Kaiserreich (1871 - 1918)
Das 1871 gegründete preußisch-deutsche Kaiserreich blieb in vielem ein militärisch geprägter Obrigkeitsstaat. Die maßgeblich von Bismarck entworfene Reichsverfassung vom 16. April 1871 räumte der monarchischen Exekutive weitreichende Vorrechte ein: Das Militär, die Außenpolitik und die Reichsverwaltung blieben dem Einfluss des Parlaments weitgehend entzogen und vor allem die Besetzung der Regierung hing – bis in die Endphase des Ersten Weltkriegs hinein – einzig vom Vertrauen des Kaisers ab, nicht jedoch von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Im Zentrum der ursprünglich als Fürstenbund konzipierten Verfassung stand - als Vertreter der Einzelstaaten - der Bundesrat, der formell über weitreichende Befugnisse in Exekutive, Legislative und Judikative verfügte.
Gleichwohl besaß auch der demokratisch legitimierte Reichstag wichtige Kompetenzen: Wichtigste Aufgabe des Parlaments war – gemeinsam mit dem Bundesrat – die Verabschiedung aller Gesetze einschließlich der jährlichen Haushaltsvorlagen. Kein Gesetz trat ohne seine Zustimmung in Kraft. Es besaß das Recht, selbstständig Gesetzesvorlagen einzubringen, vom Reichskanzler Auskunft über die Regierungspolitik zu verlangen und es bestimmte selbst über die Tagesordnung. In der Verfassungspraxis gewann der Reichstag im Laufe der Zeit zweifellos zunehmend an Prestige und Einfluss, wurde zum wichtigsten Symbol der politischen Nation und wirkte auf vielfältige Weise in die Gesellschaft hinein.
In der historischen Forschung umstritten ist dagegen die Frage, inwieweit nach 1871 die Chance auf einen Übergang zur parlamentarischen Monarchie, in der der Kaiser nur noch geringen Einfluss auf die Staatsgeschäfte ausgeübt hätte, bestand. Darüber hinaus bleiben weitere Fragen offen: Waren die Jahre zwischen 1871 und 1918 „Lehrjahre der Demokratie“ (M. Anderson), in denen die Deutschen eine demokratische politische Kultur einübten? Fand eine „stille Parlamentarisierung“ (M. Rau) statt oder stützte die Demokratisierung der Gesellschaft ohne umfassende Parlamentarisierung des politischen Systems im Endeffekt den autoritären Staat? Es kennzeichnet die dynamische und spannungsreiche Epoche, dass auch 150 Jahre nach der Reichsgründung zahlreiche Perspektiven nebeneinander bestehen, die ein jeweils eigenes Bild des Kaiserreichs zeichnen.
Reichstagswahlrecht
Dem Reichstag, der zunächst in der ehemaligen Königlich-Preußischen Porzellanmanufaktur in der Leipziger Straße und ab 1894 im Reichstagsgebäude tagte, gehörten 382, seit 1874 schließlich 397 Abgeordnete an. Sie wurden auf drei, seit 1888 auf fünf Jahre nach dem Grundsatz der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Mehrheitswahl bestimmt. Wahlberechtigt waren alle männlichen Deutschen über 25 Jahre. Frauen blieb das Wahlrecht bis 1918 grundsätzlich verwehrt. Nach zeitgenössischen Maßstäben galt dieses Wahlrecht als modern und fortschrittlich, auch wenn es einzelne Parteien infolge der massiven Bevölkerungsverschiebungen zunehmend benachteiligte. Das Reichstagswahlrecht, die öffentlich ausgetragenen Wahlkämpfe sowie die Wahlen selbst trugen nach 1871 maßgeblich zur umfassenden Politisierung der Bevölkerung bei, die sich nicht zuletzt in einer stetig wachsenden Wahlbeteiligung - von 50,7 Prozent im Jahr 1871 auf 84,9 Prozent im Jahr 1912 - niederschlug.
Mit der Politisierung der Deutschen begannen sich die Parteien tendenziell zu modernen Organisationen zu wandeln. Auch die Arbeitsweise des Politikers bekam neue Züge. Obwohl bis 1906 keine Diäten gezahlt wurden, gehörten dem Reichstag bald viele Berufspolitiker an, die sich im Rahmen ihrer parlamentarischen Arbeit auf einen bestimmten Politikbereich spezialisierten. Der Reichstag entwickelte sich zu einem Arbeitsparlament, das unter anderem zur Ausbildung eines nationalen Wirtschaftsraumes und eines modernen Rechtssystems beitrug sowie mit der Verabschiedung der Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung die Grundlagen des modernen Sozialstaates legte.
Kontrolle der Regierung
Nach 1871 - und insbesondere seit Bismarcks Rücktritt 1890 - gewann der Reichstag gegenüber der Reichsregierung und den im Bundesrat vertretenen Einzelstaaten an Macht und Einfluss. Selbstbewusst kritisierte der Reichstag öffentlich Versäumnisse der Reichsleitung, etwa wenn die Abgeordneten über die eigenwilligen Äußerungen Wilhelms II. in der „Daily-Telegraph-Affäre“ diskutierten oder die Verbrechen deutscher Truppen in den Kolonien thematisierten. Inwieweit der Bedeutungszuwachs der Volksvertretung in der Praxis zu einer allmählichen Parlamentarisierung des politischen Systems führte und Kaiser und Reichsregierung zunehmend von den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag abhängig waren, ist in der historischen Forschung umstritten. Der weit verbreiteten skeptischen Einschätzung zufolge ging es den in ihren Milieus fest verankerten Parteien in erster Linie um eine effektive Kontrolle der Regierung und nicht um die Übernahme von Regierungsverantwortung. Daraus sei eine Kultur der Kompromisslosigkeit entstanden, die noch die Weimarer Republik geprägt habe. Demgegenüber erkennen neuere Arbeiten in der konkreten Arbeit in den Ausschüssen oder den komplexen Wahlabsprachen bei den Reichstagswahlen mittlerweile eine größere Kompromissbereitschaft, die auf einen umfassenden Lernprozess hinweist.
Parteiensystem
Das Kaiserreich kannte keine Volksparteien mit einer breiten, sozial und konfessionell gemischten Wählerschaft, sondern zeichnete sich durch ein Fünfparteiensystem aus, in dem sich die Parteien ideologisch und soziologisch mehr oder weniger strikt voneinander abgrenzten. In diesem System waren die Parteien eng mit bestimmten sozialen Gruppen, Klassen oder „sozialmoralischen Milieus“ (R. M. Lepsius) verbunden, deren jeweilige Interessen und Ziele sie im politischen Raum vertraten. Die konservativen, monarchistisch gesinnten Schichten und Gruppen wurden von der Deutschkonservativen Partei und der Deutschen Reichspartei vertreten. Als Repräsentantin des politischen Katholizismus setzte sich die Deutsche Zentrumspartei für die politischen Ziele und Interessen der katholischen Bevölkerungsgruppen ein. Der parteipolitisch gespaltene Liberalismus war auf dem rechten, vornehmlich für die Interessen des Wirtschaftsbürgertums eintretenden Flügel in der Nationalliberalen Partei organisiert, wohingegen sich die – im Bildungsbürgertum verankerten – Verfechter linksliberaler Positionen in mehreren Parteien (u.a. der Deutschen Fortschrittspartei, Deutschen Freisinnigen Partei und Freisinnigen Volkspartei) organisierten. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (bis 1890 Sozialistische Arbeiterpartei) agierte als politischer Arm der sozialistischen Arbeiterbewegung und hatte ihre Anhängerschaft vor allem in der wachsenden Industriearbeiterschaft. Zwischen diesen Parteien kam es im Reichstag zwar mehrfach zu Blockbildungen, doch nicht zu dauerhaften stabilen parlamentarischen Bündnissen.
Weltkrieg und Verfassungswandel
Erst als das Kaiserreich am Ende des Ersten Weltkrieges im September 1918 vor seinem wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch stand, sahen sich der Kaiser und die führenden politischen Akteure gezwungen, dem Drängen von Zentrum, SPD und Linksliberalen, die zusammen im Reichstag über eine Mandatsmehrheit verfügten, nachzugeben. Der Kaiser ernannte eine Regierung unter dem Reichskanzler Max von Baden, der mehrere profilierte Politiker der „Mehrheitsparteien“ angehörten und die nunmehr vom Vertrauen des Reichstages abhängig war. Dieser Schritt erfolgte allerdings nicht aus politischer Einsicht der alten Machteliten in die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit demokratischer Reformen. Sie war vielmehr der Tatsache geschuldet, dass die militärische Führung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff keine Verantwortung für die Niederlage übernehmen wollte, obwohl sie im Laufe des Krieges die Politik des Kaiserreichs zunehmend und zuletzt fast diktatorisch bestimmt hatte. Neben den Bestrebungen der Parteien und der Flucht der militärischen Führung aus der Verantwortung gab vor allem der Druck des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der nur mit einer demokratisch legitimierten Regierung Frieden schließen wollte, den Ausschlag für eine Parlamentarisierung des politischen Systems des Kaiserreichs. Mit großer Mehrheit änderte schließlich das Parlament die Reichsverfassung; das Kaiserreich wurde am 28. Oktober 1918 zu einer parlamentarischen Monarchie. Diese war allerdings nur dreizehn Tage bis zum 9. November 1918 in Kraft, als die Revolution das Ende des Deutschen Kaiserreichs besiegelte.