Minister Özdemirs Ernährungsstrategie stößt auf Widerspruch
Auf Widerspruch der Opposition, aber auch der FDP ist die Ernährungsstrategie der Bundesregierung „Gutes Essen für Deutschland“ (20/10001) gestoßen, die der Bundestag am Donnerstag, 11. April 2024, erstmals beraten hat. Die Vorlage wurde im Anschluss zur weiteren Beratung an den federführenden Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft überwiesen.
Minister: Essen entscheidet über Lebenschancen
Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) betonte eingangs, dass in Deutschland die Bürgerinnen und Bürger selber entscheiden, was sie essen. Es sollten aber alle eine „faire Chance“ erhalten, gesund aufzuwachsen und gesund alt zu werden, denn Essen entscheide über die Lebenschancen, unabhängig von Herkunft, Wohnort und dem Geldbeutel der Eltern. Diesem Ziel diene die Ernährungsstrategie.
In Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung äßen täglich 17 Millionen Menschen, darunter sechs Millionen Kinder und Jugendliche, sagte der Minister. Es sei eine Riesenchance, die Wertschöpfung der einheimischen Landwirtschaft zu stärken und dabei auch Klima und Artenvielfalt zu schützen.
„Rückenwind durch Bürgerrat-Empfehlungen“
Die Strategie umfasse die Förderung nachhaltiger Ernährungsumgebungen, gutes Schul- und Kitaessen, verbindliche Qualitätsstandards, ein gesünderes Angebot durch weniger Zucker, Salz und ungesunde Fette in Fertiggerichten, ein nachhaltigeres Angebot durch Erhöhung des Bioanteils in der Gemeinschaftsverpflegung, die Förderung innovativer, pflanzlicher Proteinprodukte und die Forschung zur Ernährungssituation in armutsgefährdeten Haushalten.
„Rückenwind“ verspricht sich Özdemir durch die Empfehlungen des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“. Die Ernährung in Deutschland wandele sich, viele äßen weniger Fleisch. Der Minister rief dazu auf, diese Veränderungen als Chance zu begreifen.
CDU/CSU: Bevormundung statt Liberalität
Steffen Bilger (CDU/CSU) kritisierte das Timing des Ministers, dessen Strategie im Januar vorgelegt wurde, während der Bürgerrat seine Empfehlungen im März abgegeben hatte. Der Minister hätte diese Empfehlungen auch abwarten können, sagte der CDU-Abgeordnete. Im Januar sei es darum gegangen, mit der Strategie von den Bauernprotesten abzulenken. Von den Problemen der Landwirtschaft sei noch nichts substanziell gelöst, den Ankündigungen folgten keine Taten. Die Strategie zeige wenig Respekt vor den Länderkompetenzen und der Eigenverantwortung der Verbraucher und vermehre die Bürokratie.
Albert Stegemann (CDU/CSU) konnte die vom Minister verkündete Liberalität nicht identifizieren. Es gehe vielmehr um Bevormundung, man wolle weg vom Fleisch und vom Zucker. Die Gesellschaft werde in Gut und Böse gestaltet, nur die ökologische Landwirtschaft sei gut. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Fleisch von sieben auf 19 Prozent bezeichnete Stegemann als „nackte Steuererhöhung“. Der reduzierte Mehrwertsteuersatz auf Grundnahrungsmittel diene gerade dazu, dass sich auch Menschen mit schmalem Einkommen Fleisch leisten könnten. Özdemir wolle die Tierhaltung in Deutschland abschaffen, die Union wolle sie weiterentwickeln.
SPD: Mindesthaltbarkeitsdatum reformieren
Rita Hagl-Kehl (SPD) wies darauf hin, dass 70 bis 80 Prozent der Krankheiten in Deutschland ernährungsbedingt seien, 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen seien übergewichtig. „Wir wollen niemanden umerziehen oder bevormunden“, sagte die bayerische Abgeordnete, doch müsse der Staat die Eltern unterstützen. Seit Corona würden Kinder mehr Medien konsumieren und sich weniger bewegen. Auch werde ein Fünftel der Kohlendioxidemissionen in Deutschland von der Nahrungsmittelerzeugung verursacht. Hagl-Kehl forderte ein Nachhaltigkeitslabel und erinnerte daran, dass 54 Prozent der Lebensmittelverschwendung in Privathaushalten stattfinde. Das Mindesthaltbarkeitsdatum müsse dringend reformiert werden.
Dass sich die Ernährung auch auf die kognitiven Fähigkeiten auswirkt, betonte Peggy Schierenbeck (SPD). Der Zugang zu gesundem Essen sei eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Von der Kita an sollte auf pflanzliche Ernährung gesetzt und der Anteil von Zucker, Salz und ungesunden Fetten verringert werden. Die Ernährungsstrategie stütze sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse: Einmal Fleisch pro Woche reiche aus. Gesundes und nachhaltiges Essen sollte zu zwei Dritteln aus pflanzlichen und einem Drittel aus tierischen Lebensmitteln bestehen.
FDP: Grüner Zeigefinger
Ingo Bodtke (FDP) kritisierte das Ampelprojekt heftig: „Ich sehe den grünen Zeigefinger!“ Dem Bürger solle vorgeschrieben werden, wie er sich zu ernähren habe. Der Verbrauch tierischer Lebensmittel solle auf ein „gesundheitsförderliches Maß“ gebracht werden. Das seien „völlig überzogene Erwartungen und Ansprüche“, so Bodtke. Die FDP wolle keine neuen staatlichen Verbote und Regulierungen. Vielmehr wolle man die Menschen motivieren, ihre Ernährungsgewohnheiten kritisch zu hinterfragen und setze dabei auf das Leitbild des mündigen Verbrauchers. Bodtke verwies darauf, dass 90 Prozent der Erzeuger klein- und mittelständische Betriebe seien und warb dafür, die Ernährungsstrategie zu überarbeiten.
Bodtkes Fraktionskollege Dr. Gero Clemens Hocker wandte sich gegen pauschale Werbeverbote, deren Effekt marginal sei und die nicht den kritischen, hinterfragenden Konsumenten hervorbrächten. Hocker appellierte an die Eigenverantwortung der Verbraucher.
Grüne: An Kinder gerichtete Werbung einschränken
Dr. Julia Verlinden (Bündnis 90/Die Grünen) forderte eine Anpassung des Wettbewerbsrechts im Lebensmittelbereich, was die Marktmacht der Discounter angehe. Es brauche eine Preisbeobachtungsstelle für Lebensmittel. Der Ernährungsbildung maß Verlinden einen hohen Wert zu. Auch müsse das Gesetz zur Einschränkung von an Kindern gerichtete Werbung „endlich kommen“. Bio-Verpflegung müsse gestärkt werden, die Ernährungsstrategie schlage konkrete Handlungsoptionen vor.
Fraktionskollegin Renate Künast sprach angesichts der FDP-Kritik von einer „ideologieorientierten Debatte“. Die FDP könne sich nicht über Fachkräftemangel beklagen, wenn sie nicht für die Gesundheit der Kinder sorge. Die Grünen wollten mit der Ernährungsstrategie Lebenschancen, eine gesunde Kindheit und ein gesundes Alter, ermöglichen.
AfD: Diktat statt Strategie
Ablehnend positionierte sich die AfD-Fraktion. Die Regierung trete in beispielloser Arroganz in die Privatsphäre der Menschen ein, argumentierte Peter Felser. Die Strategie sei auf Lenkung und Verbote ausgerichtet. Werbeverbote lehne die AfD ab, weil sie zu weiterer Bürokratisierung führen würden. Es gehe der Ampel um vermeintliche Klimaziele, nicht um die Gesundheit der Bürger. Einen Widerspruch sah Felser im Umgang mit den Bauern. Einerseits werde Regionalität gefordert, anderseits auf die regional verankerten Bauern eingedroschen. Die Bauernproteste seien der Ampel „völlig egal“. Lebensmittel müssten von außen importiert werden, „unsere Bauern gehen vor die Hunde“.
Felsers Fraktionskollege Bernd Schattner sagte, es handele sich nicht um eine Strategie, sondern um ein Diktat, das in Schulen und Kindergärten bindend umgesetzt werden müsse. Das Papier sei ein weiterer Sargnagel für die Geflügel-, Rinder- und Schweinewirtschaft in Deutschland.
Linke: Steigende Ernährungsarmut
Kritik äußerte auch Ina Latendorf (Gruppe Die Linke), die von einer „abgehobenen Politik“ sprach. Die Strategie sei eine Auflistung von Prüfaufträgen und zeitlich befristeten Vorhaben.
Sie verwies darauf, dass die Lebensmittelpreise von Juni 2021 bis Januar 2024 um knapp 30 Prozent gestiegen seien, die Zahlen der von Ernährungsarmut Betroffenen stiegen. Latendorf rief dazu auf, allen Kindern und Jugendlichen kostenfreies Essen zu garantieren.
Ernährungsstrategie der Bundesregierung
Die Ernährungsstrategie sieht vor, weniger Fleisch und zuckerhaltige Lebensmittel und mehr Obst und Gemüse in Kitas und Kantinen anzubieten. Die Strategie soll bis 2050 umgesetzt werden und widmet sich insbesondere der Außer-Haus-Verpflegung. Eine wichtige Rolle sollen Kantinen und Mensen in Unternehmen und anderen Einrichtungen spielen, wo pro Tag rund 17 Millionen Menschen essen. Dort sollen mehr pflanzliche, saisonale und möglichst regionale und ökologisch erzeugte Produkte auf die Speisepläne kommen und auch „so angeboten werden, dass junge Menschen sie gerne zu sich nehmen“, wie es in der Strategie heißt. Neben einer Umsetzung der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sollen in den Einrichtungen auch Lebensmittelabfälle reduziert werden.
Zudem will das Bundeslandwirtschaftsministerium ein Verbot von Werbung für besonders zucker-, fett- oder salzhaltige Lebensmittel, die sich an Kinder unter 14 Jahren richtet. Auf europäischer Ebene will sich die Bundesregierung zudem für eine EU-weit verpflichtende Nährwertkennzeichnung einsetzen, damit nahrhafte Lebensmittel leichter im Regal zu erkennen sind. (vom/nki/11.04.2024)