, sagte Iffländer. Die unterirdische Überleitstelle im Wildbarren sei auch nicht umweltfreundlicher als die vorliegende Vorzugsvariante, weil im Unionsantrag der zusätzliche notwendige Tunnelaushub nicht ausreichend betrachtet werde.
Der Pro-Bahn-Vertreter warnte zudem vor erheblichen Kostensteigerungen und warb dafür, die von der Bahn vorgeschlagene Lösung weiter voranzutreiben. Es sei bereits genug Zeit im Rahmen des Projekts verlorengegangen. Deutschland habe beim Projekt die rote Laterne übernommen, so Iffländer.
Ganz anders sah das Otto Lederer, Landrat des Landkreises Rosenheim. Die oberirdisch geplante Verknüpfungsstelle Kirnstein befinde sich in einem räumlich sehr stark begrenzten Abschnitt des Inntals, sagte er. Durch den mit dem Bau einhergehenden Flächenverlust werde der Landwirtschaft die wirtschaftliche Grundlage entzogen, was zwangsläufig die Aufgabe zahlreicher landwirtschaftlicher Familienbetriebe zur Folge haben werde. Zudem werde die Landschaft in Bezug auf Naherholung und Tourismus erheblich geschädigt, sagte der Landrat.
Aufgrund der engen Tallage komme es außerdem dauerhaft zu einem starken Anstieg der Lärmbelastung durch einen „Amphitheater-Effekt“. Darüber hinaus zerschneide die geplante Trasse Biotop-Verbünde im engen naturnahen Talraum des Inns und beeinträchtigt das Landschaftsschutzgebiet Inntal Süd sowie mehrere gesetzlich geschützte Biotope. Daher müsse die Verknüpfungsstelle Kirnstein in bergmännischer Ausführung in den Wildbarren verlegt werden, forderte Lederer.
Die Planungen zum Brenner-Nordzulauf in der Region Rosenheim sollten in eine weitere Runde der Prüfungen gehen und die kommunalen Interessen miteinbinden, verlangte Andreas Winhart, Mitglied des Bayerischen Landtages. Da die vorgelegten Planungen unzureichend seien, sind aus seiner Sicht langandauernde Klagen und massiver Protest aus der Bevölkerung zu erwarten. Winhart regte einen vorgezogenen Bestandsstreckenausbau an, um die Zulaufsicherheit bei Inbetriebnahme des Brennerbasistunnels zu garantieren. Das gebe der Bahn genug Zeit, ausgereiftere und verträglichere Lösungen für die Neubaustrecke zu finden, „sofern für diese dann noch Bedarf besteht“.
Gerhard H. Müller, Bundesbahndirektor a.D., hält den Vorschlag der Union für zu teuer und zu zeitaufwendig. Er sprach sich stattdessen für die beschleunigte Fertigstellung der seit 40 Jahren im Bundesverkehrswegeplan enthaltenen Ausbaustrecke (ASB 38: München-Mühldorf-Freilassing) aus. Die erforderliche Kapazität für den beginnenden Brennermehrverkehr könne damit schon 2032 erreicht werden, sagte Müller.
Vor Zeitverzug warnte auch Christine Völzow, Geschäftsführerin der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. Noch jedes Tunnelprojekt habe dazu geführt, „dass die Komplexität gestiegen ist und die Umsetzung länger gedauert hat“, sagte sie. Dazu kämen Kostensteigerungen, die schlussendlich zu einer weiteren Verzögerung führten, weil die Mittel angesichts knapper Klassen wohl eine zeitliche Streckung brauchen würden. Die Rechnung, bei einem Tunnelbau spare man Zeit, weil die Bürger zufrieden sind und es weniger Klagen gibt, geht aus ihrer Sicht auch nicht auf. Mit einem Tunnel entstünden wieder ganz neue Betroffenheiten, sagte Völzow.
Landesrat René Zumtobel, Mitglied der Tiroler Landesregierung, verwies auf die katastrophalen Zustände, die der Lkw-Verkehr auf der Brennerautobahn für Wirtschaft und Bevölkerung mit sich bringe. Mit dem Brennertunnel könne es zur gewünschten Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene kommen, zeigte er sich überzeugt. Die Zulaufstrecke sei dafür sehr wichtig. „Jeder Tag, der hier vergeht, ist ein verzögerter Tag“, sagte er. „Wir brauchen aus österreichischer Sicht eine Entscheidung“, betonte der Tiroler Landesrat.