Daniil Granin (27.01.2014)
Vor 70 Jahren, am 27. Januar 1944, endete die fast 900 Tage andauernde Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. Der Bundestag hat am Montag, 27. Januar 2014, die Erinnerung an dieses Ereignis in den Mittelpunkt seines Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gestellt. Die Blockade kostete mindestens 800.000, wahrscheinlich mehr als eine Million Menschen das Leben. Ein Überlebender, der heute 95-jährige russische Schriftsteller Daniil Granin, erzählte in einer bewegenden Rede in russischer Sprache im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes von seinen Erlebnissen als Kriegsfreiwilliger der Volkswehr in der Stadt, die heute wieder Sankt Petersburg heißt.
„Blockade traf die Stadt unvorbereitet“
Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wird seit 1996 begangen. Damit wird zugleich an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 erinnert. Zur Gedenkstunde begrüßte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert neben Daniil Granin auch Bundespräsident Joachim Gauck, Bundesratspräsident Stephan Weil, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle.
Nachdem die Deutschen am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschiert waren, brach die Verteidigung von Leningrad Mitte September 1941 zusammen. Die Blockade sei unerwartet gekommen, sie habe die Stadt unvorbereitet getroffen, sagte Granin.
Tagelang brannten die Häuser
Für Lebensmittelkarten hätten Arbeiter anfangs 500 Gramm Brot, Angestellte 300 Gramm Brot erhalten, ab 1. Oktober nur noch 400 und 200 Gramm, ab 20. November noch 250 Gramm und 125 Gramm: „125 Gramm sind eine hauchdünne Scheibe Brot von sehr minderwertiger Qualität, mit Beimengungen von Zellulose und anderen Stoffen.“ Der Redner berichtete vom Zusammenbruch der Wasserversorgung und der Kanalisation in der Stadt: „Der Strom wurde abgestellt. Ab dem 1. Oktober wurden Lebensmittelkarten eingeführt.“
Zu allem Unglück sei der sehr kalter Winter gewesen. Die Stadt sei bombardiert und unter massiven Artilleriebeschuss genommen worden: „Die Häuser brannten mehrere Tage lang.“
„Den Hunger in die Stadt geschickt“
Vor Hunger seien die Menschen immer schwächer geworden. Aber sie hätten weiterhin Munition und Minen produziert und Panzer instandgesetzt. „Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff.“ Der Hunger sei in die Stadt geschickt worden, um anstelle der Soldaten Krieg zu führen.
Im Oktober seien 6.000, im November 10.000 und in den ersten 25 Tagen des Dezember 1941 40.000 Menschen gestorben: „Im Februar verhungerten täglich etwa dreieinhalb Tausend.“ Die Stadt habe wegen des Beschusses aus der Luft und der Bombardierung nicht mehr versorgt werden können.
„Straße des Lebens über den Ladogasee“
In seiner gemeinsam mit dem weißrussischen Schriftsteller Ales Adamowitsch 1979 veröffentlichten Dokumentation „Das Blockadebuch“ hat Granin Geschichten aus der belagerten Stadt gesammelt wie jene von dem dreijährigen gestorbenen Kind, von dessen Leichnam die Mutter täglich ein Stückchen abschneidet, um ihr zweites Kind zu ernähren. Die Mutter habe sich selbst gezwungen, „nicht zu sterben und nicht wahnsinnig zu werden, weil sie ihre Tochter retten musste.“
Eine Evakuierung über den nördlich der Stadt gelegenen, zugefrorenen Ladogasee habe die „Straße des Lebens“ ermöglicht, die zum anderen, nicht besetzten Ufer geführt habe. „Die Deutschen beschossen die Straße gnadenlos. Die Geschosse rissen das Eis auf. Fahrzeuge und Menschen gingen im Wasser unter.“
Juras Gewissensbisse
Am Beispiel des 14-jährigen Jura, der für Mutter und Schwester die auf das Gramm genau abgewogenen Brotrationen abholen sollte, beschrieb der Gastredner plastisch, wie sich die Blockade auf die einzelnen Menschen ausgewirkt hat. Um das Maß genau zu erfüllen, seien kleine Brotstückchen zugeschnitten worden, deren Verzehr auf dem Heimweg die Angehörigen gar nicht hätten bemerken können.
Jura habe in seinem Tagebuch beschrieben, wie er sich schämte, als er sich einmal nicht beherrschen konnte und von den Brotstückchen aß. Dieser Tagebucheintrag habe ihn erschüttert, so Granin: „Er wollte sich nicht entmenschlichen lassen.“
„Überlebt haben die Mitfühlenden“
Im Mai 1942 hat Granin mit anderen „ganze Berge von Leichen“, die vor den Friedhöfen lagen, leicht „wie Brennholz“, auf Lastwagen geworfen: „Ich habe nie wieder im Leben ein grausigeres Erlebnis gehabt.“ Die Helden der Stadt seien der „Jemand“, der „namenlose Passant“ gewesen – „Menschen, in denen das Mitgefühl erwacht war“. Dieses Mitgefühl sei immer stärker geworden. Überlebt hätten die, die andere Menschen retten wollten und die andere Menschen gerettet haben.
Er habe lange gebraucht, um sich zu entscheiden, über „seinen Krieg“ zu schreiben, sagte Granin abschließend, den Menschen mitzuteilen, „dass wir einen Sieg errungen haben, der gerecht war. Es gibt wahrscheinlich einen sakralen Raum, in dem der Mensch des Sieges teilhaftig wird. Wo das Wichtigste die Liebe zu den Menschen und zum Leben ist.“
„Menschenverachtende Rassenideologie“
Bundestagspräsident Lammert hatte in seiner einleitenden Ansprache aus einem Schreiben der deutschen Seekriegsleitung an die Gruppe Nord und den Marineverbindungsoffizier bei der Heeresgruppe Nord vom 29. September 1941 zitiert, in dem es heißt: „Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.“
Lammert verwies auf den Datumszufall, wonach die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee und das Ende der Leningrader Blockade auf den Tag genau ein Jahr auseinanderliegen. Kein Zufall sei der Zusammenhang zwischen Auschwitz und Leningrad, dem Völkermord an den europäischen Juden und dem mörderischen Raum- und Vernichtungsfeldzug im Osten Europas: „Sie wurzelten in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie.“
Gedenken an Opfer der NS-Herrschaft
Der Präsident sagte weiter: „Wir gedenken heute aller Menschen, denen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von Deutschland ausgegangenen Angriffskrieges ihre Rechte, ihr Besitz, ihre Heimat, ihr Leben, ihre Würde entrissen wurden: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderungen, der politisch Verfolgen, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Opfer der Kindertransporte, der Kriegsgefangenen, der zu “Untermenschen„ degradierten slawischen Völker.“
Das Gedenken gelte allen, die in Auschwitz, Treblinka, Bełżec und in den anderen Vernichtungslagern ermordet wurden – die erschossen, vergast, erschlagen, verbrannt, durch Zwangsarbeit vernichtet wurden oder verhungert sind. „Wir gedenken auch jener, die verfolgt, drangsaliert, getötet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder weil sie anderen Schutz und Hilfe gewährten.“ Den in der Gedenkstunde anwesenden Zeitzeugen entbot Lammert den Gruß und Respekt des gesamten Hauses.
Unvorstellbare Tragödien
Die menschlichen Tragödien, die sich in Leningrad abspielten, seien für uns heute völlig unvorstellbar, sagte Lammert weiter. Lange Zeit seien sie zumindest im Westen Deutschlands auch wenig bekannt gewesen. Die Erinnerung an den Russlandfeldzug sei in der jungen Bundesrepublik von der Tragödie bei Stalingrad „in ihrer besonderen deutschen Wahrnehmung“ dominiert worden. Die Belagerung Leningrads und die dem Hunger preisgegebenen Zivilisten hätten im Mythos einer vermeintlich „sauberen Wehrmacht“ keinen Platz gefunden.
Zu den Eingeschlossenen habe auch der Komponist Dmitri Schostakowitsch gezählt, mit Klängen aus dessen achtem Streichquartett das Meccorre String Quartet die Gedenkstunde musikalisch umrahmte. Unter dem Eindruck des zerstörten Dresden geschrieben und offiziell den „Opfern des Faschismus und des Krieges“ gewidmet, reflektiere dieses wohl persönlichste Werk Schostakowitschs auch das eigene Erleben von Verfolgung, Krieg und Drangsalierung.
„Intoleranz nicht mehr tolerierbar“
Unter Beifall sagte Lammert weiter: „Nie wieder dürfen Staat und Gesellschaft zulassen, dass Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer politischen Einstellung, ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer Andersartigkeit zum Feindbild einer schweigenden Mehrheit gemacht, verachtet, gedemütigt oder bedroht werden.“
Die von Fremdenhass getriebenen Morde an Bürgern türkischer und griechischer Herkunft, von rassistischen Parolen begleitete Proteste gegen Flüchtlingsheime, jede antisemitische Straftat – jede – fordere „unsere rechtsstaatliche, politische und zivilgesellschaftliche Gegenwehr als Demokraten“ heraus: „In Deutschland jedenfalls ist Inoleranz nicht mehr tolerierbar.“ (vom/27.01.2014)