Geschichte

Vor 25 Jahren: Bundestag stimmt erstmals für Kriegseinsatz der Bundeswehr

Blick in das Plenum im Alten Wasserwerk in Bonn während der Sondersitzung des Deutschen Bundestages zum Kosovo-Konflikt unter Vorsitz von Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth am 16. Oktober 1998.

Blick in das Plenum im Alten Wasserwerk in Bonn während der Sondersitzung des Deutschen Bundestages zum Kosovo-Konflikt unter Vorsitz von Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth am 16. Oktober 1998. (© DBT/Presse-Service Steponaitis)

Vor 25 Jahren, am 16. Oktober 1998, kommt der 13. Deutsche Bundestag im Bonner Wasserwerk zu einer Sondersitzung zusammen. Erstmals seit Bestehen der Bundeswehr müssen die Abgeordneten über den Kriegseinsatz deutscher Soldaten entscheiden. 

Bundestagspräsidentin Dr. Rita Süssmuth eröffnet die Sitzung. „Mit Schreiben vom 12. Oktober 1998 hat mich der Herr Bundeskanzler gebeten, für Freitag, den 16. Oktober 1998, eine Sitzung des 13. Deutschen Bundestages einzuberufen, um eine Beschlussfassung zu dem Antrag der Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an den von der Nato geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt herbeizuführen. Ich habe in Übereinstimmung mit den Fraktionen den noch bestehenden 13. Deutschen Bundestag gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit Paragraf 21 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur heutigen Sitzung einberufen.“ 

Nach der Bundestagswahl zum 14. Deutschen Bundestag am 27. September 1998 ist der neue 14. Bundestag noch nicht konstituiert. Die bisherigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP unter der Führung von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl waren zwar abgewählt worden. Das neue rot-grüne Regierungsbündnis mit SPD-Spitzenkandidat Gerhard Schröder jedoch noch nicht im Amt. Unter den Rahmenbedingungen des Übergangs berät das Parlament in seiner alten Zusammensetzung den Einsatz bewaffneter Streitkräfte. 

Friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts durchsetzen

Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel (FDP) begründet den entsprechenden Antrag (13/11469) der noch amtierenden schwarz-gelben Koalitionsregierung: „Die heutige Sondersitzung des Deutschen Bundestages ist nötig geworden, um eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts durchzusetzen. Präsident Milosevic hatte auf die monatelangen Bemühungen der Staatengemeinschaft um eine politische Lösung nicht reagiert. Er ist der Hauptverantwortliche für die Tragödie im Kosovo.

Nachdem alle politischen Bemühungen der Kontaktgruppe, der Europäer, der Vereinten Nationen und der OSZE erschöpft waren, blieb als letztes Mittel nur noch die Drohung mit einem militärischen Einsatz. Am 13. Oktober 1998 hat der Nato-Rat den Einsatzbefehl für begrenzte Luftoperationen zur Abwendung der humanitären Katastrophe im Kosovo gegeben. Das Bundeskabinett hatte am 12. Oktober 1998 nach vorheriger Abstimmung mit Ministerpräsident Schröder und dem Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Fischer, die Zustimmung zu diesem Beschluss des Nato-Rates autorisiert. Heute geht es entsprechend dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts um die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages zu der Entscheidung des Bundeskabinetts.

Auch nach der Übereinkunft zwischen Botschafter Holbrooke und Präsident Milosevic muss der militärische Druck auf Belgrad aufrechterhalten bleiben. Das war auch gestern die klare Haltung der Kontaktgruppe einschließlich der Russen in Paris. Deshalb bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Zustimmung zu dem Beschluss des Bundeskabinetts.“

Humanitäre Notsituation, die sofortiges Handeln erfordert

Für den bewaffneten Nato-Einsatz gibt es kein direktes Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN). Die 16 Nato-Partner begründen die Notwendigkeit einer Intervention mit der bestehenden humanitären Notlage und der bevorstehenden Gefahr einer humanitären Katastrophe. Dabei stützen sie sich auf die UN-Resolutionen 1160 vom 31. März 1998 und 1199 vom 23. September 1998, die die Bundesrepublik Jugoslawien trotz der dringlichen Forderungen der Internationalen Gemeinschaft noch nicht erfüllt hat. Zur rechtlichen Absicherung der Mission erklärt Außenminister Kinkel deshalb: „Aber im Kosovo liegt eine akute humanitäre Notsituation großen Umfangs vor, die sofortiges Handeln erfordert. Die Verhandlungsmöglichkeiten sind erschöpft, der Einsatz von Gewalt ist Ultima ratio. Die gesamte Staatengemeinschaft hat das Verhalten der Belgrader Führung mit der Sicherheitsratsresolution 1199 und durch den Bericht des UN-Generalsekretärs scharf verurteilt. Deshalb muss man sagen, dass die Drohung mit dem militärischen Einsatz schließlich auf die Verwirklichung der einstimmig gefassten Sicherheitsratsresolution hinzielt. Sie soll verhindern, dass die humanitäre Katastrophe eintritt und dass es zu einer weiteren Destabilisierung der Lage im und um den Kosovo kommt.“

Der von den Nato-Partnern begangene Weg sei, seiner Ansicht nach, deshalb vertretbar. Wichtig ist es Kinkel dabei auch klarzustellen, dass hier durch die Nato kein Präzedenzfall geschaffen wird. 

Längeres Engagement im Kosovo

„Meine Damen und Herren, die Umsetzung der jetzt geschlossenen Vereinbarungen stellt die Nato, die OSZE und natürlich auch die Vereinten Nationen vor große Herausforderungen. Milosevic muss wissen: Die Staatengemeinschaft wird die Verwirklichung der Abkommen genauestens beobachten; die Vereinbarungen, die getroffen worden sind, werden das ermöglichen. Der Weltsicherheitsrat wird die Vereinbarungen mit der OSZE und mit der Nato sowie die Zusicherungen zur Selbstverwaltung in einer Resolution des Sicherheitsrates auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta festschreiben. Damit bleibt der Weltsicherheitsrat Herr des Verfahrens.“

„Schon heute ist klar: Die internationale Gemeinschaft wird sich auf ein längeres Engagement im Kosovo einstellen müssen. Praktisch geht es für die OSZE um die Mitwirkung bei der Flüchtlingsrückkehr, um die Durchführung und Überwachung der Wahlen, um die Überwachung der serbischen Polizei im Kosovo sowie um die Überwachung des Waffenstillstands. Wir treten dafür ein, dass sich Deutschland personell maßgeblich beteiligt, das heißt mit zirka 150 bis 200 Personen.“

Nato handelt im Bezugsrahmen der Vereinten Nationen

Auch dem zukünftigen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der zu diesem Zeitpunkt noch niedersächsischer Ministerpräsident ist, ist es wichtig, klarzustellen, dass sich die Nato hier nicht selbst ein Mandat ausgestellt hat, sondern im Bezugsrahmen der Vereinten Nationen handelt. Er möchte auch keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und die Verantwortung des Sicherheitsrates für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit unverzichtbar sind für die Entwicklung einer Weltfriedensordnung.

„Die am 23. September beschlossene Resolution 1199 ist eine Kapitel-VII-Maßnahme der Vereinten Nationen. Der UN-Generalsekretär hat festgestellt, dass der Adressat der Resolution, Milosevic, die Forderungen nicht erfüllt hat. Die Nato bezieht sich in ihrer Entscheidung ausdrücklich auf die Resolution 1199 und auf die Notwendigkeit, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Die Nato – das ist, denke ich, für uns alle wichtig – hat sich nicht selber ein Mandat erteilt; sie handelt im Bezugsrahmen der Vereinten Nationen.“

Abschließend betont er: „Wir hegen keine feindseligen Gefühle gegenüber Serbien oder gar gegenüber dem serbischen Volk. Im Gegenteil: Wir wünschen ausdrücklich, dass dieses Volk seinen Weg in die Strukturen der europäischen Integration und der europäischen Kooperation findet. Schließlich appelliere ich an alle Kräfte im Kosovo: Arbeiten Sie konstruktiv an der Verwirklichung einer Friedenslösung mit! Auch auf der Seite der Kosovo-Albaner muss die Gewalt dauerhaft ein Ende haben.“

Entscheidung über einen möglichen Kriegseinsatz

Besonders schwierig ist die Entscheidung für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Viele Grüne kommen aus der Friedensbewegung und lehnen die Anwendung militärischer Gewalt ab. Sollte die Holbrooke-Mission scheitern, wäre hier über nichts Geringeres zu entscheiden als über einen Krieg gegen Serbien, bringt es der zukünftige Bundesaußenminister Joschka Fischer für seine Fraktion auf den Punkt. Und auch er betont: „Für uns ist es wichtig – das macht die Entscheidungsgrundlage für uns gewiss nicht einfacher; aber wir schauen optimistischer auf die Entwicklung im Kosovo –, dass es keine Selbstmandatierung der Nato in dieser Frage gibt. Ich möchte ausdrücklich noch einmal darauf hinweisen, Herr Bundesaußenminister, dass Ihre heutige Erklärung, es handle sich um eine Notfallsituation, um eine Ausnahmesituation, nicht um einen Präzedenzfall, für uns ebenfalls von großer Bedeutung ist.“

„Wir begrüßen es, dass die Umsetzung des Abkommens vor Ort überwacht wird: erstens durch unbewaffnete Luftfahrzeuge, durch Überwachungseinheiten der westlichen Allianz in der Luft und zweitens durch OSZE-Beobachter. Wir unterstützen nachdrücklich die Haltung, dass sich daran auch Deutschland beteiligen sollte.“

Militäreinsatz der Nato ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates 

Der PDS reicht die Begründung der Nato für diesen Einsatz nicht aus. Sie kritisiert den geplanten Militäreinsatz der Nato ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates als Verstoß gegen das Völkerrecht. Ihrer Ansicht nach fehlt den geplanten Nato-Einsätzen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien jede völkerrechtliche Grundlage (13/11470). Für die PDS moniert Dr. Gregor Gysi die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft angesichts des bereits seit Ende der 80er Jahre eskalierenden Konflikts im Kosovo.

„Nur, wenn wir alle das so sehen, dann müssen wir doch folgende Frage zulassen: Was hat die Nato, was hat die internationale Staatengemeinschaft, was hat die Bundesregierung, was haben wir alle in den Jahren seit 1989 real getan, um die Situation im Kosovo zu stabilisieren und den dort lebenden Menschen einen anderen Status zu geben, als sie ihn gegenwärtig haben? Nicht einmal in Dayton ist darüber ernsthaft verhandelt worden. Das ist eine Tatsache.“

Namentliche Abstimmung

Mit großer Mehrheit stimmt der Deutsche Bundestag dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte entsprechend dem von der Bundesregierung am 12. Oktober 1998 beschlossenen deutschen Beitrag zu den von der Nato zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt geplanten, begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen für die von den Nato-Mitgliedstaaten gebildete Eingreiftruppe unter Führung der Nato zu.

In der namentlichen Abstimmung versagen neben der PDS auch einige Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, SPD, FDP und CDU/CSU dem Regierungsantrag die Zustimmung. Insgesamt votieren 500 Abgeordnete für den Antrag der Bundesregierung, 62 stimmen dagegen, 18 Abgeordnete enthalten sich der Stimme.

Nato-Luftangriffe auf Ziele in Jugoslawien

Die Hoffnungen, durch Verhandlungen eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zu erzielen, erfüllen sich nicht. Die Versuche im französischen Rambouillet ein gleichnamiges Abkommen unter den Konfliktparteien zu erzielen, scheitern. Am 24. März 1999 beginnt die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien. Deutschland ist mit 14 Tornadoflugzeugen beteiligt. In seiner Regierungserklärung am 26. März 1999 erklärt Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Das Bündnis war zu diesem Schritt gezwungen, um weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo zu unterbinden und um eine humanitäre Katastrophe dort zu verhindern. Der Bundesaußenminister, die Bundesregierung und die Kontaktgruppe haben in den letzten Wochen und Monaten nichts, aber auch gar nichts unversucht gelassen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zu erzielen. Präsident Milosevic hat sein eigenes Volk, die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und die Staatengemeinschaft ein ums andere Mal hintergangen.“

„Gleichzeitig hat das Milosevic-Regime seinen Krieg gegen die Bevölkerung im Kosovo noch intensiviert. Unsagbares menschliches Leid ist die Folge dieser Politik. Mehr als 250 000 Menschen mussten aus ihren Häusern fliehen oder wurden gar mit Gewalt vertrieben. Allein in den letzten sechs Wochen haben noch einmal 80.000 Menschen dem Inferno, das es dort gibt, zu entrinnen versucht. Umgerechnet auf die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wäre das die Einwohnerschaft einer Metropole wie Berlin. Es wäre zynisch und verantwortungslos gewesen, dieser humanitären Katastrophe weiter tatenlos zuzusehen.“

Deutsche Soldaten im Kampfeinsatz

„Meine Damen und Herren, wir alle wissen, dass dies das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ist, dass deutsche Soldaten in einem Kampfeinsatz stehen. Ich darf Ihnen deshalb versichern, dass die Bundesregierung sich ihre Entscheidung nicht leichtgemacht hat. Aber wir wissen uns einig und in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung und, Gott sei Dank, auch mit der großen Mehrheit des Deutschen Bundestages – über alle Parteigrenzen hinweg.“ 

Im Juni 1999 zieht Milosevic seine Truppen zurück und macht den Weg frei für die Stationierung der Nato-Friedenstruppe KFOR. Am 11. Juni 1999 billigt der Bundestag der KFOR-Einsatz der Bundeswehr im Kosovo (14/1133). Seit dem 12. Juni 1999 beteiligen sich deutsche Truppen am KFOR-Einsatz, der auf der UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 basiert. Bis heute ist die Bundeswehr an der Nato-geführten internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo (KFOR) beteiligt. Bisher hat der Bundestag das Mandat jedes Jahr um ein weiteres Jahr verlängert. Zuletzt hat das Parlament am Freitag, 26. Mai 2023, eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo beschlossen. 

Der Staatspräsident der Bundesrepublik Jugoslawien, Slobodan Milosevic wird 1999 als erstes Staatsoberhaupt noch während seiner Amtsausübung von einem Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermordes angeklagt und 2001 verhaftet. Er stirbt 2006 noch vor dem Abschluss des Verfahrens. (klz/11.10.2023)