Laudatio von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble auf Christopher Clark anlässlich des Europapreises für politische Kultur
Es gilt das gesprochene Wort
Als Deutscher eine Laudatio in der Schweiz zu halten, auf einen australischen Historiker, der im englischen Cambridge lehrt, anlässlich eines Europapreises für politische Kultur: Das schreit förmlich nach „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ –
erst recht im 200. Geburtsjahr von Jacob Burckhardt.
In seinen unter diesem Titel posthum veröffentlichten Vorlesungen fragte der große Schweizer Historiker nach dem Sinn geschichtlicher Erkenntnis – und verlieh dem Topos von der Historia magistra vitae, einen – wie er befand – „höheren und zugleich bescheideneren Sinn“:
„Wir wollen“, schrieb er etwas verklausuliert „durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.“
Anders formuliert: Die Geschichte gibt uns keine Handlungsanleitungen und keine Ratschläge für ein konkretes Problem. Wir machen eigene Erfahrungen, auch alte Fehler – das zeigt der Weltenlauf. Erst ein historisches Bewusstsein verleiht uns aber die notwendige Sensibilität für höchst lebendige Vergangenheiten in den Konstellationen der Gegenwart. Gibt Orientierung. Vermittelt einen Standpunkt.
Christopher Clark steht in dieser Denktradition.
Die Geschichte ist auch für ihn keine Lehrmeisterin im Konkreten. Sie sei eher wie das Orakel von Delphi, sagt er. Sie biete uns bloß geheimnisvolle, rätselhafte Erzählungen. Aber im Versuch, diese zu verstehen und zu erklären, vertiefe man sein Verständnis für heutige Probleme. Mehr noch: Man bleibe denjenigen nicht schutzlos ausgeliefert, die leichtfertig und propagandistisch mit geschichtlichen Begriffen hantieren.
Wenn die Geschichte ein Orakel ist, dann ist Christopher Clark ihr erfahrener Diener: quasi ein Hohepriester profunder Quellenauslegung, kluger Analyse, stringenter Argumentation und mitreißender Darstellung.
Clark betont, das Fenster, durch das wir die Vergangenheit betrachten, sei stets auch ein Spiegel. Deshalb führen ihn seine historischen Studien immer wieder zu überraschenden und inspirierenden Gegenwartsbezügen. Sie liefern Kontraste und Parallelen. Beide schärfen und strukturieren unser Bild von der Geschichte und unserer Gegenwart.
Clark hat das in „Die Schlafwandler“ eindrucksvoll bewiesen – seinem Opus magnum zum Ersten Weltkrieg, an dessen Ende vor 100 Jahren wir diesen November erinnern werden. „Die Schlafwandler“: Das ist vor allem ein Buch über politische Verantwortung – und daran habe wahrscheinlich nicht nur ich in den ereignisreichen letzten Wochen viel gedacht.
Für Clark sind die damaligen Akteure auch „unsere Zeitgenossen“ – nicht nur, weil die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ein ‚Zeitalter der Extreme‘ einläutete, das bis heute nachwirkt. Sondern vor allem weil wir uns aus seiner Sicht derzeit in politisch ähnlich komplexer Lage bewähren müssen wie die Verantwortlichen damals.
Weil die globale Situation wieder undurchschaubarer sei als in der unipolaren Welt zur Zeit des Kalten Krieges.
Weil die neue polyzentrische Herrschaft die internationalen Beziehungen immer verwirrender gestalte – und gefährlicher mache. Krieg sei wieder zum Teil unseres Alltags geworden, warnt Clark. Er wird an Europas Grenzen geführt und selbst weit entfernte Konflikte haben in der globalisierten Welt unmittelbare Auswirkungen auf uns.
Soweit die Parallelen.
Den Kontrast bildet das Projekt Europa – trotz seiner bekannten Defizite. Das macht eine einfache Frage deutlich: Wo ständen wir in Europa eigentlich bei den großen Streitthemen unserer Zeit, wenn wir all die in der EU etablierten Mechanismen zur Verständigung untereinander nicht hätten? Mit einer Politik bilateraler Bündnisse konkurrierender Nationalstaaten, abgeschottet hinter geschlossenen Grenzen?
Ein Grund zur Selbstzufriedenheit ist das nicht. Dafür sind die Krisen auch innerhalb der EU zu groß. Zudem sollten wir nicht vergessen, was Clark mit Blick auf die lange europäische Friedenszeit und die weitreichende globale Verflechtung vor 1914 sagt – und als (Zitat) „potenziell tödliche Dialektik der Entspannung“ bezeichnet hat: Dass nämlich die Erwartung, die Krisen würden am Ende doch immer friedlich gelöst, die Risikobereitschaft auf allen Seiten immens erhöht – mit fatalen Folgen, wie wir seit der Julikrise wissen.
Durch Erfahrung weise – in Europa heißt das: Nur vereint können wir die Herausforderungen meistern. Mit Wissen über unsere unterschiedlichen historischen Erfahrungen, mit Verständnis für die verschiedenen nationalen Interessen, mit der Bereitschaft zum Kompromiss. Mit notwendigem Pragmatismus in der Sache und einer Vision für die gemeinsame europäische Zukunft. Das ist verantwortliche Politik auf Basis historischer Erfahrung.
Als Australier außerhalb des Europäischen zu stehen, sei ein Vorteil, findet Christopher Clark. Tatsächlich sorgt das für eine Distanz, die manches deutlicher sehen lässt – und auch unbekümmerter ansprechen:
Clarks Unverständnis über das EU-Referendum in seiner britischen Wahlheimat etwa. Oder die Debatte um den Islam, der aus seiner Sicht selbstverständlich zu Europa gehört. In seiner „Europa-Saga“ im ZDF widmete er ein ganzes Kapitel den orientalischen Ursprüngen des christlichen Abendlandes, eine der faszinierendsten Folgen dieser sehenswerten Fernsehserie.
Kritische Distanz: Sie ermöglicht Clark vor allem, immer wieder neue Konturen der europäischen Geschichte zu zeichnen, unser historisches Verständnis um andere Sichtweisen zu bereichern. Indem er neue Zugänge sucht und frische Fragen stellt. Indem er einen neugierig-kritischen Blick auf verfestigte Bilder vergangener Epochen wirft und vertraute Thesen konsequent gegen den Strich bürstet: Über die Rolle Preußens in der deutschen Geschichte, die ambivalente Persönlichkeit Wilhelms II., die Theorie eines deutschen Sonderwegs oder die Alleinschuld des Kaiserreichs am Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
„Wir erben alles. Erst das Blut. Und dann die Schuld.“
Christopher Clark wird sofort erkannt haben, von wem dieser Satz stammt: Theodor Fontane. Seine Romane, darunter vor allem „Vor dem Sturm“, aus dem ich zitiert habe, gaben einst im fernen Sydney den Anstoß für sein Forschungsinteresse. Weckten seine Neugier auf Europa.
Dabei ist ‚Schuld‘ für ihn selbst als eine historische Kategorie völlig uninteressant. Sie sei Sache der Juristen. Oder von Moraltheologen. Die Haltung in Teilen der deutschen Öffentlichkeit, nationale Schuld auf ein Podest zu stellen, ist ihm gänzlich fremd.
Clark will wegkommen von einer schuldorientierten Erzählung. Das bleibt nicht ohne Widerspruch – und Clark weicht Kontroversen auch nicht aus. Gelegentlich wundert er sich allerdings schon mit einem Augenzwinkern darüber, dass Deutschland das einzige Land sei, in dem ihm Deutschenfreundlichkeit vorgeworfen werde.
Der europäische Blick ist das Signum der historischen Arbeiten Christopher Clarks. Bereits in seiner epochemachenden Studie über Preußen ordnete er den norddeutsch-protestantischen Machtstaat in die gesamteuropäischen Zusammenhänge ein – und entstaubte damit das einseitig negative Preußenbild. Deutschland sei eben gerade nicht die Erfüllung Preußens gewesen, sondern sein Verderben, urteilt er. In Wahrheit sei Preußen lange ein europäischer Staat gewesen bevor er ein deutscher geworden sei.
Hier kommt zum Ausdruck, was für alle europäischen Nationen gleichermaßen gilt:
Ihre jeweils eigene Geschichte ist ohne das gemeinsame europäische Erbe, die antiken Traditionen, die christlich-jüdische Kultur, die Prägungen von Aufklärung und den Ideen der Französischen Revolution, gar nicht zu begreifen. Die Geschichte einer europäischen Nation berührt zudem immer auch die ihrer Nachbarn, sie sind nicht voneinander zu trennen. Denn in Europa ist alles miteinander verwoben.
Clark öffnet in seinen Studien folgerichtig die Perspektive, betrachtet etwa alle beteiligten europäischen Mächte am Kriegsausbruch 1914, dieser gesamteuropäischen Tragödie. Auch ohne Schuldzuweisung entlässt er die Beteiligten nicht aus ihrer Verantwortung, auch nicht die Deutschen. Im Gegenteil. Die Verantwortlichkeit der Handelnden wird bei ihm sehr konkret: im Treffen unüberlegter Entscheidungen genauso wie durch Zögern, durch Entschlusslosigkeit, durch Unterlassen.
Clark ist überzeugt davon, dass sich die Komplexität eines Konflikts nur in einer gleichfalls komplexen Beschreibung der verschlungenen Abläufe angemessen darstellen lässt. Das fordert dem Leser etwas ab. Die Julikrise 1914 rollt er wie einen Kriminalfall neu auf, durchgehend multiperspektivisch erzählt und trotzdem für den Leser immer nachvollziehbar. Das ist große Kunst – und im Ergebnis ein großer Wurf.
In Clarks Schilderungen sind keine anonymen historischen Kräfte am Werk. Gegen abstrakte Erklärungen in großen Begriffen wie Nationalismus oder Imperialismus schreibt er an. Weil sie den handelnden Individuen keinen Bewegungsraum mehr lassen würden. Geschichte wird bei ihm von Menschen gestaltet. Darauf insistiert er – mit Porträts, in denen die Akteure lebendig werden, zu atmen beginnen.
Auf diese Weise bringt er Geschichte zum Sprechen, nimmt – in seinen Worten – „das Gespräch zwischen verschüttgegangenen Argumentationen und Gedankengängen spielerisch wieder auf“.
Kurz: Bei ihm wird Geschichtswissenschaft im besten Sinne zur Geschichtsschreibung.
Vehement stellt sich Clark gegen die Dichotomie aus Erzählung oder Strukturen. Er ist sich sicher, man kann auch analytisch erzählen. Das beweist er selbst immer wieder aufs Neue. Die Potenziale zum Krieg seien 1914 dem System immanent gewesen, betont er – und verdeutlicht im Erzählen über das Handeln Einzelner gleichzeitig die Kontingenz von Geschichte, das Willkürliche, das den Lauf der Welt beeinflusst.
Fatalismus begegnet er mit Skepsis, Zwangsläufigkeiten gibt es bei ihm nicht. Clark zeigt, dass es auch in der Vergangenheit immer Handlungsspielräume gab, Entscheidungsoptionen in die eine oder andere Richtung, dass Vergangenheit erst im Rückblick zu dem Schicksal wird, dem die nachfolgenden Generationen nicht entrinnen können.
Darin liegt eine Weisheit im Sinne Jacob Burckhardts.
Denn auch wir sollten den Herausforderungen unserer Zeit nicht schicksalsergeben begegnen. Die Aufgaben fordern vielmehr wieder Entscheidungen, diesmal von uns. Und auch unsere Gegenwart hält dafür Alternativen bereit. Es ist unsere Verantwortung, wie wir uns entscheiden, es ist unser Gestaltungsauftrag – gerade in politisch schwieriger Zeit.
Dabei können wir noch etwas aus der Geschichte lernen, wie sie Clark erzählt. Denn er gibt uns zu verstehen, dass Furcht das Gift in der europäischen Machtpolitik der Julikrise gewesen ist:
die Furcht vor der Stärke des Nachbarn und mehr noch die Furcht vor den Entwicklungsmöglichkeiten des anderen. Deshalb braucht es heute unter den europäischen Staaten vor allem das: Vertrauen untereinander – und Zuversicht. Ohne sie lässt sich Politik nicht gestalten. Schon gar nicht in Europa.
Das Vergnügen am Narrativ teilt Christopher Clark mit dem Träger dieses Preises von 2014, Heinrich August Winkler – mit dem er sonst gern so manche Klinge kreuzt. Aber auch Winkler sagt: „Erzählung ist kein Gegensatz zur Erklärung, sondern deren angemessene Form.“
Der Anklang beim breiten Publikum, den beide mit diesem Selbstverständnis finden, gibt ihnen Recht. Clark kennt als Wissenschaftler keine Berührungsängste: Er überzeugt auch im Fernsehen als kenntnisreicher Lotse durch die deutsche und die europäische Geschichte.
Hier komme ich allerdings um ein ernstes Wort nicht herum, Herr Clark. Denn dass Sie in Ihrer „Deutschland-Saga“ ausgerechnet den Schwaben zum Ur-Deutschen erklärt haben, kann nicht unkommentiert bleiben – schon gar nicht von mir als Badener. Hoffnung macht mir, wenn stimmt, was ich in einem älteren Interview gelesen habe: dass Sie an einer Studie zur Revolution von 1848 arbeiten – wieder so einem Thema mit europäischer Perspektive. Dann werden Sie nämlich erkennen, dass sich zumindest das moderne Deutschland vor allem eines verdankt: dem mutigen Eintreten gerade badischer kluger Köpfe für Freiheit und Recht – bis hin zu ihrem aufopferungsvollen Kampf, die Errungenschaften der deutschen Revolution in Baden zu verteidigen, dem wahren ‚Musterländle‘ liberaler Demokratie.
Verehrter Herr Clark, Sie sind seit Jahren rastlos unterwegs zwischen britischer Insel und dem europäischen Festland. Mit der Aufnahme in den Ritterstand sei Ihr unermüdliches Wirken als Vortragsredner und Podiumsdiskutant amtlich als Reisediplomatie anerkannt worden, witzelte die FAZ vor ein paar Jahren. Tatsächlich tragen Sie mit Ihrem herausragenden Werk zu einem europäischen Geschichtsverständnis, zu einem europäischen Bewusstsein bei – und das braucht es dringender denn je.
Ich bin davon überzeugt, dass Europa vor allem ein Zukunftsprojekt ist; die einzige wirkungsvolle Antwort auf die Herausforderungen, die uns in der globalisierten Welt gestellt sind. Wir Europäer dürfen darüber aber nie die Geschichte aus den Augen verlieren, die wir miteinander teilen, im Guten wie im Bösen.
Um im Sinne Burckhardts „weise für immer“ zu werden.
Sir Christopher Clark, ich gratuliere Ihnen herzlich zur verdienten Auszeichnung mit dem Europapreis für politische Kultur 2018!