Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble beim Bremer Tabakcollegium „Europas Rolle in der globalisierten Welt“
[Es gilt das gesprochene Wort]
[Anrede]
Im Humboldt-Forum über Europas Rolle in der globalisierten Welt zu sprechen – das eröffnet einen weiten historischen Horizont. Im September jährt sich der Geburtstag Alexander von Humboldts vor 250 Jahren. Der jüngere der Humboldt-Brüder hat mit seinen Reisen und Expeditionen wie kaum ein zweiter Europas Perspektive geweitet und die Welt als Ganzes in den Blick genommen – mit all der Vielfalt an Erscheinungsformen und Kulturen. Manchem gilt Alexander von Humboldt heute als der „erste Globalisierungstheoretiker“. Ihm wurde früher als anderen Gelehrten seiner Zeit klar, wie eng die Welt miteinander verwoben ist. Und dass die Europäer gut daran tun, anderen Kulturen und Regionen nicht mit herablassender Ignoranz zu begegnen, oder schlimmer noch: mit Gewalt und menschenverachtendem Utilitarismus, sondern mit Offenheit, Neugier und auf Augenhöhe.
„Alles ist Wechselwirkung.“ Dieser Leitsatz Alexander von Humboldts ist die Quintessenz seiner umfassenden Welt-Anschauung. Er lässt sich als frühe Vorwegnahme dessen verstehen, was unsere Welt heute maßgeblich bestimmt: Interdependenz. Alles hängt mit allem zusammen.
Alexander von Humboldt war Zeitgenosse der Französischen und der beginnenden Industriellen Revolution – und damit Zeuge gewaltiger ideeller, politischer wie materieller Veränderungen. Sie prägen noch immer unsere Welt und begründen die globale Geltung Europas.
Auch wir leben in einer Epoche des rasanten Wandels. Die Digitalisierung revolutioniert unser Weltverständnis grundlegend. Mit der Globalisierung rückt uns allen die Welt spürbar näher, tagtäglich. Unsere vertraute Um-Welt verändert sich dadurch. Wir lernen gerade erst, was Globalisierung wirklich heißt: Neben fast unbegrenzten neuen Möglichkeiten zu wirtschaftlicher Entwicklung und Wohlstand auch vielfache Ungewissheiten. Ob Klimawandel, demografische Entwicklung, Migration oder Terrorismus: In der globalisierten Welt gibt es keine Inseln mehr. Staaten und Gesellschaft sind – ob sie es wollen oder nicht – Teil eines weltumspannenden ökonomischen, politischen und ökologischen Geflechts.
Die europäischen Gesellschaften werden unter dem Druck des rasanten globalen Wandels heterogener, unübersichtlicher und auch konfliktreicher. Es gibt ein verbreitetes Gefühl, dass auch wir Verlierer des weltweiten Wettbewerbs werden könnten. Das hat Folgen: Obwohl es gerade Deutschland gegenwärtig objektiv so gut geht wie nie zuvor und die meisten Menschen dies auch so sehen, beherrscht viele die Angst, unseren Kindern und Enkeln werde es schlechter gehen. Dominiert Zukunftspessimismus.
Reichtum und auch Armut sind eben wie das Glück sehr relative Begriffe. Der Hinweis auf unseren Wohlstand, im europäischen und erst Recht im internationalen Vergleich, löst deshalb die Probleme nicht. Und die Zahl materieller Güter weiter zu mehren, macht allein auch noch nichts besser. Das ist eine Fehleinschätzung, der die Politik allzu gerne erliegt.
Stattdessen braucht es in Europa auch unter den Bedingungen der Globalisierung den gestalterischen Willen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Wohlstandsmehrung und gerechter Verteilung. Zwischen unaufhaltsamer Veränderung und notwendigem Halt. Angesichts der Herausforderungen des beschleunigten Wandels, dessen Auswirkungen viele als überfordernd empfinden, kann uns Karl Poppers Maxime leiten: Statt „Träumen der Weltbeglückung“ nachzuhängen, sich damit zu bescheiden, Leiden zu lindern. Damit die Menschen Schritt halten und mit den Veränderungen fertig werden können. Verantwortliche Politik muss den Menschen das Gefühl geben, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sicherheit, der Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit.
Zusammenhalt braucht es. Auch innerhalb der Europäischen Union. Dazu sollten wir uns mehr darum bemühen, unsere unterschiedlichen historischen und kulturellen Prägungen, die verschiedenen Erfahrungen zu kennen und zu respektieren. Wenn etwa die Menschen in den noch immer jungen Demokratien Osteuropas Jahrzehnte darum kämpfen mussten, sich zu behaupten, die eigene Kultur zu bewahren, dann gewinnt die Rückbesinnung auf das Eigene, das Nationale, gegenüber universalistischen Tendenzen an Bedeutung. Vor dem Hintergrund gerade erst wiedergewonnener nationaler Souveränität argumentiert man anders. Deshalb wird, wer die europäische Einigung gegen das Bedürfnis der Menschen auf nationale Identität auszuspielen versucht, Europa auch nicht stärken, sondern im Ergebnis schwächen.
Es wird ohne den Austausch untereinander, ohne das Bemühen um Verständnis für den Standpunkt des anderen nicht gehen. Deutsche und Franzosen haben dafür mit Konstituierung einer gemeinsamen parlamentarischen Versammlung in diesem Jahr einen Rahmen geschaffen. Das ist einzigartig. Wir brauchen aber in der ganzen EU die Bereitschaft, den Blickwinkel des anderen mitzudenken. Nur so werden wir zu einer wirklich europäischen Perspektive kommen – und zu konstruktiven Entscheidungen.
Das Beispiel Migration verdeutlicht es: Der Blick der westlichen Mitgliedsstaaten ist durch die Flüchtlingskrise und die Brexit-Kampagne gegen das Recht auf Freizügigkeit vor allem auf die Immigration gelenkt. Demgegenüber sind die osteuropäischen Erfahrungen genau umgekehrt von Emigration geprägt. Ist uns das bewusst? Der bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev sagt, was 1989 als demokratische Revolution in Osteuropa begann, habe sich in eine demografische Gegenrevolution verwandelt – durch Abwanderung. 2,5 Millionen Polen verließen seit 1990 ihr Land, 3,5 Millionen Rumänen, und auch jeder zehnte Bulgare zog aus seiner Heimat fort, meist Angehörige der jüngeren Generation. Geblieben sei die Angst der Zurückbleibenden vor dem Verschwinden ihrer vertrauten Welt – und damit das Misstrauen gegenüber allem Kosmopolitischen, die Forderung nach Ausschluss statt Inklusion, nach dem Schutz der politischen Gemeinschaft, der eigenen Kultur und nationalen Identität hinter sicheren Grenzen. Offenheit erscheint hier nicht mehr wie noch ‘89 als Verheißung, sondern allein bedrohlich, analysiert Krastev – weil Andere kommen werden und weil die eigenen Freunde gehen. Diese Beobachtungen sind nicht nur im europäischen Kontext interessant, wenn man die gestern veröffentlichten Zahlen des ifo-Instituts sieht: Demnach ist die Einwohnerzahl in Ostdeutschland auf den Stand von 1905 gesunken.
Die Freiheiten, die wir in unseren offenen Gesellschaften haben, durch die Globalisierung und die neuen Kommunikationsmittel, können überfordern. Unbegrenzte Freizügigkeit und Mobilität wecken auch Unbehagen, schaffen demographische Verwerfungen. Es braucht auch hier die richtige Balance, Maß und Mitte.
Mit der Nation verbindet sich seit jeher das Versprechen, die Komplexität der Welt auf einen überschaubaren Rahmen zu reduzieren. Die Europäische Union konfrontiert dagegen den Bürger mit der Welt, wie sie ist. Man kann das als eine Zumutung begreifen. Und richtig ist: Europa mutet seinen Bürgern etwas zu. Weil es sie ernst nimmt. Weil es ihnen keine einfachen Lösungen vormacht, wo es keine gibt. Die Welt ist komplex – und die Antworten auf die Herausforderungen in dieser Welt können auch nur komplex sein.
Der unaufhaltsame Wandel fordert die Bereitschaft, sich dieser Komplexität der Welt im 21. Jahrhundert zu stellen, sich dem globalen Wettbewerb auszusetzen, ihn auszuhalten. Den Wandel zu gestalten!
Die EU muss ihren Bürgerinnen und Bürgern jetzt beweisen, dass sie sie schützen, dass sie Freiheit und Wohlstand in der globalisierten Welt sichern kann.
Die Zeit drängt. Während Europa zu Humboldts Lebzeiten noch unbestritten der Nabel der Welt war, politisch und wirtschaftlich, kulturell und intellektuell, muss es sich heute in einer gänzlich veränderten globalen Mächtekonstellation behaupten. Die Bevölkerung in der „Alten Welt“ wird nicht nur immer älter, sondern relativ auch immer weniger. In einigen Jahrzehnten werden nur noch 5 Prozent der Weltbevölkerung Europäer sein. Ihr Anteil am weltweiten Handel ist inzwischen auf 15 Prozent gesunken. Auch der Anteil der europäischen Volkswirtschaften an der weltweiten Wertschöpfung sinkt kontinuierlich. Die meisten Patentanmeldungen kommen heute aus China – weit mehr als aus den USA und der EU zusammen. Für eurozentrische Hybris wie zu Humboldts Zeiten haben wir schon lange keinen Grund mehr. Gleichzeitig ist die EU noch immer der größte Binnenmarkt der Welt – und unser politischer Beitrag sollte unserer ökonomischen Stärke nicht hinterherhinken.
Die Realität ist allerdings ernüchternd: Schwerfälligkeit und Unübersichtlichkeit der Entscheidungsprozesse, die zunehmende Regulierungsdichte, der fehlende Verständigungswille zwischen den Staaten, die Kluft zwischen vollmundigen Versprechungen und ernüchternden Ergebnissen: All das kann auch den glühendsten Anhänger der europäischen Integration zweifeln lassen.
Hinzu kommt: Wohin wir in Europa blicken, sehen wir, wie schwer es geworden ist, demokratische Mehrheiten für etwas zu gewinnen. Politische Mehrheiten bilden sich vor allem gegen etwas – die Brexit-Abstimmungen im britischen Parlament sind das eindrücklichste Beispiel dafür. Wo es an Gestaltungsmehrheiten fehlt, gibt es keine echten Entscheidungen mehr, also das, woran Politik gemessen wird. Wenn wir aber politisch nichts mehr gestaltet bekommen, wächst zwangsläufig der Unmut, schwindet das Vertrauen in die Politik, in Regierungen und Parlamente. Dann erodieren die Grundlagen der Demokratie. Wenn wir bei der Umsetzung politischer Ziele national wie auf europäischer Ebene nicht erkennbar besser werden, droht ein Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber anderen Modellen. Wir befinden uns mit der EU doch längst in einem globalen Wettbewerb mit autoritären Systemen. Diese werben mit einem ungefährdeten Effizienz- und Wohlstandsversprechen für sich – ohne freilich ihren Bürgern die Freiheiten zu gewähren, die uns in Europa allzu selbstverständlich scheinen.
Die Geltung von Werten, Prinzipien und Regeln ist für die Stabilität einer demokratischen Ordnung das eine. Der ökonomische Erfolg das andere. Es braucht beides. Unsere Aufgabe ist, Freiheit, sozialen Ausgleich und auch ökologische Verantwortung zu verbinden mit Marktwirtschaft, Effizienz und Wachstum. Das sichert den gesellschaftlichen Frieden, das fördert den Zusammenhalt. Es muss uns in Europa auch zukünftig stets neu gelingen, hier das richtige Maß zu halten. Glücken wird uns das aber nur, wenn wir verstehen, dass wir überhaupt nur dann eine Chance haben, wenn wir auch unsere globale Verantwortung wahrnehmen. Gemeinsam.
Die EU muss sich dazu fokussieren: auf die drängendsten Aufgaben, die tatsächlich zukunfts- und gesellschaftsrelevanten Herausforderungen, die sich nur gemeinschaftlich lösen lassen. Die Digitalisierung unserer Lebenswelt ist eine davon. Sie führt neben immensen Vorzügen auch beträchtliche Risiken mit sich: für den Einzelnen – durch Überwachung und den Verlust an Privatsphäre; für die Gesellschaft – durch die Intransparenz algorithmengesteuerter Meinungsbildung und eine für Manipulationen anfällige, grundlegend veränderte Öffentlichkeit.
Neue Technologien erfordern eine neue Ordnung. Dazu werden die Fähigkeiten und die Erfahrungen Europas gebraucht. Wo Europas Möglichkeiten als hard power begrenzt sind, können wir uns zumindest darauf besinnen, unsere soft power auszuspielen. Zugespitzt formuliert: Um uns zwischen dem „datenkapitalistischen Universum“ (Michael Hanfeld) des Silicon Valley und dem social scoring chinesischer Prägung zu behaupten, können wir eigene, schnellere, bessere Lösungen finden, können wir vormachen, Regeln zu setzen, damit Internetkonzerne ihre Marktmacht nicht missbrauchen, damit persönliche Daten nicht in der Verfügungsgewalt von Staaten oder Unternehmen landen. Datenschutzgrundverordnung und zuletzt die Urheberrechtsrichtlinie zeigen den Willen, die großen Internetgiganten in den europäischen Rechtsraum zu zwingen.
Wenn es uns gelingt, die Balance zwischen unternehmerischer Freiheit, Meinungsfreiheit und der Sicherung von Persönlichkeitsrechten zu halten, ist das nicht nur gut für uns, sondern setzt Maßstäbe auch für andere in der Welt. Auch das ist: Macht. Die Macht der EU als größter Binnenmarkt der Welt. Macht, die wir jeder allein ganz sicher nicht hätten. Die wir aber einsetzen können: Für den Klimaschutz und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, für das Primat der Politik gegenüber einer globalisierten Ökonomie, für die Entwicklung der ärmeren Regionen und die politische Stabilisierung an der Peripherie.
Dabei sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir Glaubwürdigkeit und Vertrauen einbüßen, wenn wir unsere eigenen hohen Standards missachten. Der Transport unseres Wohlstandsmülls nach Asien ist ein schlagendes Beispiel dafür. Wie wollen wir angesichts einer solchen Verantwortungslosigkeit vor uns selbst bestehen – und der Welt ein Vorbild sein?
Und trauen wir eigentlich der Freiheit, die wir für uns selbstverständlich beanspruchen, wirklich Allgemeinverbindlichkeit in einem globalen Maßstab zu?
Europa muss sich aus ureigenem Interesse mehr engagieren, vor allem in den Regionen, die uns umgeben, den Nahen und Mittleren Osten – und in Afrika. Nur wenn sich die Lebensbedingungen hier vor Ort bessern, wenn die Menschen eine Perspektive in ihrer Heimat sehen, werden sie sich nicht auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, vor Hunger und Armut auf den Weg nach Europa machen. Auf Dauer werden massive Flüchtlingsbewegungen auch die aufnahmebereiten europäischen Gesellschaften überfordern.
Wenn wir diesen Regionen Stabilität aus unserem Wohlstand heraus vermitteln, ist das kein neuer Kolonialismus. Das ist ein europäischer Grundgedanke – von Robert Schuman wurde er schon 1950 in die Debatte um die Montanunion eingebracht: die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika als grundlegende Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung auf unserem Kontinent. Gerade Afrika braucht dringend mehr Investitionen – nicht nur aus China. Und zu Recht fordern die ärmeren Länder schon lange, dass die Europäer endlich weitere Märkte öffnen.
Dass im Übrigen über Syrien der Iran, Russland und die Türkei verhandeln, muss bitter aufstoßen. Weil es dabei doch auch um unsere Sicherheit, um unsere Gesellschaften geht. Die Verantwortung dafür sollten wir nicht aus der Hand geben. Vor den gewaltigen globalen Herausforderungen können wir uns nicht wegducken. Europa muss Verantwortung übernehmen, denn nur so werden wir unser europäisches Gesellschaftsmodell bewahren können – Freiheit und soziale Gerechtigkeit, Fortschritt und Nachhaltigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universellen Menschenrechte. All das, was Europa lebenswert und für viele Menschen zu einem Sehnsuchtsort macht. Das, was autoritäre Machthaber noch immer in Nervosität versetzt – weil es hochattraktiv ist. Chinas Führung ließ den freiheitlichen Aufbruch chinesischer Studenten vor 30 Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht nur rücksichtslos niederschlagen. Sie hütet seitdem mit aller Macht auch das große Beschweigen. Junge Chinesen, denen heute die Zensur obliegt, müssen über das „Tian’anmen-Massaker“ überhaupt erst einmal aufgeklärt werden, bevor sie jeden Hinweis darauf aus dem Internet streichen können.
China spielt im globalen Wettstreit der Systeme eine immer größere Rolle, auch in Europa; es ist enorm wichtig für unsere Wirtschaft. Richtig ist auch, dass unsere Beziehungen zu den USA schon einmal besser waren. Aber China ist Handelspartner und Wettbewerber. Die USA hingegen sind mehr: Sie sind Verbündete – selbst wenn die Trump-Administration derzeit nicht allzu großen Wert auf Partnerschaft mit den Europäern legt. Wir teilen mit den Amerikaner grundlegende gemeinsame Werte. Und wahr ist eben auch: Wir Europäer kommen für unsere Sicherheit nicht ohne die Amerikaner aus. Bis auf weiteres jedenfalls. „Es gibt keine Äquidistanz der EU zu den USA und China“, sagt der Historiker Heinrich August Winkler. Und er hat recht.
Wenn zwei der drei größten Wirtschaftsblöcke der Welt miteinander rivalisieren, und das zunehmend aggressiv, dann betrifft uns das natürlich auch. Ob wir wollen oder nicht. Es bedroht das, worauf Europas Wohlstand basiert: freier Welthandel und globalisierte Wirtschaft.
Wir dürfen deshalb nicht bequem werden. Die Gefahr der Complacency, der Selbstzufriedenheit, lauert überall. Barack Obama hat in seiner Abschiedsrede gesagt: Die größte Gefahr für die Demokratie ist, dass wir sie als selbstverständlich gegeben ansehen. Und schon Goethe wusste: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Das gilt genauso für die wirtschaftliche Prosperität, unseren Wohlstand und die soziale Sicherheit, um die uns die Welt beneidet – und es gilt eben auch für die Errungenschaften des vereinten Europa.
Als ich 2006 zum ersten Mal Ihrer Einladung gefolgt bin, habe ich davon gesprochen, dass wir in Deutschland und Europa vielleicht erst nach dem Ende des Kalten Krieges wirklich wahrnehmen konnten, wie vielfältig sich die Welt entwickelt hat und was um uns herum alles passiert. Damals habe ich wie viele andere gehofft, dass Europa, Russland, China, die USA und andere Mächte zusammenarbeiten würden. Dass es ein gemeinsames Interesse an globaler Stabilität geben könne.
Davon sind wir heute weiter entfernt als noch vor einigen Jahren. Statt mehr Gemeinsamkeit und multilateralen Kooperationen erleben wir, was der Völkerrechtler Rein Mullerson die „Dämmerung einer neuen Ordnung“ nennt: Die Hoffnungen, die am Ende der Teilung der Welt in Ost und West standen, sind einer neuen Unübersichtlichkeit gewichen. Unverhohlen werden auf der ganzen Welt multipolare Rivalitäten ausgelebt, nationale Egoismen. Auf internationaler Ebene schwindet die Verlässlichkeit. Alte Gewissheiten, auch Vereinbarungen, gelten nicht mehr. Und einstige Partner entfremden sich. Die einen stellen das transatlantische Bündnis in Frage und setzen auf unilaterales Vorgehen. Andere scheinen sich von unseren Werten, unseren Vorstellungen von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Freiheit, zu entfernen.
„Weltpolitikfähig“ zu sein: Das hat der scheidende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker deshalb von der EU eingefordert. Doch gerade in der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinken die erzielten Fortschritte den Notwendigkeiten noch immer hinterher. Ganz gleich, wie stark das US-amerikanische Engagement künftig sein wird: Die europäischen Staaten müssen den Anspruch und auch die Mittel entwickeln, um in der Welt gemeinsam wirkungsvoll zu agieren. Im Konkreten ist das schwierig. Weil sich die strategischen Interessen und Prioritäten innerhalb der EU unterscheiden, die nationalen Rechtslagen und verteidigungspolitische Kulturen. Italien und Griechenland haben ein großes Interesse am Seidenstraßenprojekt und den damit verbundenen chinesischen Investitionen. Das sehen andere wegen des wachsenden Einflusses Chinas auf europäische Staaten und Infrastrukturen kritisch. Es gibt auch in der Haltung gegenüber Russland Differenzen. Während die baltischen Staaten und Polen die russische Politik als latente Bedrohung empfinden und Schutz und europäischen Zusammenhalt einfordern, kooperieren andere mit Russland in der Energiepolitik. Die Lage in Libyen und dem Maghreb interessiert die Skandinavier sehr viel weniger als die Italiener und Spanier. Und was für die Franzosen zum nationalen Selbstverständnis zählt – militärische Stärke –, lehnen die Deutschen wegen ihrer historischen Erfahrung mehrheitlich ab.
Für all diese unterschiedlichen Auffassungen gibt es jeweils gute, nachvollziehbare Gründe. Aber allen sollte klar sein: Nur mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik haben wir Europäer eine Chance, uns gegenüber anderen Playern zu behaupten und die globalen Ordnungsfragen in unserem Sinne wirkungsvoll mitzugestalten.
Wir sollten dabei nicht glauben, die Welt zu einem Abbild unserer Selbst machen zu können. Herfried Münkler plädiert für eine „neue Bescheidenheit“ in unseren ethischen Ansprüchen an eine globale Ordnung und an die Hüter dieser Ordnung – zumal die EU selbst als Aspirant auf die Rolle eines Ordnungsstifters derzeit ausfalle. Europa müsse zunächst seine internen Probleme lösen, damit es sich den Herausforderungen jenseits seiner Grenzen widmen könne – so Münkler.
Ich fürchte, dazu fehlt uns die Zeit. Vor allem bin ich überzeugt, dass die notwendigen Reformschritte innerhalb der EU überhaupt nur dann gelingen, wenn wir uns den globalen Herausforderungen stellen. Handlungsfähigkeit nach innen und nach außen: sie bedingen sich wechselseitig. Nur unter dem Druck unserer globalen Verantwortung werden sich europäische, auch nationale Selbstblockaden auflösen lassen. Damit verbinden sich dann unbequeme Debatten, denn jeder muss sich bewegen, Gewohntes aufgeben, zu Kompromissen bereit sein. Diesen Debatten können und dürfen wir nicht ausweichen. Damit wir sie führen, braucht es Politiker, die sie der Bevölkerung zumuten, die ihnen vermitteln, was notwendig ist, und die das dann auch gegen Widerstände durchsetzen. Es braucht politische Führung.
Stattdessen führen wir die politischen Debatten noch immer viel zu introvertiert. Aus der Krise der Politik im gesamten westlichen System kommen wir aber nur heraus, indem wir uns nicht nur um uns selbst und unsere relativ kleinen Probleme kreisen. Nochmal: Wir müssen uns vorrangig um die großen Aufgaben kümmern, die wir alle nicht im nationalen Alleingang stemmen können: Frieden, Sicherheit, Klimaschutz, Migration, Digitalisierung, ökonomische Stabilität.
Konflikte und Krisen können produktiv wirken, indem sie das Gefahrenbewusstsein schärfen, zur Verständigung und Selbstverständigung zwingen. Sie können den Weg bahnen zu neuen Instrumenten, zu neuen Allianzen, um die Zukunft zu gestalten. Sie bieten das Potenzial dafür, überkommene Traditionen, gesellschaftliche Verkrustungen und nationale Selbstblockaden aufzubrechen.
Aufgabe der Politik ist es, für die großen Fragen im Rahmen dessen, was in unserer komplizierten Welt realistisch möglich ist, Lösungen zu entwickeln und diese auch umzusetzen. Je besser uns das gelingt, umso stärker wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU wachsen. Um es noch einmal mit dem bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev zu sagen: Die Europäische Union war immer eine Idee auf der Suche nach einer Realität.
Zur europäischen Realität im 21. Jahrhundert gehört: Alles hängt mit allem zusammen. In einer immer enger zusammenrückenden, sich immer schneller wandelnden Welt mehr denn je. Das belegen nicht zuletzt die Krisen, die die EU im vergangenen Jahrzehnt erlebt hat – und die sich eine an die andere zu reihen scheinen, ohne dass eine davon abschließend gelöst wäre. Das ist trotzdem kein Grund zur Resignation. Wilhelm von Humboldt soll einst an einen Freund geschrieben haben: „Die Gegenwart ist eine große Göttin und selten schnöde gegen den, der sie mit einem gewissen heiteren Mute behandelt.“ Das meint nicht fatalistische Gelassenheit, sondern Zuversicht, Entschlossenheit und einen langen Atem. Diesen unverzagten, heiteren Mut braucht es, damit Europa seine Verantwortung für die Zukunft wahrnehmen kann – für seine Bürger und für die Welt.