Gesundheitsexperten begrüßen im Grundsatz den Gesetzentwurf zur Reform der ambulanten medizinischen Versorgung, sehen aber den Bedarf für weitergehende Regelungen. Mit dem vorliegenden Entwurf für ein Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG, 20/11853, 20/12664) würden Chancen für nachhaltige strukturelle Veränderungen nicht genutzt, kritisierten Sachverständige in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses über den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Die Experten äußerten sich in der Anhörung am Mittwoch, 13. November 2024, sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Entbudgetierung für Hausärzte
Der Hausärzteverband wies in der Anhörung auf die Notwendigkeit hin, die Budgetierung für Hausärzte aufzuheben. Die Lage sei prekär und dringlich. Viele Hausärzte seien schon älter und würden nicht noch jahrelang auf bessere Arbeitsbedingungen warten, sondern notfalls früher in den Ruhestand gehen. Die jetzigen Bedingungen seien zudem für die jüngere Generation abschreckend. Ohne die im Entwurf vorgesehene Entbudgetierung drohte die Versorgung insbesondere in ohnehin unterversorgten Gebieten noch schlechter zu werden.
Die Bundesärztekammer (BÄK) erklärte, das Kernstück vormaliger Entwürfe – eine strukturelle Weiterentwicklung der ambulanten Versorgungslandschaft – sei im aktuellen Entwurf nicht mehr enthalten. Das Anliegen, die hausärztliche Versorgung zu stärken, werde unterstützt. Angesichts des spürbaren Mangels an Hausärzten sei es maßgeblich, dass Versorgungsleistungen nicht durch Budgets begrenzt würden. Zudem sollten Hausärzte so lange wie möglich und flächendeckend in der Versorgung gehalten werden. Die Regelungen müssen jedoch so ausgestaltet werden, dass sie nicht auf eine bloße Umverteilung finanzieller Mittel hinausliefen. Dazu müsse der gesetzliche Rahmen angepasst werden. In einem nächsten Schritt müsse die Entbudgetierung auf die fachärztliche Versorgung ausgeweitet werden.
Auf Honorarfragen ging auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ein. Die Entbudgetierung der hausärztlichen Vergütung sei unabdingbar, jedoch berge die Neuregelung die Gefahr erheblicher Honorarumverteilungen mit riskanten und kaum kalkulierbaren Auswirkungen auf die Versorgung. Um das zu vermeiden, müssten die Änderungen angepasst und sorgfältig entwickelt und kalkuliert werden.
Psychotherapeutische Versorgung
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) würdigte die Intention, die Gesundheitsversorgung stärker an den Bedürfnissen der Patienten auszurichten und den kommunalen Bedarf zu berücksichtigen. Der jetzige Entwurf umfasse hinsichtlich der psychischen Gesundheit der Bevölkerung jedoch nur einen Bruchteil dessen, was im Koalitionsvertrag angekündigt war. Neben der geplanten gesonderten Bedarfsplanung für Kinder und Jugendliche müsse die Wartezeiten-Situation von Erwachsenen in den Blick genommen werden.
Um die psychotherapeutische Versorgung langfristig sichern zu können, müsse außerdem die Finanzierung der psychotherapeutischen Weiterbildung solide geregelt werden. Auf diesen kritischen Punkt gingen in der Anhörung auch andere Sachverständige ein und forderten schnelle Lösungen, um einen Versorgungsengpass zu verhindern.
Innovative Ansätze vermisst
Auch nach Ansicht des BKK-Dachverbandes erfüllt der Gesetzentwurf nicht die darin gesetzten, hohen Erwartungen. Es fehlten grundlegende innovative Ansätze zur Verbesserung der Versorgung sowie eine angemessene Vernetzung mit kommunalen Angeboten. Der Entwurf biete keine Lösungen für die drängenden Probleme im Gesundheitswesen einer alternden Gesellschaft. Die Regelungen versprächen keine bessere Versorgung, insbesondere nicht in unterversorgten Regionen.
Um den Arztberuf attraktiver zu gestalten, bedürfe es vielmehr besserer Arbeitsbedingungen und einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es bedürfe einer verstärkten interdisziplinären Zusammenarbeit und eines besseren Zugangs zur ambulanten Versorgung.
Kritik an „abgeschwächtem Entwurf“
Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen (DGIV) sprach von einem stark abgeschwächten Entwurf. Viele zentrale Aspekte, die ursprünglich als innovative Versorgungskonzepte vorgesehen waren, seien entfallen.
Besonders bedauerlich sei die Streichung zukunftsweisender Ansätze wie der Gesundheitsregionen, primären Versorgungszentren und Gesundheitskioske. Die ursprüngliche Idee einer intersektoralen Versorgung aus früheren Entwürfen des Gesetzes wäre wegweisend gewesen. Die Streichung dieser Elemente sei ein Rückschritt und eine verpasste Chance.
Unstrittige Regelungen zeitnah umsetzen
Der Einzelsachverständige Prof Dr. Ferdinand Gerlach von der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main machte in der Anhörung mit Blick auf die zerbrochene Ampel-Koalition deutlich, dass eine Verabschiedung des Gesetzentwurfes dringlich sei. Die mit dem Gesetzentwurf geplanten Neuregelungen in der hausärztlichen Versorgung seien überfällig. Jeden Tag schlössen Hausarztpraxen. Die Patienten wendeten sich dann an Nachbarpraxen und stellten dort fest, dass die schon überlaufen sind und keine neuen Patienten aufnehmen.
Derweil sei die Stimmung in den Praxisteams schlecht. Wenn jetzt jahrelang verschleppte Reformen, die weitgehend unumstritten seien, weiter aufgeschoben würden, vergrößerten sich die Probleme. Ein kompletter Neustart würde bedeuten, dass die angestrebten Regelungen erst 2026 umgesetzt werden könnten. Gerlach forderte die Abgeordneten auf, zumindest unstrittige Regelungen noch zeitnah umsetzen.
Zu der Anhörung waren mehr als 80 Fachverbände und Einzelsachverständige geladen, die sich nicht nur zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung äußerten, sondern auch zu Änderungsanträgen der Koalitionsfraktionen sowie zu diversen Anträgen der Opposition.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Die Bundesregierung will mit einer Reform der ambulanten medizinischen Versorgung das Angebot für die Patienten verbessern und Ärzte entlasten. Ihr Gesetzentwurf (20/11853) sieht unter anderem eine Entbudgetierung für Hausärzte vor. Die Leistungen der allgemeinen hausärztlichen Versorgung werden von mengenbegrenzenden und honorarmindernden Vorgaben ausgenommen, wie es in der Vorlage heißt.
Neu eingeführt wird eine Versorgungspauschale zur Behandlung chronisch kranker Patienten, die künftig nicht mehr jedes Quartal einbestellt werden müssen. Mit einer Vorhaltepauschale für die Wahrnehmung eines hausärztlichen Versorgungsauftrags sollen zum Beispiel viele Haus- oder Heimbesuche besonders honoriert werden.
Entlastung von Bürokratie
Über die Festlegung einer Geringfügigkeitsgrenze bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen sollen Mediziner von Bürokratie entlastet und von Arzneimittelregressen verschont werden. Die Gründung kommunaler medizinischer Versorgungszentren (MVZ) soll erleichtert werden. Dazu können für die Zulassung eines MVZ in der Rechtsform einer GmbH die Sicherheitsleistungen in der Höhe begrenzt werden.
Ferner soll die ambulante Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen verbessert und vereinfacht werden. So werden die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen beim Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung durch eine separate Bedarfsplanung berücksichtigt. Außerdem werden zusätzliche psychotherapeutische und psychiatrische Versorgungsaufträge für vulnerable Patientengruppen geschaffen. Schwer kranke oder behinderte Patienten sollen einen besseren Zugang zu notwendigen Hilfsmitteln bekommen. Dazu sollen die Bewilligungsverfahren beschleunigt werden.
Weitere Regelungen betreffen die Mitbestimmung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Im G-BA soll den Organisationen der Pflegeberufe ein Antrags- und Mitberatungsrecht bei Richtlinien und Beschlüssen über die Qualitätssicherung und weitere Aufgabenbereiche zugestanden werden.
Stellungnahme des Bundesrates
Der Bundesrat verspricht sich von dem Gesetzentwurf ein besseres Angebot insbesondere in strukturschwachen Regionen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels plädiert die Länderkammer in ihrer Stellungnahme (20/12664) für neue Versorgungsformen und mehr Rechte der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) für die Versorgungssteuerung.
Die Altersstruktur der Vertragsärzte lasse in naher Zukunft Versorgungsengpässe erwarten. Es sei daher dringend geboten, den KVen Rechte zur Versorgungssteuerung an die Hand zu geben. So sollten die KVen Initiativrechte erhalten, die es ihnen ermöglichen, Ermächtigungen und Sonderbedarfszulassungen anhand von Versorgungsgesichtspunkten auszuschreiben.
Der Bundesrat fordert in den Regionen zudem die Einrichtung von „Gesundheitskiosken“. In Regionen und Stadtteilen mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Personen und in strukturell benachteiligten Regionen könnten niedrigschwellige Beratungsangebote für Behandlung und Prävention etabliert werden, heißt es in der Stellungnahme. Diese Gesundheitskioske würden von Kommunen und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unter Beteiligung der Privaten Krankenversicherung (PKV) errichtet. Dabei solle das Initiativrecht bei den Kommunen liegen.
Primärversorgungszentren vorgeschlagen
Die Länder schlagen außerdem „Primärversorgungszentren“ für eine medizinische Grundversorgung vor. Die demografische Entwicklung führe zu einer Zunahme älterer und multimorbider Patienten, sodass sich die Anforderungen an die medizinische Grundversorgung wandelten, heißt es zur Begründung. Erforderlich sei daher ein sektorenübergreifender Ansatz, der auch die Verbindung zur sozialen Beratung und Unterstützung herstelle.
Der Bundesrat macht sich ferner für die Bildung sogenannter Gesundheitsregionen stark. Landesverbände der Krankenkassen und Ersatzkassen könnten mit Kreisen oder kreisfreien Städten und KVen Verträge schließen mit dem Ziel, eine bedarfsorientierte, regionale, sektorenübergreifende Versorgung sicherzustellen. Die Bundesregierung sagt laut Vorlage zu, die Vorschläge zu prüfen. (pk/13.11.2024)