Historische Debatten (7): Abtreibungsparagraf 218
Einige Debatten in der Geschichte des Deutschen Bundestages waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Ein Streifzug durch die bedeutendsten Entscheidungen und Dispute der vergangenen Wahlperioden.
„Mein Bauch gehört mir!“ Mit dieser provozierenden Parole war die Frauenbewegung Anfang der siebziger Jahre in der Bundesrepublik angetreten, um die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch zu erreichen. Frauen sollten das Recht haben, sich ohne Strafandrohung gegen ein Kind entscheiden zu dürfen.
Am 6. Juni 1971 erschien das Magazin „Der Stern“ mit der Schlagzeile „Wir haben abgetrieben!“ und einem Titelbild, auf dem sich 28 Frauen mit ihrem Foto öffentlich zu einem Schwangerschaftsabbruch bekannten. Diese Aktion, initiiert von der Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, löste schließlich eine breite und emotional geführte gesellschaftliche Debatte über die Frage aus, ob und unter welchen Umständen eine Frau abtreiben darf.
Reform des Abtreibungsparagrafen polarisiert Gesellschaft
Seit 1871 stellte der Paragraf 218 des Strafgesetzbuches Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe. Angedroht wurden bis zu fünf Jahre Zuchthaus, mindestens aber sechs Monate Gefängnis. Als einzige Ausnahme von diesem Verbot ließ die Justiz seit 1927 Abtreibungen aus medizinischen Gründen zu.
Bemühungen von SPD und KPD, den Paragrafen in der Zeit der Weimarer Republik zu reformieren oder gar zu streichen, waren stets gescheitert. Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde der Abtreibungsparagraf 1949 fast unverändert in das Strafgesetzbuch der gerade gegründeten Bundesrepublik übernommen. Zwischenzeitliche Verschärfungen der Strafandrohung im „Dritten Reich“ hatten die Besatzungsmächte nach dem Krieg wieder aufgehoben.
Erst die sozialliberale Koalition, die sich nach dem Regierungswechsel 1972 unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen!“ diverse Reformvorhaben auf die Fahnen geschrieben hatte, plante im Rahmen einer breiten Strafrechtsreform auch eine Änderung des Paragrafen 218.
Indikationsregelung gegen Fristenmodell
Dieses Vorhaben rief jedoch heftige Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit hervor. Während die Befürworter der Reform das Persönlichkeitsrecht der Mutter in den Vordergrund stellten, betonten die Reformgegner, darunter vor allem die katholische Kirche, das uneingeschränkte Lebensrecht des Ungeborenen.
Auch der Bundestag zeigt sich tief gespalten: Die CDU/CSU-Fraktion favorisierte eine „Indikationsregelung“, die Abtreibungen an eine Reihe medizinischer und ethischer Voraussetzungen knüpfte. Die Koalitionsfraktionen SPD und FDP unterstützten dagegen mehrheitlich eine „Fristenregelung“, nach der ein Abbruch grundsätzlich bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei bleiben sollte.
Zähes Ringen um die „am wenigsten schlechte Lösung“
Es waren langwierigen Beratungen, zu denen die Abgeordneten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Bundestag zusammenkamen: Die Generaldebatte am 25. April 1974, in der insgesamt 27 Redner das Wort ergriffen, dauerte vom Morgen bis weit nach Mitternacht.
Erst am folgenden Tag, am 26. April, kam es nach der dritten Lesung zur Endabstimmung. Zwar beschworen Redner von Regierung und Opposition immer wieder Gemeinsames und bemühten sich um Sachlichkeit, doch waren die Divergenzen, die nicht immer entlang von Parteigrenzen verliefen, kaum zu überbrücken. Das Parlament zeigte sich in der Abtreibungsfrage tief gespalten.
„Mehr Eigenverantwortung und Gleichstellung der Frau“
Während Elfriede Eilers (SPD) die Fristenregelung als „entscheidenden Schritt hin zur Eigenverantwortung und sozialen Gleichstellung der Frauen“ bezeichnete, fürchtete Detlef Kleinert (FDP), „mit der Änderung der Strafnorm“ werde sich auch die „dahinter stehende ethische Norm ändern“.
Dennoch plädierte der Liberale dagegen, „ein offensichtlich unwirksames Gesetz“ aufrechtzuerhalten und damit in Kauf zu nehmen, dass die rechtspolitische Wirkung ad absurdum geführt wird, nur weil man meine, „man müsse das ethische Prinzip auf diese Weise erhalten“.
„Schwer erträglicher Restbestand sozialer Ungerechtigkeit“
Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) argumentierte ebenfalls, „Rechtsauftrag und soziale Wirklichkeit“ des seit gut hundert Jahre geltenden Paragrafen 218 hätten sich „auseinander entwickelt“. „Es gab viele dunkle Wege in die Illegalität, es gab viel Krankheit und Tod, die hätten vermieden werden können“, sagte Brandt.
Der geltende Abreibungsparagraf habe diese „Übelstände“ aber nicht verhindert. „Der Paragraf 218 ist in dem, was er real bewirkte, ein schwer erträglicher Restbestand sozialer Ungerechtigkeit des vorigen Jahrhunderts“, sagte Brandt im Hinblick darauf, dass es vor allem eher mittellose Frauen waren, die die Folgen unsachgemäßer Eingriffe zu tragen hatten.
„Bekenntnis zur Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens“
Paul Mikat (CDU/CSU) wies dagegen die „Fristenregelung“ scharf zurück: Seiner Meinung nach handelte es sich bei einem Embryo um „individuelles menschliches Leben“, das von Beginn seiner Existenz an und nicht erst ab dem dritten Monat zu schützen sei.
Mikat forderte vor dem Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus, in der sich die Deutschen „wie kein anderes Volk gegen das Leben“ versündigt hätten, ein „Bekenntnis zur grundsätzlichen Unverfügbarkeit menschlichen Lebens“.
Bundesverfassungsgericht weist Reform zurück
Schließlich stimmte der Bundestag am 26. April 1974 mit relativ knapper Mehrheit von 247 Ja-Stimmen zu 233 Nein-Stimmen bei Enthaltung von neun Abgeordneten für das von der Koalition favorisierte Fristenmodell.
Danach war der Abbruch einer Schwangerschaft in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten straffrei, wenn er von einem Arzt nach vorheriger Beratung vorgenommen wurde. Beschlossen war aber damit die Reform des Paragrafen 218 noch nicht, denn auch der unionsdominierte Bundesrat musste dem fünften Strafrechtsänderungsgesetz zustimmen – und dieser hatte bereits Einspruch angekündigt.
Eine einstweilige Verfügung Baden-Württembergs beim Bundesverfassungsgericht verhinderte so letztendlich das Inkrafttreten des Gesetzes. Im Februar 1975 erklärten die Karlsruher Richter die Fristenregelung für verfassungswidrig, weil sie der Verpflichtung aus Artikel 2 des Grundgesetzes, das werdende Leben auch gegenüber der Mutter wirksam zu schützen, „nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden ist“.
Vier Indikationen
Daraufhin verabschiedete der Bundestag schließlich am 12. Februar 1976 eine Reform des Abtreibungsparagrafen, die erneut den Schwangerschaftsabbruch verbot und eine Strafandrohung gegen die Mutter – und auch den behandelnden Arzt – enthielt.
Von einer Bestrafung sollte aber abgesehen werden, wenn die Schwangere in „besonderer Bedrängnis“ handelte, die über vier so genannte Indikationen definiert wurde: die medizinische, eugenische, kriminologische und soziale Indikation, die jedoch nicht der Arzt feststellen musste, der den Abbruch vornahm.
Rechtswidrig, aber straffrei
Einen letzten Höhepunkt erlebte die Abtreibungsdebatte nach der Wiedervereinigung. In der DDR hatte seit 1972 die Fristenlösung gegolten, nun war es notwendig, aus den Modellen in Ost und West ein gesamtdeutsches zu entwickeln.
Nach der heute gültigen Regelung ist ein Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig. Er bleibt aber straffrei, wenn er innerhalb der ersten drei Monate und nach einer Konfliktberatung durchgeführt wird. Nicht rechtswidrig ist eine Abtreibung ausdrücklich, wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt. (sas/14.08.2017)