Michael Müller: Ein Gesamtbild über die Lage vor Ort hat gefehlt
Vor einem Jahr, am 19. September 2022, hat sich die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ konstituiert. Michael Müller (SPD), wurde zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Das Gremium soll sich „selbstkritisch damit befassen“, was bei dem internationalen Stabilisierungseinsatz in Afghanistan von 2001 bis 2021 „gelungen ist und was nicht“, erklärt Müller. Es betrachte erstmals die verschiedenen Handlungsstränge deutscher Afghanistan-Politik. „Deutschland wird in Zukunft stärker gefordert sein in unterschiedlichen Krisenherden. Wie wir da besser werden können, auch dazu dient die Arbeit der Enquete.“ Im Interview spricht der SPD-Abgeordnete darüber, was die Enquete in einem Jahr erreicht hat, gibt Einblick in erste Ergebnisse und sagt, was ihn persönlich an der Aufgabe als Vorsitzender der Kommission reizt. Das Interview im Wortlaut:
Herr Müller, vor einem Jahr hat sich die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ konstituiert, Sie wurden zum Vorsitzenden gewählt. Was hat den Deutschen Bundestag dazu bewogen, eine solche Kommission einzusetzen?
Zwei Gründe. Zum einen hat der Afghanistan-Einsatz den Bundestag in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder beschäftigt, nicht allein wenn es um die Mandatsverlängerungen ging. Abgeordnete und die Wehrbeauftragten haben sich regelmäßig vor Ort ein Bild gemacht. Das Parlament hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Es hat schließlich auch gefallene Soldaten gegeben. Zum zweiten waren die schlimmen Bilder, die beim Abzug der internationalen Kräfte entstanden sind und die viele Menschen zeigten, die in Afghanistan um ihr Leben fürchteten und irgendwie versuchten, das Land zu verlassen, sicher auch ein Auslöser für die Einsetzung der Kommission. Man muss sich nach einem so großen und langen Einsatz selbstkritisch damit befassen, was gelungen ist und was nicht.
Was ist der Auftrag der Enquete-Kommission?
Es handelt sich um einen umfassenden Auftrag. Wir sollen die gesamten zwanzig Jahre des Einsatzes betrachten, vom Beginn 2001/2002 bis zum Abzug 2021. Und wir sollen die unterschiedlichen Bestandteile des Einsatzes untersuchen: vom Militärischen und Diplomatischen über Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe bis zu den finanziellen Aspekten. Unter der Frage: Wie hat Deutschland sich engagiert und sich mit anderen internationalen Partnern abgestimmt? Vor allem hat uns der Bundestag beauftragt, Schlussfolgerungen aus dem Einsatz zu ziehen, also: Welche Lehren ziehen wir aus diesen zwanzig Jahren für die Zukunft?
Wie genau arbeitet die Kommission?
Wir haben nun nach einem Jahr die Phase der Bestandsaufnahme abgeschlossen, viele Sachverständige befragt, und bereiten zum Jahreswechsel einen Zwischenbericht vor, da gehen wir gerade in die Phase der Textarbeit. Zum Ende der Wahlperiode wird die Kommission dann als abschließendes Dokument ihre Schlussfolgerungen vorlegen. Die einzelnen Sachverständigen haben uns bei den Anhörungen bereits ihre persönlichen Empfehlungen mitgegeben. Diese unterschiedlichen Perspektiven nehmen wir in unseren Zwischenbericht auf. Aber am Ende wollen wir als Enquete-Kommission aus Bundestagsabgeordneten und ständigen Sachverständigen aus allen Informationen, die bei uns zusammenfließen, ein Gesamtbild erstellen. Regierungsfraktionen und Opposition ziehen dabei übrigens an einem Strang, Parteipolitik steht hinten an. Das Besondere bei einer Enquete-Kommission ist, dass Abgeordnete und eine gleiche Anzahl ständiger Sachverständiger gleichberechtigt zusammenarbeiten. Wir sind zwölf Abgeordnete und zwölf Sachverständige. Darüber hinaus ziehen wir in den Anhörungen weitere Expertinnen und Experten hinzu. So ergibt sich für uns ein umfassendes Bild davon, was in Afghanistan passiert ist.
Welche Erkenntnisse haben Sie bislang gewonnen?
Wir hatten seit September 2022 zehn öffentliche Anhörungen mit vielen externen Sachverständigen. Durch ihre Stellungnahmen hat sich der Eindruck verdichtet, dass die Staatengemeinschaft den Afghanistan-Einsatz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 überstürzt begonnen hat und wir uns nicht hinreichend mit Kultur und Geschichte dieses Landes auseinandergesetzt haben. Auf deutscher Seite hätte zudem die Vernetzung ziviler und militärischer Kräfte sowohl vor Ort als auch in den Ministerien in Berlin stärker sein sollen. Und es hätte bereits während des zwei Jahrzehnte dauernden Engagements eine laufende kritische Bestandsaufnahme geben müssen: Was können wir überhaupt leisten und was wollen wir erreichen? Die Enquete betrachtet nun erstmals die verschiedenen Handlungsstränge deutscher Afghanistan-Politik. Das hat in den vergangenen zwanzig Jahren nicht hinreichend stattgefunden. Das ist jetzt überfällig.
Wie kann das durch die Enquete gewonnene Wissen die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik besser machen?
Für das Parlament steht die Frage im Mittelpunkt, wie es die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik noch besser begleiten kann. Dazu kann man schon jetzt festhalten, wie wichtig ein ressortübergreifendes, vernetztes Zusammenarbeiten zwischen den einzelnen Ministerien ist. In Deutschland und vor Ort im Einsatzgebiet. Außerdem kommt es darauf an, dass wir als Parlamentarier diese vernetze Arbeit der Regierung auch dargestellt bekommen. Es sollte künftig über eine Berichterstattung der einzelnen Ressorts, die ihrem jeweiligen Fachausschuss sagen, was sie gerade tun, hinausgehen. Die Abgeordneten brauchen ein Gesamtbild der Lage vor Ort und des Regierungshandelns. Also: Wie arbeiten Bundeswehr, aber auch das Innenministerium bei der Sicherheit zusammen, wie verbessert die Entwicklungszusammenarbeit die Lage der Menschen vor Ort und welche diplomatischen Initiativen verfolgt das Auswärtige Amt? Und wie wird vor Ort dieser vernetzte Ansatz umgesetzt? Das wollen die Abgeordneten wissen. Das ist eine Lehre aus Afghanistan und hat bei diesem Einsatz gefehlt.
Muss das vernetzte Handeln sich nicht auch in den parlamentarischen Strukturen widerspiegeln?
Klar, das müssen wir uns auch fragen. Brauchen wir eine institutionelle Abbildung dessen, was wir für die Regierungsebene fordern auch im Parlament, etwa ein eignes Gremium? Es wäre auch vorstellbar, dass temporär Arbeitsgruppen mehrerer Ausschüsse gemeinsam tagen oder dass man sich temporär gemeinsam von den Ministerien unterrichten lässt. Da gibt es einige Überlegungen, ich will jedoch der parlamentarischen Beratung nicht vorgreifen. Aber mit Sicherheit muss es eine intensivere und zusammengeführte Berichterstattung der Aktivitäten der einzelnen Ministerien im Ausland geben.
Herr Müller, was ist eigentlich gut gelaufen beim Afghanistan-Einsatz?
Das zwei Jahrzehnte lange zivile und militärische Engagement war nicht vergeblich. Es hat vielen Afghanen ein besseres Leben ermöglicht, von der Gesundheitsversorgung über den Zugang zu Bildung bis hin zum Ausbau der Infrastruktur. Davon bleibt einiges. Man darf auch nicht vergessen, dass unsere Bundeswehr in den zwanzig Jahren des Einsatzes ein sehr verlässlicher und geachteter Gesprächspartner für die Afghanen gewesen ist. Da ist gegenseitig Vertrauen gewachsen. Vertrauen, das möglicherweise auch für die Zukunft eine wertvolle Ressource ist, um diesem Land zu helfen.
Wieviel Vertrauen ist durch das Zurücklassen afghanischer Ortskräften zerstört worden?
Von den etwa 40.000 Ortskräften, die für die deutsche Seite gearbeitet haben, und denen wir allen helfen wollen, konnten wir bereits etwa 30.000 helfen. Viele warten noch auf Unterstützung oder auch auf Ausreise. Dahinter stehen individuell schwere Schicksale. Wir sollten das uns entgegengebrachte Vertrauen nicht enttäuschen.
Sollte mit einem wachsenden deutschen sicherheitspolitischen Engagement auch eine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit über Auslandseinsätze einhergehen?
Das ist ein wesentlicher Teil der Zeitenwende. Der Begriff von Bundeskanzler Olaf Scholz, der auf den ersten Blick verbunden ist mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, ist in Wirklichkeit viel breiter gemeint. Die Zeitenwende wird ganz vielfältig sichtbar. Deutschland wird in Zukunft als größte Volkswirtschaft in Europa stärker gefordert sein in unterschiedlichen Krisenherden. Wir werden uns mit Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe engagieren, aber wahrscheinlich auch durch Militäreinsätze. Wie wir da besser werden können, auch dazu dient die Arbeit der Enquete. Eine öffentliche Debatte über Ziele und Mittel deutscher Außen und Sicherheitspolitik gehört selbstverständlich dazu. Täglich wird die Öffentlichkeit bereits durch die Nachrichten mit diesen Themen konfrontiert. Auch über Afghanistan findet eine öffentlichen Debatte statt. Die Arbeit der Enquete-Kommission trifft übrigens auf eine hohe Resonanz. Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass wir Anfragen bekommen.
Sehen Sie nicht auch eine Bringschuld seitens der Politik, zu informieren, die Menschen einzubeziehen?
Natürlich informieren wir aktiv als Institution, als Parlament. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie das dann von den Medien aufgegriffen wird, wie man Multiplikatoren findet, die die Themen weitertragen können. Die Enquete-Kommission verkörpert außerdem selbst eine Befassung von Bürgerinnen und Bürgern mit der Frage wie Außenpolitik künftig sein soll. Sie besteht ja aus sachverständigen Bürgern und wir laden weitere Experten in zahlreichen Sitzungen hinzu.
Kommen die bisherigen Erkenntnisse der Kommission bereits laufenden Einsätzen zugute?
Auch bei gegenwärtigen Einsätzen und Planungen ist das kumulierte Expertenwissen der Enquete gefragt. Deutschland ist ja beinahe jeden Tag mit der Frage konfrontiert: Wie sollen wir uns positionieren? Sei es in Mali, Irak, Kosovo oder in den baltischen Ländern. Sollen wir Soldaten dorthin schicken? Mit welchem Auftrag? Und wie begleiten wir sie? Wir spüren eine hohe Resonanz und sind als Gesprächspartner gefordert, über die Arbeit der Kommission zu sprechen: seitens der Bundeswehr und Ministerien über Nichtregierungsorganoisationen bis zu den politischen Stiftungen. Das ist nicht selbstverständlich. Wir bereiten vergangenes Handeln wissenschaftlich auf, um es in Zukunft besser zu machen, tun etwas Grundlegendes jenseits der Tagespolitik.
In den vergangenen Wochen haben Sie und andere Bundestagsabgeordnete, Mitglieder der Enquete-Kommission, die Gedenkstätte für gefallene Bundeswehrsoldaten, den „Wald der Erinnerung“, besucht. Was ist Ihnen dabei durch den Kopf gegangen?
Die Gedenkstätte ist ein besonderer Ort, weil dort ein persönliches, individuelles Gedenken möglich ist. Es macht den besonderen Charakter des Ortes aus, dass die einzelnen Soldaten, die in Auslandseinsätzen gefallen sind, unabhängig von ihrem Dienstgrad, genannt werden. Es herrscht keine abstrakte Anonymität, man spürt das Schicksal jedes Einzelnen. Familien und Kameraden haben die Chance, an dieser Stelle ihrer Verstorbenen zu gedenken. Für uns Parlamentarier macht dieser Gedenkort die Tragweite unserer Entscheidungen persönlich sichtbar und spürbar.
Was hat Sie dazu bewogen als Bundestagsneuling und ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin den Vorsitz der Kommission zu übernehmen?
Meine Fraktion suchte einen Abgeordneten, der mit solchen parlamentarischen Gremien über Erfahrung verfügt und der Erfahrung mit einer großen Verwaltung hat. Auf Landesebene war ich bereits Teil einer Enquete-Kommission, habe sie eingesetzt und geleitet. Das hat wohl eine Rolle gespielt, dass man mich gefragt hat. Für mich persönlich war schnell klar, dass ich die Aufgabe gerne übernehme. Eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestage ist etwas ganz Besonderes. Außerdem gibt es ein solches Gremium nun zum ersten Mal für eine außenpolitische Frage. Zu einem nach wie vor brisanten Thema. Es geht darum, aus dem Vergangenen zu lernen. Das ist eine wunderbare Chance für einen Parlamentarier, um künftig durch die Erkenntnisse der Kommission auf einer besseren Basis entscheiden zu können. Und für mich persönlich stellt es eine Riesenchance dar, auf außenpolitischem Gebiet dazu zu lernen. Die Kommission bietet da einen so breiten Einblick wie kein anderes Gremium.
Was erhoffen Sie sich für die Arbeit des Gremiums, wenn diese einmal abgeschlossen ist?
Ich hoffe und gehe auch davon aus, dass unser Bericht nicht unbeachtet in den Bücherregalen verstauben wird, sondern dass er als praktische Handlungsempfehlung von künftigen Abgeordneten und von einer interessierten Öffentlichkeit aufgegriffen wird.
Wie geht es mit der Arbeit der Enquete jetzt weiter?
Zunächst veröffentlichen wir Anfang 2024 in einem Zwischenbericht die Ergebnisse der ersten Phase unserer Arbeit. Parallel dazu beginnt bereits die zweite Phase, in der wir Schlussfolgerungen ziehen und diese politisch bewerten. Wir haben also noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns. Unser Ziel ist es, in der ersten Jahreshälfte 2025 den Abschlussbericht vorzulegen.
(ll/02.10.2023)