Parlament

Knut Abraham: Es besteht die Gefahr eines erneuten Genozids in der Ukraine

Abgeordneter Knut Abraham, CDU, MdB.

Knut Abraham (CDU/CSU), Mitglied der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates (ERPV) (© picture alliance / dts-Agentur | -)

Aufgabe des Europarates ist es, die Menschenrechte jedes einzelnen Bürgers zu schützen, sagt Knut Abraham (CDU/CSU), Mitglied der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates (ERPV). Die Einladung von Wikileaks-Gründer Julian Assange zeige, dass der Europarat sich mit den Rechten aller beschäftige und diese ernst nehme. Vom 30. September bis 4. Oktober 2024 war die ERPV in Straßburg zu ihrer vierten Sitzungswoche zusammengekommen. 

Im Interview verweist Abraham zudem auf die Botschaft des Kreml-Kritikers Wladimir Kara-Mursa, mahnt, die in Russland rechtswidrig Gefangenen nicht zu vergessen, und spricht über seinen einstimmig von der Versammlung angenommen Bericht „Gedenken an den 90. Jahrestag des Holodomor Die Ukraine ist erneut von einem Völkermord bedroht“. Das Interview im Wortlaut:

Herr Abraham, auf Einladung der Versammlung hatte Wikileaks-Gründer Julian Assange den ersten öffentlichen Auftritt seit seiner Freilassung Ende Juni. Was für ein Signal sendet der Europarat damit? 

Der Europarat ist die älteste europäische Menschenrechtsinstitution. Mit 46 Mitgliedern umfasst er fast alle europäischen Demokratien, mit der Ausnahme des Kosovo. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, sich bei Menschenrechtsverletzungen direkt an das supranationale Gericht in Straßburg, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu wenden. Das ist einzigartig. Unsere Aufgabe in der Parlamentarischen Versammlung ist es, auf Menschenrechtsverletzungen in Staaten rechtzeitig hinzuweisen und die Menschenrechte jedes einzelnen Bürgers zu schützen. Es soll ein „Warnsignal“ für Demokratien sein. Mit der Einladung von Wikileaks-Gründer Julian Assange wird deutlich, dass der Europarat sich mit den Rechten aller beschäftigt und diese ernst nimmt. 

Auch der im August freigelassene Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa war nach Straßburg eingeladen. Ihm war 2022 in Abwesenheit der Václav-Havel-Menschenrechtspreis verliehen worden. Welche Botschaft hat er den Parlamentariern mitgebracht und was sind nun die drängendsten Aufgaben im Bereich der Menschenrechte?

Wladimir Kara-Mursa, der erst vor Kurzem durch einen Gefangenenaustausch freikam, hat die Bedeutung der Bemühungen für politische Gefangene betont: „Ich bin heute nur wegen Ihnen hier, wegen der anhaltenden Bemühungen guter Menschen in demokratischen Nationen… die sich als stärker erwiesen haben, als jede Diktatur je zu sein hoffen kann.“ Mehr als 20.000 Menschen wurden seit Februar 2022 in ganz Russland wegen Anti-Kriegs-Protesten von der Polizei festgenommen. Tausende wurden inhaftiert. Wir dürfen die mehr als 1.300 bekannten politischen Gefangenen in Putins Russland nicht vergessen. Seine Botschaft an uns: Um langfristige Sicherheit, Stabilität und Demokratie in Europa zu erreichen, braucht es ein demokratisches Russland. Es ist in unserem Interesse, sich dafür einzusetzen, so wie es einst der Dissident Vaclav Havel erfolgreich in seinem Land getan hat. 

Thema einer Dringlichkeitsdebatte war der Umgang Russlands mit ukrainischen Kriegsgefangenen. In einer eigenen Veranstaltung haben die Ukrainer dazu in der Sitzungswoche aktuelle Fakten vorgelegt, von Folter gegenüber Menschenrechtsaktivisten war die Rede. Die Parlamentarier haben einen Entschließungsantrag angenommen. Was sind darin die wichtigsten Punkte? 

Bis heute wurden insgesamt 65.956 Soldaten und Zivilisten! aus der Ukraine als vermisst oder gefangen genommen registriert. Russland foltert Kriegsgefangene und verschleppt Zivilisten, was einen unglaublichen Bruch des Völkerrechts darstellt. In diesem wichtigen Entschließungsantrag haben wir gefordert, dass alle, die sich in russischer Gefangenschaft befinden, im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht und den Menschenrechtsstandards behandelt werden. Wir werden uns so lange engagieren, bis der letzte Gefangene freigelassen wird. Zudem haben wir den „sofortigen und ungehinderten“ Zugang des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gefordert, damit Angehörige Informationen erhalten können. 

Als Berichterstatter haben Sie die als Holodomor in die Geschichte eingegangene Hungerkatastrophe untersucht, die in den 1930er Jahren Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern das Leben kostete. Eine Resolution des Bundestages aus dem Jahr 2022 bezeichnete den Holodomor in den Jahren 1932/33 bereits als Genozid am ukrainischen Volk. Welche neuen Erkenntnisse enthält Ihr Bericht und was sagen die Europarat-Parlamentarier? 

Mein neuer Bericht „Gedenken an den 90. Jahrestag des Holodomor Die Ukraine ist erneut von einem Völkermord bedroht“ wurde einstimmig in der Parlamentarischen Versammlung angenommen. Die neue Erkenntnis des Berichts ist, dass heute die Gefahr einer Wiederholung des Genozids in Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine besteht. Über 90 Jahre nach der von Stalin angeordneten Massenhungersnot sind Staaten laut VN-Völkermordkonvention von 1948 dazu verpflichtet, eine Wiederholung dieses Verbrechens zu verhindern. Die Parlamentarische Versammlung ruft deshalb alle Regierungen auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das ukrainische Volk bei der Abwehr des anhaltenden völkermörderischen Angriffs auf sein Land zu unterstützen.

Das Thema Migration sorgt in Gesellschaft und Politik für teils heftige Diskussionen. Mit Julian Pahlke (Bündnis 90/Die Grünen) hat ein weiteres Delegations-Mitglied zu diesem Thema einen Bericht vorgelegt. Kann die Befassung des Europarates mit dem Thema Migration helfen, die Diskussion zu versachlichen und dazu beitragen, sich grundlegender Werte zu vergewissern? 

Mit dem Bericht meines Kollegen Pahlke fordern wir die Klärung des Schicksals von vermissten Migranten und die systematische Registrierung unbegleiteter Kinder. Das ist gut. Doch das wird leider nicht reichen, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Wir müssen selbstkritisch feststellen, dass die tödlichste Grenze der Welt heute die EU-Außengrenze ist. Allein im letzten Jahr sind auf dem Weg von Afrika nach Spanien und Italien 3.900 Menschen ertrunken. Um das zu stoppen, brauchen wir eine humane, menschenrechtskonforme Migrationspolitik, die Kontrolle an den Außengrenzen herstellt, illegale Migration reduziert und dafür mehr legale Wege für Migration ermöglicht. Abkommen mit sicheren Drittstaaten wären ein Weg, dieses Ziel zu erreichen. 

Wie geht es eigentlich weiter mit Aserbaidschan? Dort soll im November die nächste Weltklimakonferenz stattfinden. Wegen mangelndem Willen zur Zusammenarbeit mit der PVER hatte die Versammlung das Land für ein Jahr ausgeschlossen. Nun gab es dazu eine Dringlichkeitsdebatte…

Der Europarat hat Regeln und Werte, an die sich jedes Mitgliedsland halten muss. Im Januar kam es zum Ausschluss der aserbaidschanischen Delegation. Dies wurde damit begründet, dass die Regierung jede Kooperation mit den Berichterstattern der Parlamentarischen Versammlung sowie mit der Wahlbeobachtungsmission verweigert habe. Dazu aber ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet. Nicht nur Aserbaidschan. Das ist insofern keine Einzelfallbehandlung. 

Es stehen noch weitere Vorwürfe im Raum…

Zudem gibt es ernstzunehmende Vorwürfe, dass es in Aserbaidschan politische Gefangene gebe. Ich bin auch darauf hingewiesen worden, dass der letzte Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT) sogar von Folter spricht. Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe. Ich nehme das sehr ernst und ich möchte mich auch als Mitglied der Deutsch-Südkaukasischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages genauer damit und mit der Zukunft der Beziehungen zu dem Land befassen. Dabei wird es sehr ernsthafte und schwierige Gespräche geben müssen. (ll/09.10.2024)