27.03.2023 | Parlament

Begrüßungsansprache von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung der Ausstellung „Odyssee einer Urkunde - Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849“ in der Abgeordnetenlobby im Reichstagsgebäude

[Es gilt das gesprochene Wort]

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Professor Gross,
sehr geehrter Herr Professor Jung,
lieber Herr Thierse, 
liebe Herr Schäuble, 
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste!
   
Herzlich willkommen. 
Ich begrüße Sie zur Eröffnung der Ausstellung „Odysee einer Urkunde“, die mir als Bundestagspräsidentin viel bedeutet.  
Die Paulskirchenverfassung feiert morgen ihren 174. Geburtstag. 
Gut 60 Jahre wurde die Originalurkunde mit den Unterschriften von 405 Nationalversammlungs-Abgeordneten beim Reichstag aufbewahrt. 

Die meiste Zeit im Büro des Präsidenten: 
vom ersten Parlamentspräsidenten des Kaiserreichs, Eduard von Simson, bis zu Paul Löbe in der Weimarer Republik. 

Das war für den Zustand dieses historischen Dokuments bestimmt nicht ideal. 
Aber für mich zählt das Symbol: 
Im Herzen unsere Demokratie blieb die erste gesamtdeutsche Volksvertretung präsent. 

Bis die Urkunde 1933 ans Reichsarchiv ging.  
Ich freue mich sehr, dass der Deutsche Bundestag dieses bedeutende Unikat für eine Woche ausstellen darf. 

Mein besonderer Dank geht an das Deutsche Historische Museum als Leihgeber. 
Und ich verspreche Ihnen, sehr geehrter Herr Gross, dass die Verfassungsurkunde dieses Mal weder gestohlen noch verunstaltet wird. 

Ich danke allen Beteiligten hier im Haus und auch außerhalb, die diese außergewöhnliche Ausstellung möglich machen.  

Besonders den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages.
Ganz besonders Ihnen, Herr Dr. Sack und Herr Dr. Seidl von WD 1. 
Auch für den wichtigen Beitrag „Irrfahrt zur Freiheit“, den Sie jüngst zusammen in der ZEIT veröffentlicht haben.  

Was für eine spannende Idee, anhand der abenteuerlichen Odyssee dieser Urkunde deutsche Demokratiegeschichte zu erzählen. 

Ich danke unserem Bundespräsidenten für sein Engagement, Orte und Akteure besonders unserer frühen Demokratiegeschichte sichtbarer zu machen. 

Schon Ihr Amtsvorgänger Gustav Heinemann hatte mit Nachdruck dafür geworben – Zitat -  
„Bewegungen unserer Geschichte, die unsere heutige Demokratie vorbereitet haben, aus der Verdrängung zu holen und mit unserer Gegenwart zu verknüpfen“. Zitatende

Genau dazu will diese Ausstellung beitragen. Und ich wünsche ihr viele neugierige Besucherinnen und Besucher!

Sehr geehrte Damen und Herren, 
die Revolution von 1848/49 hatte ein doppeltes Ziel – nationale Einheit und Freiheit. 

Sie hat beides verfehlt. 
Und doch ist sie nicht gescheitert.  
Die Nachwirkungen der Revolution vor 175 Jahren waren enorm. 
Verfassungsrechtlich, politisch, gesellschaftlich. Sie lassen sich noch heute erkennen. 
Nicht zuletzt im Grundgesetz. 

Die Fundamente unserer Verfassung, 
unserer demokratischen Institutionen und Praktiken wurden von den Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung gelegt. 

Die Paulskirchenverfassung entwarf die Grundlagen für einen demokratischen Staat. 

Sie sah eine konstitutionelle Monarchie vor. Keine Republik, aber einen Bundesstaat mit einem starken nationalen Parlament! 

Sie gewährte individuelle und politische Grundrechte, die sogar vor Gericht einklagbar sein sollten! 

Die Frankfurter Verfassung war ihrer Zeit voraus. 

Sie war das Resultat eines Ausgleichs zwischen gegensätzlichen politischen Zielvorstellungen. 

Schon damals wussten die Parlamentarier:  
Demokratie bedeutet nicht Harmonie, 
sondern Kontroverse. 
Und nicht selten die schwierige Suche nach  Kompromissen, um Mehrheiten zu finden.  

Eine unverzichtbare Einsicht für jede parlamentarische Demokratie! 
Die Revolutionsjahre waren Lehrstunden in demokratischen Grundfertigkeiten. 

Sie erwiesen sich als Katalysator der politischen Öffentlichkeit, einer vielstimmigen Medienlandschaft und der gesellschaftlichen Selbstorganisation. 

Diese Entwicklungen ließen sich unterdrücken, aber nicht aufhalten. 

1848 hatte es erstmals allgemeine und freie Wahlen in Deutschland gegeben. 
Auch wenn das Wahlgesetz der Nationalversammlung keine Gültigkeit erlangte. 
Auch wenn das Recht zu wählen in Preußen oder andernorts wieder eingeschränkt wurde. 
Allgemeine, freie und direkte Wahlen wurden zum demokratischen Goldstandard. 
Und die Forderung danach mobilisierte jene, die marginalisiert oder ganz ausgeschlossen waren. 

Schon vor der Revolution hatten selbstbewusste Frauen wie Louise Aston oder Louise Otto-Peters Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe erhoben. 

Männliche Fürsprecher fanden sie im Parlament dafür nicht. 

Aber der Kampf um das aktive und passive Wahlrecht für Frauen wurde zu einem mächtigen Zugpferd der organisierten Frauenbewegung. 
Über politische Differenzen hinweg. 
Wir debattieren heute darüber, 
•    wie wir Parität in Parlamenten schaffen, 
•    ob das Wahlrecht ausgeweitet werden soll für Jugendliche und Menschen nichtdeutscher Herkunft, 
•    wie wir die Beteiligung von Minderheiten und Benachteiligten erhöhen können. 

Wir entwickeln heute weiter, was damals angestoßen wurde: Mehr Rechte, Akzeptanz und Partizipation für immer mehr Menschen. 

Wenn wir an die Revolution von 1848/49 erinnern, machen wir uns auch klar: 
Es brauchte Generationen von – wie wir heute sagen würden: Aktivistinnen und Aktivisten – 
die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat erstritten. 
Unsere demokratischen Institutionen sind ein wertvolles Erbe. 
Sie brauchen Respekt, ebenso wie Kritik und Veränderungsbereitschaft. 

Parlamente, Parteien und Regierungen, 
Wahlen, Institutionen und Verfahren 
müssen sich weiterentwickeln. 

Sie müssen reagieren auf die gewandelte mediale Öffentlichkeit, 
auf die zunehmend digitalisierte Welt, 
die steigende gesellschaftliche Vielfalt. 

Sie müssen Antworten finden auf die existentiellen Bedrohungen, die alle nicht im nationalen Alleingang zu lösen sind. 

Eine bessere Demokratie kann aus Kritik und Streit entstehen. Auch aus Protest. 

Was sie definitiv nicht voranbringt, ist die Verächtlichmachung der Institutionen und der Grundwerte unseres Zusammenlebens!

Gerade mit Blick auf die Freiheits- und Demokratiebewegungen in anderen Teilen der Welt, lautet die hoffnungsvolle Botschaft von 1848/49:  

Geschichte ist kein Automatismus. 
Und sie ist nie zu Ende. 

Was gestern gescheitert ist, kann übermorgen oder auch erst überübermorgen gelingen. 

Umgekehrt gilt aber auch: Was heute als geglückt gilt, ist nicht ein für alle Mal gesichert.
Die beste Verfassung reicht nicht aus, wenn es nicht genug überzeugte Demokratinnen und Demokraten gibt. 

Unsere freiheitliche Demokratie ist nicht selbstverständlich. 

Sie muss verteidigt, angepasst, weiterentwickelt werden. 

Von uns.

Herr Professor Gross, Sie haben das Wort.