1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Ortskräfteverfahren hat funktioniert

Am Flugfeld sichern und begleiten die Fallschirmjäger den Abflug der Zivilisten im Rahmen des Evakuierungseinsatzes auf dem Flughafengelände Kabul/Afghanistan, am 23.08.2021.

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss setzte seine Zeugenbefragungen fort. (© Bundeswehr/Einsatzkameratrupp)

Ein Zeuge aus dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat am Donnerstag, 13. Juni 2024, vor dem 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) die Gründe erläutert, warum sein Ministerium Änderungswünschen am Ortskräfteverfahren (OKV) stets zögerlich begegnet sei. Vor allem habe das Bundesinnenministerium (BMI) einen Übergang von Einzelprüfungen der Gefährdungsanzeigen zur Pauschalaufnahme der Ortskräfte aus migrationspolitischen aber auch Sicherheitsgründen nicht gewünscht.

Aufnahme aus politischem Interesse

Ulrich Weinbrenner, Abteilungsleiter für Migration, Flüchtlinge und Rückkehrpolitik im BMI, schilderte vor dem Ausschuss Zahlen zu afghanischen Staatsangehörigen in Deutschland. Demnach habe sich die Zahl der einreisenden Afghanen innerhalb kürzester Zeit fast verdoppelt. Demgegenüber habe es Rückführungen in einem sehr begrenzten Umfang gegeben, obwohl mehrere Tausend ausreisepflichtige Afghanen sich in Deutschland aufhielten. 

Das OKV sei 2013 vereinbart worden. Gesetzliche Grundlage sei Paragraf 22 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes gewesen, wonach eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn die Aufnahme aus politischem Interesse erklärt wird. Laut Weinbrenner kam Paragraf 22 für Afghanen infrage, die individuell besonders gefährdet gewesen seien. Bis 2021 habe das Auswärtige Amt (AA) 50 Prozent der Anträge abgelehnt. „Das zeigt, dass da durchaus eine Prüfung stattgefunden hat“, sagte Weinbrenner.

Verfahren ohne vorherige Sicherheitsüberprüfung

Ab 2020 habe das AA angefragt, ob das Verfahren ohne vorherige Sicherheitsüberprüfung im Ausland („Visa on arrival“) stattfinden kann, weil die Botschaft in Kabul seit einem Anschlag im Jahr 2017 keine Kapazitäten für die Visabearbeitung mehr gehabt habe. Das BMI habe sich bis zum Ende dagegen ausgesprochen, so der Zeuge, weil dann auf eine Abfrage bei den Sicherheitsbehörden verzichtet werden müsste. Das habe für die Sicherheit zuständige BMI nicht akzeptieren können. Ein Umstand, den bisher mehrere Zeugen vor dem Ausschuss kritisierten. 

Bei „Visa on arrival“ würden die Pässe und Dokumente am Flughafen von der Bundespolizei kontrolliert, aber das sei ein enormer Unterschied. Es habe viele Fälle gegeben, wo die Personen Straftaten begangen hätten, betonte der Zeuge, „da fragte man sich, wie sie denn nach Deutschland gekommen sind“. Man habe sie in der Datenbank gehabt, führte er aus. Hätte man sie vorher geprüft, wären sie nicht reingekommen. Letztlich sei die Eröffnung eines Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Kabul die Lösung gewesen, wo die Anträge nach dem Abzug der Truppen entgegengenommen und bearbeitet werden sollten.

Keine pauschalen Aufnahmen 

Auf die Frage eines Abgeordneten, ob der Zeuge wisse, dass die anderen Ressorts das BMI deshalb als „Bremser“ empfunden hätten, antwortete Weinbrenner: „Ja, das kann ich mir vorstellen.“ Er wies aber darauf hin, dass sie, aus ihrer Sicht, „alle möglichen Änderungen begrüßt und mitgetragen“ hätten. Weinbrenner fügte hinzu, dass die Hausleitung diese Linie mitgetragen habe. „Wir haben uns Bestätigung für unsere Linie geholt“ sagte er. Durch den Jour fixe mit dem Staatssekretär hätten sie stets das Gefühl gehabt, dass sie sehr nah an der Linie der Hausleitung gewesen seien: „Wir mussten keine Überzeugungsarbeit leisten.“

Bis zum Sommer 2021 sei man davon ausgegangen, dass Ressorts individuelle Prüfungen gewährleisten könnten. Auch als im April das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) angefragt habe, den Berechtigtenkreis für das OKV zu erweitern, hätten sie abgelehnt. „Für uns war wichtig von pauschalen Aufnahmen abzusehen auch aus migrationspolitischen Gründen“, sagte Weinbrenner, aber auch deshalb, weil die Beschäftigung der Ortskräfte „mehrere Jahre zurücklag und daher eine Sicherheitsprüfung schwierig war.“ Man habe Präzedenzfälle vermeiden wollen. Das habe auch für das AA eine große Rolle gespielt.

Nach intensiven Diskussionen sei aber im Juni 2021 zunächst für die Ortskräfte der Bundeswehr ein angepasstes Ortskräfteverfahren vereinbart worden, berichtete der Zeuge. Ausschlaggebend sei gewesen, dass die Bundeswehr gegen Ende Juni 2021 aus Afghanistan abgezogen werden würde und danach keine Möglichkeit gehabt hätte, die Gefährdungsanzeigen vor Ort zu prüfen. Weinbrenner erklärte, dass er die Meinung teile, dass das OKV nicht für Afghanistan gemacht sei. Es habe aber funktioniert.

Erweiterung des Berechtigtenkreises

Die Zeugenvernehmung wurde mit der Befragung einer ehemaligen Abteilungsleiterin beim BMI und eines Gruppenleiters beim Bundeskanzleramt fortgesetzt. Sie konzentrierte sich hauptsächlich auf die Frage der Evakuierung der Ortskräfte und die Fehleinschätzungen des Bundesnachrichtendienstes (BND). Zunächst sagte Dagmar Busch aus. Sie leitete im Untersuchungszeitraum die Abteilung im BMI, die für das Polizeiprojekt in Afghanistan und im BMI für das Ortskräfteverfahren zuständig war.

Busch berichtete wie das BMVg darauf gedrungen habe, den Berechtigtenkreis des OKV zu erweitern, in dem nicht nur die Mitarbeiter seit 2019 berücksichtigt werden sollten, sondern alle, die nach 2013 für deutsche Institutionen tätig gewesen sind. Das BMI habe dies abgelehnt, denn dadurch wären auch Personen antragsberechtigt gewesen, die schon früher eine Gefährdungsanzeige gestellt hatten und abgelehnt worden waren. Erst nachdem auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sich für eine Erweiterung aussprach, habe der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer nachgegeben. 

„BND hat Lage vor Ort falsch eingeschätzt“

Das BMI habe auch das Anliegen des AA stets zurückgewiesen, das Verfahren „Visa on arrival“ einzuführen, weil dadurch keine individuelle Sicherheitsprüfung im Ausland mehr möglich gewesen wäre, führte Busch aus. Deshalb sei man erst am 15. August, also am Tag der Eroberung Kabuls durch die Taliban, zum „Visa on arrival“-Verfahren übergegangen, als „Ultima Ratio“. Das Gesetz erlaube dieses Verfahren nur in Einzelfällen.

Dagmar Busch vertrat die Ansicht, der BND habe die Lage vor Ort falsch eingeschätzt. Aufgrund der Informationen des BND hätten alle Ressorts geglaubt, sie hätten für eine Evakuierung der Ortskräfte Zeit mindestens bis zum 11. September gehabt.

Fehleranalyse nach Fehleinschätzung

Auch der Gruppenleiter im Bundeskanzleramt, der für die Dienstaufsicht über den BND zuständig ist und direkt nach Busch vernommen wurde, bestätigte, dass der BND sich geirrt habe. „Grundsätzlich habe ich sehr großes Vertrauen in die Berichterstattung des BND“, sagte der Zeuge. Der BND habe jahrelang sehr realistische Analysen geliefert. Der Punkt sei jedoch, warum „in der konkreten Dynamik dieser Tage“ der Gesandte des AA eine andere Einschätzung hatte und damit recht behalten habe, der BND aber nicht: „Hatte er andere Gesprächspartner? Dieser Frage musste nachgegangen werden.“

Deshalb habe er gleich nach dem chaotischen Wochenende den Abteilungsleiter des BND zum Kanzleramt zitiert und ihn um eine Fehleranalyse gebeten. Das sei seine Pflicht gewesen als Dienstaufsicht, aber der BND habe diese Aufforderung eigentlich nicht gebraucht. Denn zu diesem Zeitpunkt hätten diejenigen, die sich mit dem Thema beschäftigten, bereits angefangen, sich selbst zu fragen, warum sie diese zeitliche Dynamik nicht gesehen hätten. 

Es habe eine Fehleranalyse gegeben, so der Zeuge. „Im Rückblick hätte der BND sich mit Partnern vor Ort zusammensetzen müssen“, sagte der Beamte. Er wies zugleich darauf hin, dass sich alle internationalen Partner auch geirrt hätten.

 

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/17.06.2023)

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