Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung zum Anschlag von Hanau
[Es gilt das gesprochene Wort]
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dies ist die erste Sitzungswoche nach dem furchtbaren Anschlag von Hanau. Seitdem hat in unserer von immer schneller aufeinanderfolgenden Erregungswellen getriebenen Öffentlichkeit eine Aufregung die nächste überlagert: die weltweite Ausbreitung des Corona-Virus, die bedrückenden Bilder von der griechisch-türkischen Grenze – Herausforderungen, die uns die Verletzlichkeit der uns vertrauten Welt spüren lassen und die neben Besonnenheit entschlossenes politisches Handeln fordern.
Auch 14 Tage nach den rassistisch motivierten, vom Hass auf Muslime getriebenen Morden ist das Entsetzen greifbar. Und es braucht gerade in dieser schnelllebigen Zeit Momente, um innezuhalten. Um uns selbst zu befragen, was das alles mit uns macht.
Um zu gedenken. Dazu begrüße ich auf der Ehrentribüne unseren Bundespräsidenten.
Wir trauern um Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtovic, Vili-Viorel Păun, Fatih Saracoglu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. Wir gedenken der Mutter des Attentäters, getötet vom eigenen Sohn.
Eine Frau und acht Männer wurden gezielt ermordet, weil die Wurzeln ihrer Familien außerhalb Deutschlands liegen. Menschen verschiedener Nationalität, unter ihnen deutsche Staatsangehörige und hier Geborene, Menschen die in diesem Land ihr zu Hause, vielfach ihre Heimat hatten. Wir fühlen mit den Hinterbliebenen und wir versichern ihnen unseren Beistand. Den Verletzten wünschen wir schnelle Genesung, auch wenn wir wissen: Die seelischen Verletzungen werden bleiben.
Betroffenheit reicht längst nicht mehr. Hanau fordert vor allem: Aufrichtigkeit.
Aufrichtigkeit vom Staat – der sich eingestehen muss, die rechts-extremistische Gefahr zu lange unterschätzt zu haben. Die lange Spur mörderischer Übergriffe, die Einzeltäter und Gruppen durch Deutschland ziehen, zeigt: Das ist Terrorismus. Die entschiedene Antwort darauf muss sein, mit allen rechtsstaatlichen Mitteln radikale Netzwerke aufzudecken und rechtsextremistische Vereinigungen zu zerschlagen. Das geht nur, wenn wir endlich besser werden, bei der konsequenten Durchsetzung des Rechts.
Hanau fordert aufrichtige Selbstkritik der Politik. Solche Wahnsinns-Taten geschehen nicht im luftleeren Raum. Sie wachsen in einem vergifteten gesellschaftlichen Klima, in dem das Ressentiment gegenüber dem Fremden und abwegigste Verschwörungstheorien geschürt werden – bis Minderheiten als Bedrohung empfunden und in Sozialen Medien Hetzjagden oder sogar Morde von perversen Beifallsbekundungen begleitet werden. Es braucht deshalb wirksamere Maßnahmen gegen diese unerträgliche Verrohung, nicht zuletzt im Netz. Gewählte Repräsentanten stehen in der besonderen Verantwortung, sich von extremistischen und rassistischen Ausfällen nicht nur verbal zu distanzieren, sondern deren Urheber konsequent dort zu verorten, wo sie stehen: jenseits jedes bürgerlichen Anstands und außerhalb unserer demokratischen Ordnung. Hass und Hetze sind keine politische Haltung.
Wir sind im Übrigen auch nur dann aufrichtig, wenn wir denen danken, die in den vergangenen zwei Wochen zu Tausenden in Hanau, in Berlin und anderen Städten ihre Trauer öffentlich bekundeten, und wenn wir gleichzeitig den Stimmen zuhören, die unbequeme Fragen stellen. So wie der Schriftsteller Deniz Utlu, der in der Bahn, in der er nach den Ereignissen von Hanau fuhr, keinen Unterschied zu anderen Tagen bemerkt hat. Und der deshalb jeden Einzelnen auffordert, sich zu fragen – ich zitiere ihn: „Was geschah im Herzen, als die Nachricht aus Hanau kam? Gar nichts? Etwas? Was genau? Gleichgültigkeit? Angst? Angst wovor? Wut? Wut worauf? Wer hat Empathie gespürt für die Getöteten und ihre Hinterbliebenen? … Wer hat einfach nichts mitbekommen? Hat man im Büro darüber gesprochen, oder war es ein Arbeitstag wie jeder andere auch? … Jeder kann sich befragen, was die Ermordung dieser Menschen mit ihm oder ihr gemacht hat. Und wenn es nichts macht, wenn diese Gesellschaft zu keiner ehrlichen Trauer fähig ist, dann können wir fragen, weshalb das so ist und nach unserer Menschlichkeit suchen.“ Zitat Ende – und in schmerzhafter Konsequenz weitergedacht: Was wäre eigentlich passiert, wenn es sich in Hanau nicht um einen Mordanschlag auf Muslime, sondern um ein islamistisches Attentat gehandelt hätte?
Hanau fordert Aufrichtigkeit von uns als Gesellschaft – indem wir uns eingestehen, dass wir bei der Integration noch lange nicht da sind, wo wir sein sollten. Einer Integration, die von allen etwas abverlangt, wenn sie gelingen soll. Und bei der wir auch ehrlich sein müssen, was wir an Integration einfordern, und wie viel unsere Gesellschaft an Verschiedenheit erträgt – zumal unter den Bedingungen einer Welt im rasanten Wandel. Bei der wir Fremdheitsgefühle angesichts tiefgreifender Veränderungen der gewohnten Umwelt ernst nehmen sollten, wenn wir auch die Menschen wirklich erreichen wollen, die Vielfalt mit Skepsis begegnen. Wer sich angesichts eines als überfordernd empfundenen gesellschaftlichen Wandels auf der Verliererseite wähnt, ist deshalb noch kein Rassist. Wir dürfen diese Fähigkeit zu differenzieren nicht aufgeben, wenn wir uns dem gesellschaftlichen Resonanzraum zuwenden, in dem sich Fremdheitsgefühle erst radikalisieren.
Ich bin überzeugt: Die Zukunft unserer offenen Gesellschaft wird sich daran entscheiden, ob es uns gelingt, Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt an Lebensstilen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären. In unserer von Mobilität und Globalisierung geprägten Welt ist das der gedankliche Schlüssel, um eine wirklich menschliche Gesellschaft zu schaffen und die Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie zu wahren. Aber davon müssen wir die Menschen überzeugen – sonst treiben wir sie erst in die Arme derer, die mit Gefühlen ihr böses Spiel treiben.
Der gesellschaftlichen Vielfalt und der Bandbreite an legitimen Gefühlen werden wir jedenfalls niemals gerecht, wenn wir Menschen allzu leichtfertig abstempeln – als rechts oder links, als fremd oder rassistisch, als idealistisch oder naiv. Es geht vielmehr darum, genau dort die Grenze zu ziehen, wo der Kern unserer Ordnung verletzt wird: Bei der Würde und den Rechten des Individuums. Sie zu schützen, ist Aufgabe des Staates. Sie anzuerkennen, ist die Verpflichtung jedes einzelnen von uns. Nichts rechtfertigt, Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens herabzusetzen, zu verunglimpfen, zu verfolgen, anzugreifen. Nichts! Verachtung für den anderen, Hass auf das Fremde: Das dürfen wir nicht dulden – und Straftaten, die daraus resultieren, sind durch nichts zu relativieren oder zu entschuldigen.
Dass sich Menschen in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, ist ein unhaltbarer Zustand. In der offenen Gesellschaft kann es keinen hundertprozentigen Schutz geben. Darauf hinzuweisen, gehört zur notwendigen Ehrlichkeit, um falschen Erwartungen vorzubauen. Aber für die innere Stabilität einer Ordnung, der sich Menschen anvertrauen, ist entscheidend, dass diese es vermag, das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit zu stillen. Die Menschen haben nur dann Vertrauen, wenn der Staat seiner Verpflichtung gerecht wird, allen den größtmöglichen Schutz zu gewähren, und er damit ein Grundgefühl von Sicherheit vermittelt: Denen, die sich – noch immer oder erneut – gesellschaftlich ausgegrenzt sehen, und auch denen, die durch ein empfundenes zu viel an Veränderungen meinen, zunehmend an Halt zu verlieren.
Die letzten Wochen und Tage zeigen wie unter einem Brennglas die Herausforderungen einer globalisierten Welt. Herausforderungen, die sich uns gleichzeitig stellen. Die sich überlagern und deren Verbindung, wenn wir an das Corona-Virus und die Ereignisse an der griechischen Grenze denken, auf die öffentliche Auseinandersetzung toxisch wirken kann – mit gefährlich hohem Missbrauchspotenzial. Das unterstreicht nur noch einmal unserer Verantwortung als gewählte Repräsentanten. Die Verunsicherungen und gesellschaftlichen Konflikte dürfen wir nicht beschweigen, aber wie wir darüber politisch diskutieren, um Wege für ein menschliches Miteinander zu finden, bestimmt mit darüber, rassistischen Taten wie in Hanau vorzubeugen. In dem wir ihnen den Nährboden entziehen, auf dem sie wachsen. Gelingt und das nicht, machen wir uns mitschuldig.
Es braucht Aufrichtigkeit. Selbstkritik und entschlossenes Handeln. Das sind wir den Ermordeten von Hanau schuldig. Ihnen zu Ehren und im stillen Gedenken an alle jene, die mit dem Anschlag bleibende Verletzungen an Körper und Seele erfahren haben, bitte ich Sie, bevor wir in die vereinbarte Debatte eintreten, sich zu einer Schweigeminute von Ihren Plätzen zu erheben.