Laut Zeugen war nicht genug Zeit für Friedensverhandlungen
Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) des Bundestages hat sich in seiner 54. Sitzung am Donnerstag, 9. November 2023, intensiv mit den gescheiterten innerafghanischen Friedensverhandlungen vor dem Kollaps der afghanischen Regierung beschäftigt. Ein deutscher Experte und ein Delegationsmitglied der afghanischen Regierung erklärten, warum die Gespräche gescheitert sind und die Zeit zu knapp gewesen ist.
Rückzug ausländischer Truppen aus Afghanistan
Der erste Zeuge, „Senior Advisor“ der Berghof Foundation, einer gemeinnützigen Nichtregierungsorganisation, wies darauf hin, dass die innerafghanischen Verhandlungen im Doha-Abkommen vom Februar 2020 vorgesehen und dieses die Grundlage für die Gespräche war. Mit dem Doha-Abkommen hatten die USA und die Taliban den Rückzug ausländischer Truppen aus Afghanistan vereinbart, ohne die afghanische Regierung in die Verhandlungen einzubeziehen.
Der Experte der Berghof Foundation, die sich auf Friedensverhandlungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Konfliktparteien spezialisiert hat, erklärte den Abgeordneten, die Rolle seiner Organisation bei den innerafghanischen Friedensverhandlungen sei auf „technische Unterstützung“ begrenzt gewesen, die Organisation habe kein „politisches Mandat“ gehabt. Er und seine Mitarbeiter seien von beiden Konfliktparteien gebeten worden, zu helfen: „Prozessbezogene technische Fertigkeiten waren für alle Seiten interessant und wurden von allen nachgefragt.“ Das Auswärtige Amt (AA) habe das Projekt zwar finanziert, die Rolle seiner Organisation sei jedoch stets die eines neutralen Helfers gewesen, da nur auf diese Weise in Friedensverhandlungen das Vertrauen beider Parteien zu gewinnen seien. Dadurch hätten sie Zugang zu beiden Parteien gehabt. Alle, auch die USA, hätten Interesse am Erfolg der Verhandlungen gehabt. Dennoch seien die Verhandlungen schwierig gewesen, erläuterte der Experte. „Ein Friedensprozess kann nur gelingen, wenn die Parteien es wollen“, sagte er. Doch die Interessen seien sehr unterschiedlich gewesen, was dazu geführt habe, dass „eine kollektive Lösung“ kaum möglich gewesen war.
Die Taliban hätten luftige Versprechen gemacht, führte er aus. Auch die andere Seite habe Probleme gehabt. Die unrealistischen Erwartungen des afghanischen Präsidenten einerseits und das Anzweifeln des Wahlergebnisses durch seinen politischen Rivalen Abdullah Abdullah andererseits habe wertvolle Zeit gekostet. „Auf der afghanischen Seite gab es große Unzufriedenheit mit Präsident Ashraf Ghani“ betonte er. Deshalb hätten die Gespräche zu spät angefangen. Das entscheidende in dieser Zeit sei der Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber der Regierung gewesen. Die Zusammenarbeit verschiedener westlicher Akteure während der Gespräche in Doha bezeichnete der Mitarbeiter der Berghof Foundation als „sehr gut“.
Perspektive der afghanischen Delegation
Der afghanische Menschenrechtler und ehemalige Berater von Ghani, Nader Nadery, hingegen betonte, der Westen habe hauptsächlich seine Delegation kritisiert und Druck auf sie ausgeübt. Während seiner Befragung durch die Abgeordneten bestätigte Nadery zwar größtenteils die Aussagen des deutschen Experten. Er schilderte in einigen Punkten aber auch eine andere Perspektive. So habe es in der afghanischen Delegation viele gegeben, die die Tätigkeit der Berghof Foundation als Beitrag der Bundesregierung angesehen hätten. Obwohl sie sich insgesamt neutral verhalten habe, habe die Foundation Textformulierungen vorgeschlagen, die seiner Meinung nach, näher an der Taliban-Sprache gelegen hätten.
Aus Sicht Naderys hätten die Taliban von Anfang an kein Interesse an den Verhandlungen gezeigt. „Zu den vereinbarten Terminen sind sie immer zu spät und manchmal gar nicht gekommen“, erklärte er, „und wenn sie mal erschienen, weigerten sie sich, sich zur Tagesordnung zu äußern.“ Der 46-Jährige urteilte, die Taliban seien nie an einer gemeinsamen Zukunft aller Afghanen interessiert und ihre Verhandlungsstrategie auf Zeitgewinn ausgerichtet gewesen. Nach seinem Eindruck hätten die Taliban gefürchtet, die neue US-Administration würde sich nicht an das Doha-Abkommen halten. Nach dem Jahreswechsel 2020-21 jedoch seien sie sehr entspannt zum Verhandlungstisch zurückgekehrt. „Ich denke, dass sie in der Zwischenzeit Garantien von der amerikanischen Seite erhalten haben“, sagte Nadery.
Auseinanderfallen der Regierung Gahni
Nachdem die Taliban ab Mai 2021 begannen, rasch das ganze Land zu erobern, habe er begriffen, dass die Republik keine Zukunft mehr habe. Das habe er auch Präsident Ghani gesagt. Ghani habe bis dahin geglaubt, dass es noch drei bis sechs Monate Zeit gäbe, um mit den Taliban zu verhandeln. Erst zwei Tage vor dem Fall Kabuls sei er bereit gewesen zurückzutreten, sich jedoch geweigert, die Macht an die Taliban zu übergeben. Deshalb hätten die USA eilig und mit Hilfe des ehemaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karsai sowie des Chefunterhändlers auf der Regierungsseite, Abdullah Abdullah, versucht, mit den Taliban die Übergabe Kabuls zu vereinbaren, um ein Blutbad zu verhindern. Die Taliban seien damit einverstanden gewesen. Die unerwartete Flucht Ghanis aus dem Land hätten diese Pläne jedoch durchkreuzt. Die Regierung sei dadurch gänzlich auseinandergefallen. Besorgt, in der Stadt könne Chaos ausbrechen, hätten deshalb die USA die Taliban gebeten, in die Stadt einzumarschieren. So sei auch der letzte Verhandlungsversuch gescheitert.
Als letzter Zeuge sagte am Abend der ehemalige deutsche Botschafter in Doha, Claudius Fischbach, aus. Er berichtete, wie mehr als tausend deutsche Staatsbürger über Katar evakuiert wurden. Das verdanke Deutschland Katar, unterstrich der Diplomat: „Es hat bei der Evakuierung eine bemerkenswerte und unverzichtbare Rolle gespielt.“
Untersuchungsauftrag
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/10.11.2023)