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Kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit

(© DBT/Thinking Visual/Katrina Günther)

Wortlaut der Empfehlung

„Wir empfehlen, kostenfreies und gesundes Mittagessen bundesweit an Kitas und Schulen für alle Kinder und Jugendlichen täglich bereitzustellen. 

Als Mindeststandard soll die Verpflegung an den DGE-Qualitätsstandards ausgerichtet sein. Der Einsatz von mindestens 30 Prozent ökologisch produzierten (Bio-)Lebensmitteln soll dauerhaft finanziell gefördert werden. Wünschenswert wäre, dass die Lebensmittel zusätzlich regional und saisonal (klimafreundlich) bezogen werden.

Die Maßnahme soll mindestens zur Hälfte vom Bund finanziert werden. Die Finanzierung der Maßnahme kann unter anderem aus den Mitteln des Programms “Bildung und Teilhabe„ erfolgen, über das aktuell nur armutsgefährdete Kinder ein kostenfreies Mittagessen erhalten können. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Mittel für eine geplante Erhöhung des Kindergelds für das Programm umzuwidmen. Das heißt, anstatt das Kindergeld zu erhöhen, wird das dadurch eingesparte Budget für die Bereitstellung des kostenfreien Essens verwendet. Auch die Mittel bestehender Förderprogramme in den Ländern und Kommunen mit ähnlicher Zielsetzung sollen für dieses bundesweite Programm umgewidmet werden.

Die Maßnahme soll staffelweise spätestens innerhalb von acht Jahren für alle Altersgruppen umgesetzt werden, beginnend mit der jüngsten Altersstufe: zunächst in den Kitas, zwei Jahre später in den Grundschulen, zwei Jahre später in den Klassen der Sekundarstufe I und zwei Jahre später in den Klassen der Sekundarstufe II. 

Auch die Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher sollten in die Maßnahme eingeschlossen werden.“

Die Begründung zur Empfehlung können Sie im Bürgergutachten (Bundestagsdrucksache 20/10300) nachlesen.

Stand der Beratungen und Umsetzung

Das Bürgergutachten wurde nach einer Plenardebatte am Donnerstag, 14. März 2024, federführend an den Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft sowie mitberatend an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und den Ausschuss für Klimaschutz und Energie überwiesen.

Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft hat in seiner Sitzung am Mittwoch, 24. April 2024, beschlossen, am Montag, 13. Mai 2024, ein öffentliches Fachgespräch zur Empfehlung „Kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit“ durchzuführen. Neben jeweils zwei Teilnehmern des Bürgerrates und seines wissenschaftlichen Beirates waren sieben weitere Expertinnen und Experten geladen.

Joseph Heiss, Teilnehmer des Bürgerrates Ernährung, berichtete von seinen Erfahrungen in den Sitzungen zur Erarbeitung der Empfehlung. Bereits am ersten Tag des Bürgerrates sei das Thema „Kostenloses Mittagessen in Kitas und Schulen“ aufgekommen. Obwohl am zweiten Tag darauf hingewiesen wurde, dass dieses Thema in die Zuständigkeit der Länder falle und daher nicht an den Bundestag allein adressiert werden könne, hielt der Bürgerrat daran fest. Die Forderung wurde auf der letzten Sitzung vom Bürgerrat am höchsten priorisiert. Sie sieht unter anderem vor, Mittel des Programms „Bildung und Teilhabe“ oder eine zukünftige Kindergelderhöhung dafür zu verwenden. „Es geht um die Kinder, die unsere Zukunft sind“, betonte Heiss. 

Prof. em. Ulrike Arens-Azevêdo von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg verwies auf internationale Studien aus Schweden, Finnland und den USA, welche die kurz-, mittel- und langfristig positiven Effekte eines kostenlosen und gesunden Mittagessens für alle Kinder zeigten. Es führe langfristig zu mehr Lernerfolgen und verbessere damit auch spätere Chancen in Ausbildung und Beruf. Zudem entlaste es die Familien, insbesondere solche mit geringem Einkommen.

Der Ernährungsmediziner Prof. Dr. Berthold Koletzko betonte, dass in Deutschland ein großer Teil von Kindern und Jugendlichen die Ernährungsempfehlungen nicht einhalte, was unter anderem zu Mangelversorgung mit Vitaminen und Nährstoffen und Übergewicht führen könne. Ein qualitativ hochwertiges Ernährungsangebot in Schulen könne zur Gesundheitsförderung beitragen und langfristig die Ernährungsgewohnheiten der Kinder und deren Familien prägen. Er verwies auf eine Studie aus Nordrhein-Westfalen, bei der durch die Vergabe von kostenfreiem Wasser in Schulen innerhalb eines Jahres die Häufigkeit von Übergewicht bei Schülern um 30 Prozent reduziert wurde. Dies sei insbesondere durch die langfristige Prägung von Trinkgewohnheiten auch außerhalb der Schule zu erklären, die sich teils auch auf Eltern und Geschwisterkinder übertragen.

Koletzko ergänzte, in Deutschland sei die Gesundheit stark von der sozialen Herkunft abhängig und diese Ungleichheit beginne oft schon im Kindesalter. Kinder aus sozial schwachen Familien würden sich in der Regel schlechter ernähren. Gemeinschaftsverpflegung biete die Chance, gesunde Ess- und Trinkgewohnheiten frühzeitig und langfristig zu prägen. Dies könne auch der Entstehung chronischer, nicht übertragbarer Erkrankungen ¬– wie Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen – vorbeugen, so Koletzko. Prof. Dr. Wilhelm Windisch von der Technischen Universität München ergänzte, dass gerade beim Mittagessen die Tagesration an kritischen Nährstoffen aufgenommen werden könne, wenn bestimmte Qualitätsstandards beachtet werden. 

Auch die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats des Bürgerrats Ernährung sprachen sich für eine Umsetzung der Empfehlung aus. Prof. Dr. Britta Renner, Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik und Gesundheitspsychologie der Universität Konstanz, betonte die soziale Dimension der Gemeinschaftsverpflegung. Essen sei für den Menschen mehr als nur die Aufnahme von Nährstoffen, es fördere die soziale Identität und Bindung. Ein kostenfreies Essen für alle Kinder sei wichtig, damit möglichst alle am gemeinsamen Tisch sitzen, was soziale Teilhabe und Integration fördere und das Schulklima verbessere. Die Möglichkeit, nur Kindern aus einkommensschwachen Haushalten ein gebührenfreies Mittagessen anzubieten, überzeuge sie daher nicht. Positive Effekte einer vollständigen Kostenfreiheit für alle Kinder seien in verschiedenen Ländern durch entsprechende Studien nachgewiesen. Insbesondere in den USA wurden umfangreiche und methodisch sehr anspruchsvolle Langzeitstudien im Rahmen des Community Eligibility Provision Programms in verschieden Bundesstaaten durchgeführt. Die Ergebnisse seien dabei sehr konsistent und würden zeigen, dass neben einer verbesserten Ernährung und schulischen Leistung, sich auch das Schulklima verbesserte. Durch den Wegfall der Bürokratie und vereinfachter Verfahren sowie dadurch erhöhter Teilnahmeraten habe sich eine kostenfreie Bereitstellung als kostengünstiger als das bisherige bedürftigkeitsbasierte Verfahren erwiesen. Prof. Dr. Melanie Eva-Maria Speck vom Fachbereich Agrarwissenschaften und Landschaftsarchitektur, Sozialökonomie in Haushalt und Betrieb an der Hochschule Osnabrück hob zudem den großen administrativen Aufwand hervor, der damit einhergehe, wenn nur einzelne Kinder eine Kostenerstattung erhalten. Zudem wies sie darauf hin, dass der Bürgerrat empfiehlt, im Sinne einer gemeinsamen Esskultur auch Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher einzubeziehen.

Manon Struck-Pacyna vom Lebensmittelverband Deutschland betonte, dass die Zuständigkeit für schulische Angelegenheiten bei den Ländern liege. Der Bürgerrat habe vorgeschlagen, dass sich der Bund zu 50 Prozent an den Kosten beteiligt. Bisher zeigten die Bundesländer jedoch keine Bereitschaft, die Kosten für den finanziellen Mehraufwand eines gebührenfreien Mittagessens an Kitas und Schulen zu übernehmen. Marc Elxnat vom Deutschen Städte- und Gemeindeverbund wies darauf hin, dass es langfristige Mittelzusagen vom Bund geben müsse, da es sich um eine dauerhafte Aufgabe handele. Dies sei jedoch verfassungsrechtlich schwierig. Selbst bei einer Unterstützung durch den Bund müssten die Länder einen großen Teil der Kosten übernehmen. Zudem warf er die Frage auf, ob mögliche Zuschüsse nicht eher für eine Verbesserung der Qualität und zur Preisstabilität genutzt werden sollten und verwies für Familien mit geringen Einkommen auf die bestehenden Möglichkeiten im Rahmen des Programms „Bildung und Teilhabe“.

Alexandra Lienig, Projektleiterin der Vernetzungsstelle Schulverpflegung bei der Verbraucherzentrale Thüringen, berichtete von den Erfahrungen aus ihrem Bundesland. Hier gelten seit 2020 die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), was die Qualität des Schulessens verbessert habe. Allerdings sei die Bezahlung durch die Familien eine große Herausforderung. Die Preise seien in den letzten zwei Jahren um fünfundzwanzig Prozent gestiegen.

In der Diskussion mit den Abgeordneten ging es unter anderem um die Frage, wie die Entstehung von Lebensmittelabfällen verhindert werden könne. Der Befürchtung, dass durch eine Beitragsfreiheit häufig Essen ohne vorige Abmeldung nicht abgeholt würden, stellte Stephanie Wunder vom Thinktank Agora Agrar verschiedene Lösungsansätze aus den Bundesländern und aus dem Ausland entgegen. So könnten Caterer verpflichtet werden, digitale Abmeldesysteme zu etablieren oder durch die Zahlung nur tatsächlicher abgeholter Essen Anreize geschaffen werden, Lebensmittelabfälle zu reduzieren. Eine Steigerung von Lebensmittelabfällen allein durch die Kostenfreiheit sei hingegen nicht belegt, vielmehr könne Lebensmittelverschwendung auch bei zahlungspflichtigen Angeboten ein Problem sein. Arens-Azevêdo ergänzte, dass durch die freie Auswahl von einzelnen Essenskomponenten viele Abfälle vermieden werden könnten. 

Der Ausschussvorsitzende Hermann Färber (CDU/CSU) schloss die Sitzung mit dem Hinweis, dass weitere Fachgespräche zu anderen Empfehlungen des Bürgerrates stattfinden sollen und der Ausschuss dem Plenum anschließend eine Beschlussempfehlung vorlegen wird.

Mehrere ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerrats Ernährung haben Ende Mai 2024 aufgrund der Zuständigkeiten der Länder bei der Umsetzung ein Schreiben an die Vorsitzenden aller Fraktionen in den Landtagen gerichtet, in dem sie dazu aufrufen, die Empfehlung umzusetzen. (05.06.2024/Claudia Schulz)

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