Begrüßung der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2022
[Es gilt das gesprochene Wort. Autorisierte Rede]
Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas:
Herr Präsident Levy!
Herr Bundespräsident!
Herr Bundeskanzler!
Herr Präsident des Bundesrates!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes!
Exzellenzen!
Sehr geehrte Frau Auerbacher!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!
Vor 80 Jahren, am 20. Januar 1942, kamen in einer Villa am Wannsee 15 hochrangige Staatsbeamte und NS-Parteifunktionäre zusammen. Das Thema der Besprechung lautete: „Die Endlösung der Judenfrage“. Allen Anwesenden war klar, was damit gemeint war. Der Massenmord war längst im Gange. Es ging darum, ihn zu systematisieren, zu beschleunigen und auf ganz Europa auszudehnen. Auf elf Millionen Jüdinnen und Juden. Einwände erhob keiner der Beteiligten.
Wir gedenken der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Der ermordeten Jüdinnen und Juden, der Toten der Sinti und Roma, der Opfer der slawischen Völker. Wir gedenken der Millionen Menschen, die verfolgt, beraubt, gedemütigt, entrechtet, gequält und dem Tode preisgegeben wurden. Weil sie anders dachten, anders glaubten, anders liebten oder weil ihr Leben den Nationalsozialisten als „unwert“ galt.
Die Wannsee-Konferenz steht für einen Staat, in dem Unrecht zu Recht wurde. Für einen Staat, der das Verbrechen plante, organisierte und verwaltete. Dieser Staat wurde von Menschen getragen. Menschen, die zu Mördern und Helfershelfern wurden.
Heute ist deswegen auch ein Tag der Scham für das, was frühere Generationen Deutscher getan haben. Scham, die die Täter nie gezeigt haben. Viel zu wenige mussten sich vor Gericht verantworten. Viel zu viele sind mit Strafen davongekommen, die einer Verhöhnung der Opfer gleichkamen. Auch Teilnehmer der Wannsee-Konferenz.
Sehr geehrte Frau Auerbacher, Sie stehen vor uns als Zeugin einer Zeit, die für die allermeisten längst Geschichte ist. Weit weg und völlig unvorstellbar. Als Sie sieben Jahre alt waren, sind Sie mit Ihren Eltern ins KZ Theresienstadt deportiert worden. Es war der Tag, an dem Ihre Kindheit endete.
Etwa anderthalb Millionen jüdische Kinder sind im Holocaust umgekommen. Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, dass Sie diese „drei Millionen Augen“ auf sich spüren. Sie bitten darum, sie nicht zu vergessen. Diese Bitte ist Ihnen zur Berufung geworden. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben Sie unzähligen Menschen Ihre Geschichte erzählt, vor allem Kindern und Jugendlichen. Damit diese nicht vergessen.
Ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Anreise aus New York, die nicht leicht war, insbesondere unter den schweren Bedingungen der Pandemie, auf sich genommen haben, um heute zu uns zu sprechen und Ihre Geschichte zu erzählen. Das ist uns eine große Ehre.
Als Inge Auerbachers Familie den sogenannten Abwanderungsbefehl erhielt, war ihr Geburtsort Kippenheim bereits - wie es im Nazijargon hieß - „judenfrei“. Fast alle badischen, pfälzischen und saarländischen Juden waren im Oktober 1940 ins Lager Gurs im unbesetzten Teil Frankreichs verschleppt worden. Es handelte sich um eine der ersten Massendeportationen deutscher Jüdinnen und Juden. All das fand am helllichten Tag statt. Und es lief, wie die Verantwortlichen berichteten, größtenteils ohne Zwischenfälle ab.
Die wiederhergerichtete Synagoge in Kippenheim ist heute eine Gedenk‑, Lern‑ und Begegnungsstätte - getragen von ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern. Einem engagierten Verein ist es auch zu verdanken, dass das Haus von Inge Auerbachers Großeltern in Jebenhausen erhalten wurde und heute Teil eines Erinnerungsweges an das einstige jüdische Leben in Göppingen ist. Ich begrüße stellvertretend für dieses vielfältige lokale Engagement den Oberbürgermeister von Göppingen, Herrn Alex Maier.
Unsere Gedenk- und Erinnerungskultur ist auf Initiativen wie diese angewiesen. Sie lebt von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, von Vereinen, die sich um Erinnerungsorte kümmern, von Schülerinnen und Schülern, die sich auf Spurensuche begeben. Erinnerungskultur lässt sich nicht von oben verordnen. Sie erschöpft sich nicht in staatlichen Ritualen wie diesem alljährlichen Gedenkakt. Jedenfalls nicht in einer freiheitlichen Gesellschaft.
Die Erinnerung wandelt sich: Immer weniger Zeitzeugen können aus eigenem Erleben berichten. Immer mehr Menschen bei uns haben keine deutschen Vorfahren; die deutsche Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts ist nicht ihre. Das macht die Arbeit von Schulen, Gedenkstätten und Museen umso wichtiger.
Unsere von vielen geachtete Gedenkkultur bleibt nur lebendig, wenn wir immer wieder von Neuem Fragen an die Geschichte stellen und nach Antworten suchen. Das gilt gerade für junge Menschen.
Es bedeutet auch, andere Blickwinkel zuzulassen, Bezugspunkte zu den Geschichten anderer zu debattieren - solange wir das angemessen sensibel, verantwortungsbewusst und respektvoll tun.
Umso trauriger macht es mich, dass wir die Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages pandemiebedingt verschieben mussten. Selbstverständlich werden wir die Jugendbegegnung so schnell wie möglich nachholen. Sie bringt junge Leute aus unterschiedlichen Ländern, mit vielfältigen Lebensgeschichten und Erfahrungen zusammen, die eines eint: die Überzeugung, dass das, was war, sich niemals wiederholen darf. Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit und Rassismus haben in unserer Gesellschaft keinen Platz - weder in der Gegenwart noch in der Zukunft.
Unser Land trägt eine besondere Verantwortung: Der Völkermord an den Juden Europas ist ein deutsches Verbrechen. Aber es ist zugleich eine Vergangenheit, die alle angeht. Nicht nur Deutsche, nicht nur Juden. Deshalb beteiligt sich der Bundestag zusammen mit anderen europäischen Parlamenten an der Gedenkkampagne #WeRemember in den sozialen Medien. Gemeinsam mit vielen anderen weltweit setzen wir ein Zeichen zur Erinnerung an den Holocaust. Gegen Fremdenfeindlichkeit und Judenhass.
Aber Zeichen setzen allein reicht nicht.
Ich begrüße den Präsidenten der Knesset, Herrn Mickey Levy.
Wir freuen uns, dass Sie bei uns sind. Ihr Besuch unterstreicht die engen, besonderen Beziehungen zwischen den Parlamenten unserer Länder - 70 Jahre nachdem Konrad Adenauer und David Ben-Gurion das Luxemburger Abkommen unterzeichneten. Wiedergutmachung für etwas, das nicht wiedergutzumachen ist.
Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel erscheint im Rückblick wie ein Wunder. Ein wertvolles Geschenk, das es zu pflegen gilt. Deutschland und Israel sind nicht in allem einer Meinung, aber dennoch „wahre Partner“, wie der damalige israelische Staatspräsident Rivlin vor zwei Jahren hier an dieser Stelle unterstrich. Uns einen nicht zuletzt gemeinsame Werte, für die wir einstehen - und auch als Lehre aus der Geschichte. Das gilt besonders für den Kampf gegen Antisemitismus.
Wir, Politik und Gesellschaft, führen diesen Kampf schon lange. Wir haben Expertenkommissionen und Antisemitismusbeauftragte eingesetzt. Wir haben zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine. Wir haben das Strafrecht verschärft.
Wir mahnen und bekunden unmissverständlich: Antisemitismus ist nicht hinnehmbar. Punkt!
Egal, wie er sich äußert. Egal, wo er herkommt. Nie wieder sollen sich antijüdische Stereotype und Vorurteile breitmachen können. Nie wieder sollen Jüdinnen und Juden herhalten müssen für die Übel der Welt. Nie wieder soll Antisemitismus den Boden bereiten für Ausgrenzung, Hass und Vernichtungswahn.
Auch diese Gedenkstunde ist Teil unseres Engagements. Denn wir erinnern, um „jeder Gefahr der Wiederholung entgegenzuwirken“. So sagt es die Proklamation zum Tag des Gedenkens.
Aber Erinnern und Gedenken machen nicht immun gegen Antisemitismus. Es schützt nicht vor Rassismus und Rechtsextremismus. Es hat den mörderischen Terror durch den NSU nicht verhindert, nicht den antisemitischen Anschlag von Halle, nicht die rechtsextremen Morde von Hanau.
Das Wissen um die Geschichte hat nicht verhindert, dass ein Drittel der deutschen Bevölkerung meint, die Juden hätten vielleicht doch zu großen Einfluss, dass 70 Prozent ganz oder teilweise finden, die israelische Politik im Nahen Osten sei - Zitat - „genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“ und dass die Pandemie auf ohnehin grassierenden Judenhass wie ein Brandbeschleuniger wirke.
Der Antisemitismus ist da. Er findet sich nicht nur am äußersten Rand, nicht nur bei den ewig Unbelehrbaren und ein paar antisemitischen Trollen im Netz. Er ist ein Problem unserer Gesellschaft. Der ganzen Gesellschaft.
Der Antisemitismus ist mitten unter uns.
Wir müssen uns ehrlich befragen - auch jene, die sich selbst für überzeugte Anti-Antisemiten halten: Wie frei sind wir wirklich von antijüdischen Klischees? Gelingt es uns immer, Jüdinnen und Juden nicht für die israelische Politik in Haftung zu nehmen? Sind wir aus falsch verstandener Toleranz zu nachgiebig gegenüber einem Antisemitismus, den manche Zugewanderte aus ihrer alten Heimat mitgebracht haben?
Und nehmen wir es eigentlich wahr, das vielschichtige jüdische Leben, das es - zum Glück! - wieder gibt in Deutschland? Die Vielfalt einer jüdischen Gegenwart, die jüdische Deutsche und deutsche Juden kennt, zu der Orthodoxe und Liberale gehören, die junge Israelis ebenso umfasst wie jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion.
Denn die Juden gibt es nicht. Genauso wenig, wie es die Deutschen gibt oder die Flüchtlinge oder die Muslime.
Im Übrigen: Wer gegen Muslime und ihren Glauben hetzt, der macht sich als Freund des Judentums unglaubwürdig.
Wer Menschen bei uns ablehnt, weil sie anders sind - oder einfach, weil sie nicht schon immer hier waren -, der sollte das Wort „Freiheit“ nicht im Munde führen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Jedes Menschen. Die Lehren aus der Geschichte haben unsere Verfassung geprägt. Wir wissen aus Erfahrung: Freie Gesellschaften bleiben aus dem Inneren heraus verwundbar. Deshalb braucht es den „Mut zur Intoleranz denen gegenüber …, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“. Das sind nicht meine Worte. Das hat Carlo Schmid so drastisch formuliert, als ein Vater des Grundgesetzes.
Unsere freiheitliche Demokratie muss sich wappnen gegenüber jenen, die die Demokratie beschwören, aber nur ihre eigene Freiheit meinen. Die Toleranz für sich einfordern, aber für Pluralismus nur Verachtung übrighaben. Die Lügen verbreiten, um zu verunsichern. Die zu Hass und Gewalt anstacheln, um sich im Nachhinein mit empörter Geste zu distanzieren.
Die Mehrheit in diesem Land hat dafür nichts übrig. Sie lässt sich nicht zum Hass verführen. Sie wählt und streitet demokratisch. Und das gerne leidenschaftlich, auch erbittert.
Gegenüber den anderen brauchen wir mehr „Mut zur Intoleranz“. Den entschlossenen Einsatz aller Mittel, die die wehrhafte Demokratie kennt. Wenn Rechtsextremisten, Geschichtsrevisionisten und Völkisch-Nationale Wahlerfolge feiern, dann ist das kein Alarmzeichen. Dann ist es aller höchste Zeit zu handeln.
Dann ist es höchste Zeit, zusammenzustehen, um die Werte und Institutionen unserer freien, demokratischen Gesellschaft zu beschützen.
Denn die Demokratie trägt kein Ewigkeitssiegel. Sie ist angewiesen auf Bürgerinnen und Bürger, die sie schätzen und mit Leben erfüllen. Auch daran erinnern uns dieser Tag und die deutsche Geschichte: Von uns allen hängt es ab.
Sehr geehrte Damen und Herren, im mörderischen deutschen Rassenwahn ist eine vielfältige, über Jahrhunderte gewachsene Kultur untergegangen. Europa ist ärmer geworden: Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler wurden vertrieben, gingen ins Exil, kamen ums Leben.
Einer von ihnen ist der Prager Komponist Hans Krása. Seine Kinderoper „Brundibár“ missbrauchten die Nazis für ihre Propaganda im KZ Theresienstadt. Dort hat Hans Krása auch das Streichertrio geschrieben, das wir gleich hören werden. Er starb 1944 in Auschwitz.
Ich danke den Musikerinnen und Musikern der Prager Opernhäuser, dem Kantor Yoed Sorek und ebenso allen Künstlerinnen und Künstlern, die an dieser Gedenkstunde mitwirken.
Nach dem Musikstück haben Sie, liebe Frau Auerbacher, das Wort.
Herzlichen Dank.