Historiker Walter Mühlhausen über Republikgründer Friedrich Ebert
Der Historiker Walter Mühlhausen zählt zu den profundesten Kennern von Leben und politischem Wirken des ersten demokratischen Staatsoberhaupts in Deutschland. Vor 100 Jahren verstarb Friedrich Ebert im Alter von nur 54 Jahren überraschend im Amt. In diesem Interview beleuchtet Mühlhausen das politische Handeln des Mitbegründers und Reichspräsidenten der ersten deutschen Demokratie:
Herr Prof. Mühlhausen, Friedrich Ebert zählt zu den Wegbereitern der parlamentarischen Demokratie in Deutschland und im Amt des Reichspräsidenten zu deren entschiedensten Verteidigern in den krisenreichen Anfangsjahren der Republik. Trotzdem scheint er im kollektiven Bewusstsein der Deutschen weniger präsent zu sein als beispielsweise Bismarck, Adenauer oder Brandt. Wie lässt sich dies erklären oder täuscht der Eindruck?
Als das ZDF 2003 durch seine Zuschauer die wichtigsten Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart Deutschlands wählen ließ, gelangte Friedrich Ebert nicht bis in die Hitparade der 200 größten Deutschen, die mit großem Vorsprung von Bundeskanzler Konrad Adenauer, gefolgt von Martin Luther und Karl Marx angeführt wurde. Ebert gehörte lange nicht zu den im kollektiven Bewusstsein verankerten Politikern des 20. Jahrhunderts, weil er das Staatsoberhaupt in Krisenzeiten gewesen war.
Mit seinem Namen war keine Periode der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Stabilität oder gar der Weltgeltung verbunden, sondern die erste deutsche Demokratie, die bereits nach 14 Jahren von den Nationalsozialisten zertrümmert worden war. Die Weimarer Republik wurde lange zumeist vom Ende her gedacht, dabei eine direkte Linie von der Umbruchsphase 1918/19, in der Ebert entscheidend Verantwortung getragen hatte, zu ihrem Untergang 1933 gezogen. Nicht nur in vielen wissenschaftlichen Betrachtungen mutierte Ebert dabei zur Chiffre für die Sozialdemokratie der ersten Republik, die den gestellten Herausforderungen nicht gewachsen gewesen sei, ja gar restlos versagt habe. Ebert als Repräsentant der gescheiterten Demokratie wurde nicht zu einem milieuübergreifenden Mythos und verblieb lange im Schatten der Geschichte. Er rückte erst ganz allmählich stärker in das politisch-historische Bewusstsein im Zuge einer Neubewertung der Weimarer Republik, die nicht mehr nur als eine Demokratie der verpassten Chancen gesehen wird, die ihr Scheitern durch Versäumnisse in der Revolutionszeit praktisch in die Wiege gelegt bekommen habe. Nunmehr wird viel stärker betont, dass es trotz der desolaten Situation am Ende des Ersten Weltkrieges gelungen war, den Grundstein für eine parlamentarische Demokratie zu legen und dass sie durchaus genügend Potential für Dauerhaftigkeit besaß. In dieser neueren dominierenden Sicht wird Ebert als Wegbereiter und Verteidiger der Republik von Weimar gewürdigt.

Walter Mühlhausen (© privat)
Als Reichspräsident erlebte Ebert nicht weniger als neun Kanzler und zwölf Kabinette, von denen die Mehrzahl nicht über eine eigene parlamentarische Mehrheit verfügten. Er warb bei den Parteien für eine Regierung auf möglichst breiter parlamentarischer Basis, drang mit seinen Appellen jedoch nur selten durch. Woran lag das?
Bei den Kabinettsbildungen wurde Ebert von der Prämisse geleitet, eine handlungsfähige Regierungsmehrheit zu realisieren. Nach seiner Auffassung war die Republik nur durch eine Kooperation der politischen Vertretungen von demokratischer Arbeiterschaft und Bürgertum lebensfähig. So forderte er nach den Reichstagswahlen vom Juni 1920, als die SPD dramatisch verloren und die bisherige Weimarer Koalition ihre komfortable Mehrheit eingebüßt hatte, die Große Koalition. Das war damals weit schwieriger als heute zu bewerkstelligen, mussten doch vier Parteien unter einen Hut gebracht werden: SPD, die katholische Zentrumspartei und die beiden liberalen Parteien DDP und DVP. Dabei hielt Ebert die ideologisch-programmatischen Hürden zwischen den Parteien für überwindbar und erwartete stets eine Unterordnung parteitaktischer Ziele unter das abstrakt formulierte Wohl des Staates. Er warb für die Einsicht, dass der Kompromiss zum Wesenskern einer funktionstüchtigen parlamentarischen Demokratie gehörte.
Hier war er seiner Zeit voraus, denn die in ihren jeweiligen Sozialmilieus verhafteten Parteien zögerten, diesem für den demokratischen Diskurs unerlässlichen Prinzip zu folgen. Ihre Kompromissbereitschaft war zu schwach entwickelt, um die höchst unterschiedlichen Interessen auf einen gemeinsamen Nenner herunterzubrechen. Das lag vor allem daran, dass die Parteien im Kaiserreich nicht an das Regieren mit den Handlungszwängen einer Koalition gewöhnt, sondern im Vorhof der Macht gehalten worden waren. Parlamentarisch-demokratisches Regierungshandeln, zu dessen Erfolg neben der Kompromissfähigkeit auch ganz entscheidend die Rückkopplung zu den Fraktionen (aber auch zur eigenen Basis) gehörte, hatten sie nicht gelernt. So zogen sich die Parteien – auch die eigene SPD – sehr zum Unwillen des unbedingten Machtpolitikers Ebert immer wieder gern auf die bequemen Oppositionsbänke zurück, auch weil der Wähler Regierungsteilhabe abstrafte und die eigene Gefolgschaft den Kompromiss verweigerte.
Gemäß Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung konnte der Reichspräsident in Übereinstimmung mit der Reichsregierung Notverordnungen ohne Zustimmung des Parlaments erlassen. Von dieser Möglichkeit hat Ebert zu Beginn der Weimarer Republik, auch im Krisenjahr 1923 öfter Gebrauch gemacht. Hat Ebert hier staatsrechtlich bedenkliche Präzedenzfälle geschaffen und wo liegen die Unterschiede zwischen ihm und seinem Nachfolger Paul von Hindenburg?
Der berühmt-berüchtigte Artikel 48 der Weimarer Verfassung war eine generelle Notstandsklausel zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Zum Erlass der mitunter weitreichenden Regelungen benötigte das Staatsoberhaupt immer die Unterschrift des Reichkanzlers oder des zuständigen Ministers, also die Zustimmung der Regierung. Diese konnte er ohne den Reichstag treffen, dem allerdings das Recht zustand, die Aufhebung zu verlangen. Ein der Demokratie verpflichtetes Staatsoberhaupt konnte unter Rückgriff auf diese präsidialen Rechte eine Bastion gegen die Republikfeinde sein. Wenn ihm aber die Demokratie nicht am Herzen lag, vermochte er diese Rechte einschließlich Artikel 48 auch gegen die Republik zu instrumentalisieren.
In seiner Amtszeit unterzeichnete Friedrich Ebert 136 Verordnungen nach Artikel 48. Er setzte diesen zunächst ausschließlich zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung ein, zudem zur Abwehr republikfeindlicher Bestrebungen und zur Bekämpfung von militanten Demokratiefeinden. Das alles war verfassungsrechtlich gedeckt, doch mit dem Einsatz zur Behebung der überaus dramatischen wirtschafts- und finanzpolitischen Krisen und zur kurzfristigen Regelung drängender ökonomischer Schieflagen wurden die Verfassungsbestimmungen weit gedehnt, für viele Beobachter sogar überdehnt. Ungeachtet dessen kam es in der Amtszeit Eberts zu keinem verfassungsrechtlichen Konflikt zwischen Reichspräsidenten und Reichsregierung auf der einen und dem Parlament auf der anderen Seite, weil Ebert seine Machtinstrumente stets unter Wahrung und Respektierung der Rechte des Reichstages anwandte. Er blieb im Rahmen der Verfassung, doch sein Nachfolger Paul von Hindenburg missbrauchte die Möglichkeiten von Artikel 48 in geschickter Kombination mit weiteren präsidialen Befugnissen gegen den Reichstag – und damit gegen die Republik – und planierte so den Weg in deren Untergang.
Allgemein wird Ebert in der Geschichtswissenschaft attestiert, dass er sein Amt überparteilich ausgeübt hat und auch in den bürgerlichen Parteien Respekt genoss. Warum zog Ebert dennoch so viel Hass von den politischen Rändern auf sich?
Nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten durch die in Weimar tagende Nationalversammlung am 11. Februar 1919 bekräftigte Ebert in seiner Dankesrede an die Abgeordneten, als „der Beauftragte des ganzen deutschen Volkes“ und nicht als „Vormann einer einzigen Partei“ sein Amt wahrnehmen zu wollen. Das waren nicht nur wohlgeformte Worte in feierlicher Stunde, sondern hier spiegelt sich sein grundlegendes Amtsverständnis wider. Es gelang ihm, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, was ihm letztlich auch Anerkennung in dem ihm zunächst skeptisch gegenüberstehenden demokratischen Bürgertum einbrachte. Außerhalb der Parteien des demokratischen Verfassungsbogens schlug ihm jedoch Kritik, ja blanker Hass entgegen. Die radikale Linke stempelte ihn zum Arbeiterverräter, der in der Revolution 1918/19 im Zusammenspiel mit den alten Gewalten die radikale Umwälzung verhindert und linke Kräfte der Arbeiterbewegung unterdrückt habe. Die antidemokratische Rechte sah in ihrem Hass auf die Republik in Ebert einen Landesverräter, untermauert mit der Dolchstoßlegende, die die tatsächlich Verantwortlichen in der kaiserlichen Führung von der Schuld an der Kriegsniederlage entband. Diese schob man der organisierten Arbeiterbewegung und allen voran Ebert in die Schuhe, die durch revolutionäre Aktionen der tapfer kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen seien.
Der Landesverratsvorwurf war Teil einer perfiden Verleumdungskampagne, gegen die sich Ebert mit juristischen Mitteln zur Wehr setzte. Doch in einem seiner mehr als 200 zur persönlichen Reputation angestrengten Prozessen verurteilte das Gericht zwar den Redakteur, der ihn Landesverräter genannt hatte, wegen Beleidigung, stellte aber zugleich fest, dass Ebert, als er im Januar 1918 bei den großen Streiks der Berliner Munitionsarbeiter in den Streikausschuss getreten war und vergeblich versucht hatte, den Ausstand ohne Folgen für das Reich und die Streikenden zu beenden, Landesverrat begangen habe. Das Urteil vom 23. Dezember 1924 war politischer Rufmord, denn nun durfte jeder Gossenjournalist und Stammtischbruder den Reichspräsidenten ungestraft als Landesverräter beschimpfen.
Fragen der Repräsentation sowie staatliche Symbole, Feiern und Traditionen spielen auch in einer parlamentarischen Demokratie eine wichtige Rolle. Wie lässt sich Eberts persönlicher Repräsentationsstil beschreiben und welche symbolpolitischen Initiativen ergriff bzw. unterstützte er, um die Identifikation mit der Republik zu fördern?
Die Repräsentation war für Ebert bei Amtsantritt ein nahezu unbekanntes Terrain. Einen traditionellen Vorschuss, wie ihn Monarchen in die Wiege gelegt bekommen hatten, besaß der aus einfachen Verhältnissen stammende Handwerker nicht. Mit einer betont zurückhaltenden Repräsentation grenzte er sich ab von den waffenklirrenden Inszenierungen seines Vorgängers, Kaiser Wilhelm II. Ohne Pomp und Pose, ohne Pathos und jeglichen Persönlichkeitskult vermeidend, nahm er die Aufgabe wahr. Dabei agierte er als Symbol der Einheit des Reiches und unparteiischer Sachwalter der übergeordneten Interessen von Nation und Reich.
Zudem wollte er durch symbolische Akte die Identifikation mit der Republik fördern und der Gesellschaft ein aus den demokratischen Traditionen geschöpftes geistiges Fundament geben. Dazu zählten die Besinnung auf die Revolution von 1848 als Referenzort der jungen Republik, die Proklamation des Deutschlandliedes zur Nationalhymne 1922, wobei er besonders die dritte Strophe mit dem Dreiklang „Einigkeit und Recht und Freiheit“ (die heutige Nationalhymne) herausstellte, und sein Drängen auf feierliche Begehung des Verfassungstages als Ersatz für den fehlenden Nationalfeiertag, in Erinnerung an den 11. August des Jahres 1919, als er im thüringischen Schwarzburg die Reichsverfassung unterzeichnet hatte. Mit diesen Initiativen wollte er für die neue Staatsordnung werben. Doch während es ihm wohl gelungen ist, den politischen Treibsand, die Unentschlossenen, für die Demokratie zu erwärmen, so erreichte er weder die von der Weltrevolution träumende radikale Linke, in deren Augen die Republik unvollendet war, noch die Monarchisten, von denen viele noch Glanz und Gloria des Kaiserreiches nachtrauerten und in der Republik nichts weiter als das verachtete System der „Novemberverbrecher“ erblickten.
Friedrich Eberts unerwarteter Tod im Alter von nur 54 Jahren am 28. Februar 1925 wird oft als wichtige Zäsur in der Geschichte der Weimarer Republik begriffen. Ihm folgte mit Paul von Hindenburg ein Militär und Monarchist im Amt. Welche Perspektiven hatte die erste deutsche Demokratie nach Ebert?
Zum Zeitpunkt des Todes von Friedrich Ebert befand sich die Republik von Weimar nach Jahren der Krisen in einem ruhigeren Fahrwasser. Die Klippen waren umschifft, auch dank seiner konsequenten Politik, mit der er mitunter auch in der eigenen Partei auf Kritik stieß. Er hatte im Revolutionskabinett und als Reichspräsident im Wesentlichen das getan, was ein verantwortlicher Politiker in einer gespaltenen, innerlich wenig befriedeten, äußerlich nachhaltig bedrängten Republik mit sozialen Schieflagen hatte tun können, wenn er sich dem parlamentarisch-demokratischen Ideal verpflichtet fühlte. Die Krisen waren in der Tat nicht zu Katastrophen ausgewachsen. So war die Rettung des im Herbst 1923 politisch und wirtschaftlich am Abgrund stehenden Reiches unter Aufbringung seiner ganzen präsidialen Macht gelungen. Es folgte die Phase der „relativen Stabilität“. Die Republik von Weimar hätte den von Ebert konsequent beschrittenen Weg der Demokratie weitergehen können. Zu seinem Nachfolger aber bestimmten die Deutschen in einer Volkswahl im April 1925 mit Paul von Hindenburg den monarchischen Feldherrn, den Verfechter der Dolchstoßlüge, einen Militär, einen Antirepublikaner, der das von Ebert zu einer starken Institution geformte Präsidentenamt gegen die Demokratie ausnutzte. Unter seiner Präsidentschaft wurde Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt und damit das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte aufgeschlagen.
So verlor die Republik von Weimar 1925 ihren Vorkämpfer und einen ihrer Stützpfeiler. Der in der Wolle gefärbte Sozialdemokrat hatte als Pate an der Wiege des sozialen Verfassungs- und Rechtsstaates gestanden und diesen bis zuletzt entschieden verteidigt. So darf Friedrich Ebert, der gleichwohl nicht frei von Fehlern und Fehleinschätzungen war, zu den Ahnherren der deutschen Demokratie gezählt werden. Sein Tod markierte einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Weimarer Republik und nicht weniger in der allgemeinen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Prof. Dr. Walter Mühlhausen war bis März 2023 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg. Seine monumentale Ebert-Biografie, mit der er sich 2006 an der Technischen Universität Darmstadt habilitierte, ist im Februar 2025 im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. in der dritten Auflage erschienen.
(Inhaltlich verantwortlich: Fachbereich WD 1)