02.08.2024 | Parlament

Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrte Frau Klasing,
sehr geehrter Herr Rumanowski,

Ihre Reden haben mich tief bewegt.

Deutschland hat Ihnen und Ihren Familien furchtbares Leid angetan. 
Sie mussten durch die Hölle gehen. 
Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie heute hier sind!

Sehr geehrter Herr Rose,

Sie haben mich gebeten, heute zu sprechen. 
Hier in Auschwitz.

An dem Ort, der so eng mit der Leidensgeschichte Ihrer Familie verbunden ist. 
Und mit der Leidensgeschichte der Sinti und Roma aus ganz Europa.

Ihre Einladung zu diesem Gedenktag ist ein großer Vertrauensbeweis.

Sie bedeutet mir viel.

Bereits gestern habe ich das ehemalige Lager besucht.
Es schmerzt und beschämt mich zu sehen, welche Verbrechen Deutsche hier begangen haben.

Sehr geehrter Herr Kwiatkowski,
sehr geehrte Frau Kidawa-Błońska,
sehr geehrter Herr Rousopoulos, 
sehr geehrte Frau Schwesig,
sehr geehrte Frau Roth,
sehr geehrter Herr Dayan,
liebe Kolleginnen und Kollegen, 
sehr geehrte Damen und Herren!

Gibt es Worte für das Leid, 
das mit diesem Ort verbunden ist?

Der italienische Rom Santino Spinelli hat für das Unaussprechliche eine Sprache gefunden:

Sein Gedicht „Auschwitz“ ist Teil des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas.

Es befindet sich in Sichtweite des Deutschen Bundestags.

Ich zitiere:

Eingefallenes Gesicht
erloschene Augen
kalte Lippen
Stille
ein zerrissenes Herz
ohne Atem
ohne Worte
keine Tränen.

Auschwitz steht für das größte Verbrechen, das Menschen Menschen jemals angetan haben.

Es steht für den Zivilisationsbruch, der von Deutschland ausging.
Für den Willen, das europäische Judentum zu vernichten.

Für den Völkermord an den Sinti und Roma.

Hier in Auschwitz endete der Rassenwahn der Nationalsozialisten in der grausamen Auslöschung von Menschenleben.

Alle Jüdinnen und Juden, 
alle Sintize und Sinti, 
alle Romnja und Roma sollten getötet werden.

Sehr geehrte Damen und Herren,
an dieser Stelle befand sich das Lager für die Sinti und Roma. 
Heute vor 80 Jahren wurden alle Lagerinsassen ermordet.

In nur einer Nacht zwangen die Nationalsozialisten bis zu 4.300 Kinder, Frauen und Männer in die Gaskammern.

Doch die Sinti und Roma wehrten sich. 
Augenzeugen aus anderen Häftlingsgruppen beschreiben heftige Kämpfe. 
Frauen wie Männer leisteten erbitterten Widerstand, als sie aus den Baracken gezerrt wurden. 
Bis in die Nacht hinein waren Schreie zu hören.

Während die Sinti und Roma in Auschwitz um ihr Leben kämpften, erhob sich in Warschau die Polnische Heimatarmee.

Auch daran erinnern wir in diesen Tagen, da sich der Warschauer Aufstand zum 80. Mal jährt.

Es ist in Deutschland zu wenig bekannt: Polinnen und Polen aus allen Schichten der Bevölkerung lehnten sich gegen die deutsche Besatzungsherrschaft auf – im Alltag, im Partisanenkampf, im polnischen Untergrundstaat.

Auschwitz ist untrennbar verbunden mit dem deutschen Vernichtungskrieg, der sich zuerst gegen Polen richtete.

Zehntausende Polinnen und Polen wurden hier umgebracht.

Ebenso wie Tausende Kriegsgefangene aus anderen europäischen Ländern.

Interniert, gequält und getötet wurden auch Menschen, die aus anderen Gründen nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten passten. 
Wegen ihrer Weltanschauung oder ihrer Religion, wegen ihres Lebenswandels oder ihrer Sexualität.

Sehr geehrte Damen und Herren,
nie zuvor hat eine Bundestagspräsidentin oder ein Bundestagspräsident Auschwitz besucht.

Heute spreche ich zu Ihnen als Repräsentantin des Parlaments, das für den demokratischen Neuanfang Deutschlands steht.

Das Ende des Nationalsozialismus war keine „Stunde null“. Auch wenn die Deutschen das damals gern glauben wollten. 
Und es zum Teil heute noch glauben.

Der Rassismus verschwand nicht einfach aus den Köpfen. 
Das Leid der Sinti und Roma wurde nach dem Krieg nicht anerkannt.

Gerichte verweigerten den Überlebenden Entschädigungen. Schlimmer noch: Sie machten die Opfer für ihre Verfolgung selbst verantwortlich.

Der Völkermord an den Sinti und Roma wurde verschwiegen und verleugnet. 
Kaum ein Täter zur Rechenschaft gezogen.
Im Gegenteil: In Ämtern und Behörden trafen die Überlebenden auf ihre früheren Verfolger. 
Die Diskriminierung setzte sich fort.

Es ist eine bittere Erkenntnis: Auch in der Demokratie wurde Unrecht lange beschwiegen und verdrängt.

Aber in der Demokratie war es möglich, gegen das Verdrängen und Beschweigen der Verbrechen anzukämpfen.

Die Überlebenden der Sinti und Roma, ihre Kinder und Enkel haben diesen Kampf auf sich genommen.

Sie haben das Schweigen gebrochen und Deutschland mit seinen Verbrechen konfrontiert.

Und sie haben auf Gleichberechtigung bestanden.

Sehr geehrter Herr Rose, 
Sie und Ihre Familie waren und sind ein wichtiger Teil der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma.

Sie haben der Demokratie und der Erinnerungskultur in Deutschland einen großen Dienst erwiesen.

Heute hat das Leiden der Sinti und Roma einen festen Platz im öffentlichen Gedenken Deutschlands. 
Im Herzen von Berlin erinnert ein Denkmal an den Völkermord. 
Es wird jeden Tag von vielen Menschen besucht.

Am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gedenkt der Deutsche Bundestag stets auch der verfolgten und ermordeten Sinti und Roma.

Zoni Weisz hat uns Abgeordneten 2011 in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus vom Schicksal seiner Familie berichtet.
Seine Rede hat mich sehr beeindruckt.

Meine Damen und Herren,

die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zu ihrer historischen Verantwortung.

Dies bedeutet zugleich die Verpflichtung, Antiziganismus entschlossen entgegenzutreten.

Der Deutsche Bundestag hat Ende des vergangenen Jahres die Bundesregierung aufgefordert, eine Kommission zur Aufarbeitung des Unrechts an Sinti und Roma einzurichten – mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit. 
Das war ein starkes Zeichen der Entschlossenheit.

Das gesellschaftliche Bewusstsein für den Völkermord an den Sinti und Roma und die historische Verantwortung ist immer noch nicht selbstverständlich.

Feindliche Einstellungen und Diskriminierungen gegenüber Sinti und Roma sind immer noch weit verbreitet.
Vermieter benachteiligen sie bei der Wohnungssuche, 
Unternehmer auf dem Arbeitsmarkt. 
Das ist inakzeptabel!

Auch der Staat wird seiner historischen Verantwortung nicht immer gerecht. 
Oftmals misstrauen Beschäftigte in Verwaltungen Sinti und Roma.
Sicherheitskräfte kontrollieren Sinti und Roma häufiger, auch ohne Anlass.

Und Lehrerinnen und Lehrer trauen Kindern von Sinti und Roma oft keine Leistungen in der Schule zu.

Es braucht einen Bewusstseinswandel in vielen Bereichen der Gesellschaft. 
Schluss mit der Suche nach Feindbildern! 
Schluss mit Abwertung und Ausgrenzung.

Wir brauchen Respekt und Akzeptanz.

Die Demokratie garantiert den Schutz von Minderheiten. 
Sie lebt davon, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte haben. Immer, ohne Wenn und Aber.

Sehr geehrte Damen und Herren, 
Millionen Deutsche sind Hitler gefolgt – viele begeistert, die meisten mehr oder weniger bereitwillig.

Wie konnten sie wegschauen, als ihre Nachbarn aus den Wohnungen geholt und deportiert wurden? 
Wie konnten sie sich für Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus begeistern? 
Wie konnte Auschwitz geschehen?

Diese Fragen sind heute noch aktuell.

Auch heute gibt es Kräfte, die unsere Gesellschaften aufspalten wollen – in ein „Wir“ und „die Anderen“.

Kräfte, die Hass schüren. 
Auf Sinti und Roma. 
Auf Jüdinnen und Juden.

Hass auf alle, die tatsächlich oder vermeintlich anders sind.

Wenn wir heute den Anfängen wehren wollen, müssen wir diese Anfänge verstehen: 
Sie bestanden auch damals in der Sehnsucht nach einfachen Lösungen.
In der Verachtung für Demokratie. 
In dem Glauben, dass Ausgrenzung einen selbst nicht trifft.

Was wir gern verdrängen, aber nie vergessen dürfen: Es waren Menschen, die das abgrundtief Böse zugelassen und ausgeführt haben.

Das muss uns verstören. 
Und Mahnung sein. 
Mahnung für die ganze Welt.