Gesundheitsexperten befürworten eine effektivere Notfallversorgung, sehen die von der Koalition geplante Reform aber teilweise kritisch. So bezweifeln einige Experten die Effizienz der Neustrukturierung und damit auch die erhoffte Einsparung in Milliardenhöhe, wie eine Anhörung des Gesundheitsausschusses über den Gesetzentwurf der Bundesregierung (20/13166) gezeigt hat. Die Sachverständigen äußerten sich in der Anhörung am Mittwoch, 6. November 2024, sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Synchronisierung mit anderen Gesetzen
Nach Ansicht des AOK-Bundesverbandes muss die Notfallreform im Zusammenspiel mit anderen Gesetzgebungen, etwa der Krankenhausreform oder dem Gesundes-Herz-Gesetz, umgesetzt werden. Damit die Notfallreform erfolgreich werde, müsse die notdienstliche Akutversorgung ambulant auch wirklich zu stemmen sein. Dazu müssten Versorgungsaufträge der Vertragsärzte geschärft und die Teilnahme an der Akutversorgung verbindlich gestaltet werden. Bei der Festlegung von Standorten für die Integrierten Notfallzentren (INZ) sollten bundeseinheitliche Vorgaben gemacht werden.
Wenig optimistisch äußerte sich die AOK zu den Einsparzielen. Die hohen Einsparpotenziale von bis zu einer Milliarde Euro jährlich seien „nicht seriös beziffert“. Um Einsparungen zu erreichen, sei eine Synchronisierung mit der Krankenhausreform unerlässlich. Es müssten Überkapazitäten abgebaut und sektorübergreifende Lösungen geschaffen werden.
Notfallreform für Hilfe bei psychischen Krisen
Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) machte deutlich, dass sich die Notfallreform auch auf Hilfe bei psychischen Krisen erstrecken müsse. Wenn Menschen mit psychischen Erkrankungen oder akuter psychischer Symptomatik eine Notfallambulanz aufsuchten, blieben sie zu häufig unversorgt oder würden fehlversorgt.
Damit der Versorgungsbedarf qualifiziert ermittelt werden könne, müssten die INZ über fachliche Expertise verfügen oder sie durch verbindliche Kooperationen mit vertragsärztlichen Leistungserbringern sicherstellen. Dazu seien Konkretisierungen im Gesetzentwurf erforderlich.
Bürokratische Eingriffe in ärztliche Freiberuflichkeit
Nachbesserungen fordert auch der Spitzenverband der Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands (Spifa). Die ökonomischen Fehlanreize in der Notfallversorgung könnten durch die vorgeschlagenen Regelungen nicht konsequent beseitigt werden. In der Folge seien die Wirtschaftlichkeitsreserven in der Größenordnung eines mittleren Milliardenbetrags jährlich nicht zu heben. Die beteiligten Versorgungsbereiche müssten besser miteinander verzahnt werden.
Die Mediziner warnten zudem vor bürokratischen Eingriffen in die ärztliche Freiberuflichkeit. Es sei unhaltbar, wenn von Ärzten, die im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst tätig seien, für jeden Einsatz ein Befreiungsantrag bei der Deutschen Rentenversicherung verlangt werde. Es drohe bei nicht oder falsch gestellten Anträgen eine Doppelverbeitragung.
Gefahrenabwehr der Länder
Der Deutsche Landkreistag (DLT) und das Deutsche Rote Kreuz (DRK) kritisierten die geplante Einbeziehung des Rettungsdienstes als eigenen Leistungsbereich im Sozialgesetzbuch V (SGB V) und warnten davor, in funktionierende Strukturen einzugreifen. DLT und DRK trügen als Träger des Rettungsdienstes, der Rettungsleitstellen, über eigene Krankenhäuser und bei der Gefahrenabwehr eine zentrale Verantwortung.
Der Rettungsdienst sei ein wertvoller Teil der Gefahrenabwehr der Länder und kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge. Ein Verfahren ohne echte Mitwirkung der maßgeblichen Akteure sei abzulehnen. Zentrale Regelungen basierten oft auf Fehlannahmen zur rechtlichen, finanziellen und der tatsächlichen Situation. Dem Bund fehle es an Zuständigkeit zur Regelung des Rettungsdienstes im SGB V. Der Rettungsdienst sei rechtlich Teil der in der Landesverantwortung stehenden Gefahrenabwehr.
Einbeziehung des Rettungsdienstes
Die Bundesärztekammer (BÄK) würdigte, dass keine völlig neuen Strukturen geschaffen würden, sondern auf die bestehenden Strukturen der Leitstellen und Notdienstpraxen aufgesetzt werde. Zwingende Voraussetzung für die Reform sei jedoch die Schaffung ausreichender Kapazitäten. Ambulant tätige Ärzte könnten die Notaufnahmen und den Rettungsdienst nicht entlasten, wenn es keine freien Kapazitäten für die Versorgung von Akutfällen gebe.
Unklar sei, wie die Notfallreform mit der Reform der Krankenhausfinanzierung abgestimmt werden solle. Für die Festlegung der INZ-Standorte brauche es eine konsistente Planung. Es sei überdies bedauerlich, dass der Rettungsdienst nicht direkt in den Gesetzentwurf eingebunden werde. Eine Notfallreform könne nur unter Einbeziehung des Rettungsdienstes nachhaltig gelingen. Es wäre sinnvoll gewesen, die Regelungen in den Gesetzentwurf zu integrieren, statt sie in das parlamentarische Verfahren zu verschieben.
Mehr Kompetenzen für Notfallsanitäter
Der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst (DBRD) forderte wie andere Verbände eine bessere Verzahnung von ambulantem Sektor, Rettungsdienst und stationärem Sektor. Für die Schnittstelle des Rettungsdienstes zu den INZ/Notfallaufnahmen müssten zeitliche Vorgaben zur Gestaltung der Übergabe geschaffen werden. Diese könnten entsprechend der Dringlichkeit des Notfalls gestaffelt werden, dürften aber 30 Minuten nicht übersteigen.
Der Verband forderte außerdem mehr Kompetenzen für Notfallsanitäter. Diesen sollte eine Heilkundebefugnis für Nichtnotfälle zur allabschließenden Beurteilung ermöglicht werden. Notfallsanitäter seien regelmäßig mit Hilfeersuchen niederer Dringlichkeit konfrontiert.
Sachverständige warnen vor Flickenteppich
In der Anhörung ging es in vielen Fragen um die technische Umsetzung der Reform, die geplanten Zuständigkeiten und Abläufe. Verschiedene Sachverständige ließen dabei durchblicken, dass die Notfallversorgung ausgesprochen komplex ist, bis hin zur hochspezialisierten Luftrettung, und viele Details bedacht werden müssen, um Verbesserungen zu erreichen. Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis nannte die Reform elementar, um Ressourcen besser zu nutzen. Dazu brauche es verbindliche Regelungen und einheitliche Qualitätsvorgaben sowie die nötige technische Ausstattung. Das alles müsse außerdem auskömmlich finanziert sein, gab der Mediziner zu bedenken.
Auch andere Sachverständige warnten vor einem Flickenteppich an Regelungen und vor falschen Erwartungen an die Bevölkerung. Andreas Gassen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sagte, es müsse in einer Ersteinschätzung klar definiert werden, was ist ein Akutfall sei, der nicht warten könne. Die Bevölkerung dürfe nicht das Signal erhalten, dass es künftig zusätzliche Stellen für die Versorgung gebe, wenn es in den Praxen mal zu lange dauere. Vielmehr müsse geklärt werden, welche Behandlungsnotwendigkeiten in welcher Ebene zu welchem Zeitpunkt erforderlich seien, und das bundesweit verbindlich und qualitätsgesichert.
Gesetzentwurf zur Notfallversorgung
Mit einer Reform der Notfallversorgung soll den Patienten künftig effektiver geholfen werden. Deutschland verfüge zwar über ein umfassend ausgebautes System der Akut- und Notfallversorgung einschließlich eines gut etablierten Rettungswesens. Die drei Versorgungsbereiche – vertragsärztlicher Notdienst, Notaufnahmen der Krankenhäuser und Rettungsdienste – müssten jedoch besser aufeinander abgestimmt und vernetzt werden, heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Es gebe Defizite bei der effizienten Steuerung von Hilfesuchenden in die richtige Versorgungsebene. Zudem stünden den Patienten zwei unterschiedliche telefonische Anlaufstellen zur Verfügung: die Rufnummer 116117 der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und die Notrufnummer 112 der Rettungsleitstellen. Dies führe zu einer Fehlsteuerung und damit zu einer Überlastung in den Notaufnahmen und beim Rettungsdienst.
Vermittlung durch Akutleitstellen
Akute Fälle sollen künftig nicht mehr von den Terminservicestellen vermittelt werden, sondern ebenfalls unter der Rufnummer 116117 von sogenannten Akutleitstellen. Deren Vernetzung mit den Rettungsleitstellen soll eine bessere Patientensteuerung bewirken. Die Akutleitstellen sollen die Behandlungsdringlichkeit anhand eines standardisierten Ersteinschätzungsverfahrens beurteilen und Patienten in die passende Behandlung vermitteln.
Die Rufnummern 112 und 116117 sollen digital vernetzt werden, um Patientendaten einfach übermitteln zu können. Zudem sollen unter der Nummer 116117 für Akutfälle flächendeckend und rund um die Uhr telemedizinische und aufsuchende Notdienste zur medizinischen Erstversorgung zur Verfügung stehen. Insbesondere das Angebot einer durchgehend verfügbaren auch kinder- und jugendmedizinischen Telemedizin könne andere Notfallstrukturen entlasten und Versorgungslücken schließen. Vom aufsuchenden und telemedizinischen Dienst sollen vor allem immobile Patienten profitieren.
Einrichtung integrierter Notfallzentren
Für Notfälle werden außerdem Integrierte Notfallzentren (INZ) flächendeckend eingerichtet. Sie sollen rund um die Uhr zentrale Anlaufstelle für die medizinische Erstversorgung sein. Die INZ bestehen aus der Notaufnahme eines Krankenhauses, einer Notdienstpraxis der KVen und einer zentralen Ersteinschätzungsstelle, die digital miteinander vernetzt sind. Wesentliches Element des INZ wird die Ersteinschätzungsstelle. Hier sollen Patienten mit Hilfe eines standardisierten Verfahrens in die passende Versorgung vermittelt werden, entweder in die Notdienstpraxis oder in die Notaufnahme des Krankenhauses.
Notdienstpraxen müssen Mindestöffnungszeiten einhalten, auch abends und am Wochenende. Die ambulante Akutversorgung soll, wenn die Notdienstpraxis nicht geöffnet hat, durch sogenannte Kooperationspraxen in der Nähe abgedeckt werden. Wenn weder die Notdienstpraxis noch die Kooperationspraxis geöffnet haben, werden Patienten in die Akut- und Notfallversorgung des Krankenhauses vermittelt.
Zur Akutversorgung von Kindern und Jugendlichen können auch Integrierte Notfallzentren für Kinder und Jugendliche (KINZ) eingerichtet werden. INZ müssen außerdem zumindest eine telemedizinische Unterstützung durch Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin gewährleisten. Die Standorte für INZ werden von der Selbstverwaltung aufgrund gesetzlicher Vorgaben im sogenannten erweiterten Landesausschuss bestimmt. Die Versorgung von Patienten in Notdienstpraxen mit Arzneimitteln und Medizinprodukten soll durch die Einführung von Versorgungsverträgen mit öffentlichen Apotheken verbessert werden.
Gesetzentwurf der AfD
Außer mit der geplanten Notfallreform beschäftigte sich der Ausschuss mit einem Gesetzentwurf der AfD-Fraktion zur Steigerung der Blutspendenbereitschaft der Bevölkerung (20/10373). Darin fordert die Fraktion Initiativen zur Steigerung der Blutspendenbereitschaft. Täglich würden rund 15.000 Blutspenden für Operationen, die Behandlung schwerer Krankheiten und zur Versorgung von Unfallopfern benötigt. Dabei spendeten lediglich zwei Millionen Menschen regelmäßig Blut. Dies entspreche einem Anteil von nur etwa 2,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung.
Um der niedrigen Spendenbereitschaft entgegenzuwirken, fordern die Abgeordneten, in Paragraf 10 des Transfusionsgesetzes einen Mindestbetrag von 75 Euro für die Aufwandsentschädigung der Blutspender festzulegen. Bei einer Beibehaltung der jetzigen Rechtslage würde sich die Abhängigkeit Deutschlands von ausländischen Importen verfestigen. (pk/06.11.2024)