Gedenkrede von Lenka Reinerová
Meine sehr geehrten Herren Präsidenten,
verehrte Frau Bundeskanzlerin,
verehrte Frau Köhler,
sehr geehrte Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates,
Exzellenzen,
verehrte Gäste
und - schließlich - liebe Freunde!
Dass ich heute und hier zu Ihnen sprechen kann, ist für mich, wie Sie mir gewiss glauben werden, ein ganz besonderes Erlebnis. Eine Jüdin aus Prag, der Hauptstadt der kleinen demokratischen Republik der zwanziger und dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser kleine demokratische Staat, mit der langen Grenze zu Deutschland, war in den dreißiger Jahren für alle Nazigegner ein ersehntes und sogar erreichbares Asylland. Das wurde auch im großen Maße ausgenützt.
In Prag lebte damals zum Beispiel der Philosoph Ernst Bloch, dessen einziger Sohn hier auf die Welt gekommen ist. Die Brüder Thomas und Heinrich Mann haben sogar die Staatsbürgerschaft zugesprochen bekommen. Aus Berlin verlegte der Prager deutschsprachige Schriftsteller Franz Carl Weiskopf die Redaktion der AIZ - der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung - nach Prag. Wieland Herzfelde eröffnete hier von neuem seinen Malik-Verlag, sein Bruder John Heartfield schuf in der tschechischen Hauptstadt eine Reihe großartiger Fotomontagen. Der Schauspieler Wolfgang Langhoff emigrierte nach seiner Freilassung aus dem KZ Börgermoor zu uns und brachte eines der ersten Bücher über den Naziterror, „Die Moorsoldaten“ aus dem KZ mit.
Bertolt Brecht und Helene Weigel lebten eine kurze Zeit in Prag ebenso wie noch viele andere auch. In jener Zeit wurde in der böhmischen Hauptstadt eine große Manifestation gegen den Nationalsozialismus organisiert, sie fand in dem vielleicht größten Saal von Prag, in der Lucerna statt. Auf dem Programm stand unter anderem auch das Auftreten eines kurz zuvor aus dem KZ Fuhlsbüttel entlassenen Häftlings. Es war ein Hamburger Arbeiter, der später der Schriftsteller Willy Bredel wurde und ein Buch über das KZ schrieb unter dem Titel „Dein unbekannter Bruder“. Er wurde von den Menschen stürmisch begrüßt, sprach sehr sachlich über seine Erlebnisse und stockte mit einem Mal. Er sagte „Jetzt weiß ich nicht, war das vor meiner ersten oder meiner zweiten Auspeitschung.“ Ich war damals ungefähr siebzehn Jahre alt und in mir stockte das Blut. Da steht ein Mann vor mir, keine Heldenfigur, ein untersetzter bescheidener Mensch. Und er wurde ausgepeitscht? Ich konnte es nicht fassen.
Bald darauf erhielt ich meine erste journalistische Anstellung. Eben in der Weiskopfschen AIZ. Ich war dort, um es kurz zu sagen, das Mädchen für alles. Unter anderem oblag mir auch die Verwaltung des Fotoarchivs. Da gab es unter vielen die Aufnahme einer hübschen jungen Frau mit einem kleinen Kindchen. Das Foto war hell, und der große und der kleine Mensch sahen fröhlich aus. Nur - sie hatte dieses Kind im Gefängnis auf die Welt gebracht, das Kind wurde ihr genommen, und sie selbst wurde hingerichtet. Die Frau hieß Lilo Hermann. Wann immer ich dieses Foto aus dem Archiv hervorholte, zitterten meine Hände. Da war etwas, das ich auf keinen Fall verstehen konnte. Aber es wurde noch schlimmer.
1939 besetzte die Wehrmacht meine Heimat und machte sie zum Protektorat Böhmen und Mähren. Von diesem Tag an durften die jüdischen Bürger nicht mehr auf Gehsteigen gehen, sie durften sich in Parkanlagen auf keine Bank setzen. Sie durften keine Transportmittel benützen, keine öffentlichen Telefonautomaten, sie durften weder auf die Hauptpost, geschweige denn in ein Kino gehen. Sie durften am besten nicht sein. Meine gesamte Familie, elf Personen, wurde von den Nazis umgebracht, beginnend mit meiner Großmama, bis hin zu meiner älteren Schwerster, die mit ihrem damals ungefähr 7-9 Jahre alten kleinen Sohn ins Gas gestoßen wurde.
Ich überlebte, weil ich am Tage der Besetzung nicht im Lande weilte. Und so begann für mich das Exil. Unter anderem saß ich in Paris ein halbes Jahr in Einzelhaft, im berüchtigten Frauengefängnis La Petite Roqette, das es zum Glück nicht mehr gibt, danach ungefähr zwei Jahre im Internierungslager für lästige Ausländerinnen RIEUCROS. Dank der Bemühungen guter Freunde, vor allem der Schriftsteller Egon Erwin Kisch und des schon erwähnten Franz Carl Weiskopf, bekam ich ein Visum und eine Schiffskarte nach Mexiko. Unterwegs blieb ich für ein halbes Jahr in Marokko stecken. Erst war ich im Lager OUED ZEM am Rande der Sahara und, nach sechs Monaten in Casablanca, kam ich dann glücklich in Mexiko an. Dort hatte ich die große Chance, dass eigentlich gleich nach meiner Ankunft die diplomatischen Beziehungen zwischen Mexiko und der tschechoslowakischen Exilregierung in London geknüpft wurden. Und ich habe vom ersten Tag an in dieser diplomatischen Mission gearbeitet. Glücklich, dass ich wenigstens von Weitem ein kleines bisschen zum großen Kampf gegen den Faschismus beitragen konnte.
Wir erhielten aus London die verschiedensten Nachrichten und eines Tages eine ganz merkwürdige. Im Schlösschen Wannsee im Westen Berlins fand eine Arbeitskonferenz statt, an der durchwegs gebildete und studierte Leute teilnahmen unter der Leitung eines Reinhard Heydrich, des späteren Vizeprotektors von Böhmen und Mähren. Dieser wurde als solcher vom tschechischen Widerstand umgebracht. Unter den Teilnehmern waren aber auch Adolf Eichmann und lauter hochgestellte Beamte. Verhandelt wurde, wie man schnell und tunlichst billig die sechs Millionen Juden Europas ein für alle Mal loswerden könnte. Dort entstand die Idee des Holocausts. Die Juden sollten also restlos liquidiert werden, was aber sollte mit den sogenannten minderwertigen Völkern geschehen, als da waren die Tschechen, Slowaken, Polen usw. Ein Vorschlag war, man sollte sie alle in irgendwelche völlig entlegenen Regionen aussiedeln, oder wenn das zu teuer käme, sie vor allem in die Kriegsmaschinerie Deutschlands einbauen und sie dabei bis zur absoluten Erschöpfung für das Dritte Reich schuften lassen.
Wenn man heute über diese Dinge spricht und vor allem nachdenkt, will man sie eigentlich gar nicht glauben. Aber es sind leider Tatsachen. Damit etwas Ähnliches nie wieder auf uns zukommen kann, glaube ich, müssen wir viel mehr Verständnis für die Andersartigkeit riesiger Massen der Bevölkerung unseres Planeten aufbringen, um einem solchen Unglück, wie es in letzter Zeit der Terrorismus darstellt, rechzeitig und gründlich beikommen zu können. Denn dass wir friedlich miteinander leben wollen und können, ist vielleicht eine Selbstverständlichkeit, die allerdings unterstützt und behütet werden muss. Es scheint mir, dass wir immer noch zu wenig Verständnis für die Lebensart, die Tradition und den Glauben eines sehr großen Teils unserer Mitmenschen auf diesem Planeten aufbringen. Das geschriebene Wort sollte dabei so wirksam wie nur möglich mithelfen.
Ich bin, und das ist keine Neuigkeit, der letzte deutschsprachige Autor in der Tschechischen Republik. Im Hinblick darauf, dass meine ganze Familie dem deutschen Nationalsozialismus zum Opfer gefallen ist, wurde mir diese Tatsache eine gewisse Zeitlang beinahe vorgeworfen, zumindest ungern gebilligt. Das hat sich mit der Zeit schließlich geändert, und heute finde ich viel Verständnis dafür, dass ich eine gewisse Kontinuität aufrechterhalte und zu dem, glaube ich, dass wirklich jeder von uns nach seinen Möglichkeiten zum gegenseitigen Verständnis beitragen sollte. Deshalb bin ich auch sehr froh, dass meine Bücher im Laufe der letzten Jahre einen tschechischen Verleger gefunden haben und von den Lesern sehr gut und warmherzig aufgenommen werden. Ich hoffe sehr, dass ich eine bescheidene kleine „Klammer“ für das gegenseitige Einandernäherkommen geworden bin. Falls dem so ist, bin ich zufrieden.
Ich bin allerdings überzeugt davon, dass wir noch mehr tun müssen, um einander möglichst gut zu verstehen. Das hat mich u.a. dazu veranlasst, in Prag ein Literaturhaus unserer deutschsprachigen Autoren zu gründen, denn wir haben nicht nur Franz Kafka, Werfel, Rilke und Egon Erwin Kisch, sondern den ganzen Prager Kreis mit einer Reihe sehr interessanter, nur leider in Vergessenheit geratener Autoren. Zudem wollen wir tschechischen Schriftstellern Stipendien nach Deutschland und deutschen zu uns gewähren, um ein besseres Näherkommen zu ermöglichen. Denn ich glaube, die Schrecken des Faschismus mit dem unvorstellbaren Massenmord des Holocaust haben wir zum größten Teil hinter uns gebracht. Jetzt geht es darum, das neue Unheil, den Terrorismus zu bekämpfen. Das müssen und können wir nur gemeinsam tun, jeder mit seinen Mitteln und Möglichkeiten. Es muss und wird uns gelingen, auch diesem Verbrechen den Boden zu entziehen und das Leben für uns alle besser, nutzvoll und freudig zu gestalten.
Das ist es, was ich Ihnen hier und heute sagen wollte, und ich danke Ihnen, dass Sie mich angehört haben.
Lenka Reinerová, Prag