Afghanistan-Einsatz: Rückzug unter Druck
Die letzten Monate des internationalen Afghanistan-Einsatzes 2020/2021 standen im Mittelpunkt der öffentlichen Anhörung der Enquete Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ am am Montag, 19. Juni 2023, zum Thema „Neuausrichtung, Anpassung und Abzug 2015 bis 2021: Deutschlands Rolle im multilateralen Kontext - Abzug und Verhandlung“.
Der Vorsitzende Michael Müller (SPD) wies darauf hin, dass auch dieser letzte zeitliche Abschnitt in der Reihe chronologischer Betrachtungszeiträume, die sich die Enquete-Kommission vorgenommen habe, in diesem Gremium nicht fehlen dürfe, auch wenn die Umstände des Rückzugs gleichzeitig Hauptgegenstand eines Untersuchungsausschusses seien. Wann konnte man die schiefe Ebene eines sich beschleunigenden, immer weniger koordinierten Rückzugs unter Druck erkennen und hätte noch gegensteuern können? Und was kann in Zukunft besser gemacht werden? Das interessierte die Mitglieder, Abgeordnete und ständige Sachverständige, der Kommission.
Rolle des Doha-Abkommens
Welch großen Anteil das Doha-Abkommen zwischen der abzugswilligen US-Regierung und den afghanischen Taliban an dem am Ende überhasteten Rückzug und der dann folgenden erneuten Herrschaft der Taliban hatte unterstrich Andreas von Brandt vom Auswärtiges Amt, von 2020 bis 2022 Leiter der EU-Delegation in Kabul. Zu ernsthaften Friedensverhandlungen mit den anderen Kräften in Afghanistan hätte man die Taliban so, wie die Verhandlungen in Doha gelaufen seien, nicht bewegen können. Die Taliban seien durch das Abkommen aufgewertet, die in zwanzig Jahren aufgebaute Republik und ihre Protagonisten dagegen geschwächt worden. Von den westlichen Alliierten sei einfach niemand mehr kampfeswillig gewesen. „Die Afghanistan fatigue war überall groß.“
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die echte Friedensverhandlungen hätten unterstützen wollen, seien zu heterogen aufgetreten und über den Weg dahin uneins gewesen. Man hätte es als Westen besser vorbereiten und beide Seiten zu Kompromissen drängen müssen, so von Brandt. Als Botschafter in Kabul habe man aber weder ein Verhandlungsmandat noch eigene Soldaten gehabt. Er habe auf die Pläne des amerikanischen Truppenabzugs und den Taliban-Deal mit einem „engagierten Realismus“ reagiert und den Kern des langjährigen Engagements über den Rückzug hinaus retten wollen.
Die Vernetzung zwischen allen relevanten Akteuren vor Ort sei dicht gewesen. „Alle haben sich ständig getroffen und miteinander gesprochen.“ Man habe eine Flut an Lagebildern Richtung Heimat und Headquarter produziert. Aber die politischen Entscheidungen würden schließlich in den Zentralen gemacht.
Überhasteter Rückzug Deutschlands
Warum die Deutschen erst in letzter Minute überhastet das Land verlassen hätten, wo sich doch der militärische und politische Zusammenbruch Afghanistans seit Monaten abzeichnete, interessierte die Mitglieder der Enquete-Kommission. In den letzten Tagen vor dem Rückzug habe bei den meisten westlichen Akteuren vor Ort, aber auch in den Hauptstädten, die Stimmung vorgeherrscht, man dürfe die afghanische Republik nun nicht fallen lassen.
Um realitätsnahe Lagebilder aus Afghanistan an die Zentrale zu senden, habe man zahlreiche Quellen gehabt, bestätigte auch Jan Hendrik van Thiel, deutscher Botschafter in Kingston/Jamaica, 2021 Geschäftsträger der deutschen Botschaft in Afghanistan. Sämtliche Ministerien, des eigenen Landes und von Partnerländern, vom Auswärtigen Dienst über die Entwicklungszusammenarbeit bis zu den Streitkräften, internationale Organisationen, Nachrichtendienste: mit allen habe man sich ausgetauscht. „Ich habe als Verantwortlicher der Botschaft dafür gesorgt, dass wir alles, was man bekommen konnte, auch bekommen haben.“
„Endgame“ des Einsatzes
Bei der Vielzahl von Lagebildern habe sich nicht automatisch ein widerspruchsfreies Gesamtbild ergeben. In Berlin hätten die verschiedenen Ministerien und politischen Akteure „die unterschiedlichsten Schlussfolgerungen“ aus den übermittelten Daten gezogen. Als Auslandsvertretung sei man „nicht dafür zuständig gewesen, die Informationen für den Berliner Betrieb aufzubereiten. Wir haben einfach berichtet, was ist.“
2021 sei er, der das Land bereits von früheren Verwendungen gekannt habe, nach Afghanistan geschickt worden mit der Perspektive, es handele sich nun um das „endgame“ des Einsatzes. Es sei bei seiner Ankunft in Kabul sofort um die Abzugs-Planung gegangen. „Es war nur die Frage: Wo stehen wir und wie schnell laufen wir?“ Zunächst sei man vor Ort der Überzeug gewesen, man habe noch ein paar Monate Zeit, dann seien es nur ein paar Wochen gewesen.
„Die Koordinierung war schwierig“
Die Mitarbeiter in Afghanistan hätten den Eindruck vermittelt: Wir sind nicht bereit zu gehen. Wichtige, grundlegende logistische Fragen waren nicht geklärt: Soll die Botschaft ein Sammelpunkt sein? Wie kommen wir zum Flughafen? Wer wird ausreiseberichtigt sein? Um was für eine Zahl an Leuten handelt es sich? Wie erkennen wir die zweifelsfrei? Wo werden Leute untergebracht und versorgt? Es habe keinen echten Notfallplan gegeben, sagte van Thiel. Im politischen Bereich habe es zudem nicht wenige gegeben, die noch an den innerafghanischen Friedensprozess geglaubt hätten und, wie im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, dem Land weiter hätten helfen wollen.
Sich mit den anderen Handlungsträgern vor Ort, über den Informationsaustausch hinaus, zu vernetzen habe man versucht. Aber: „Die Koordinierung war schwierig“. Die einzelnen Bereiche, vom Bundesnachrichtendienst bis zum BMZ, hätten, trotz des intensiven Austauschs zur Einschätzung der Lage, parallel jeder für sich gearbeitet. „Wer in Afghanistan was macht, war weitgehend unklar seitens Berlin.“ Das Auseinanderfallen des in die Hauptstadt vermittelten Lagebildes, diese Nuancen trotz der relativen Einheitlichkeit der Einschätzungen vor Ort, habe die Entscheidungen in Berlin erschwert und verzögert.
UN-Perspektive auf die Situation in Afghanistan
Im zweiten Teil der öffentlichen Anhörung der Enquete Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ berichtete Deborah Lyons, von 2013 bis 2016 Botschafterin Kanadas in Afghanistan, von 2020 bis 2022 Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Afghanistan und Leiterin von UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) aus ihrer Perspektive über das Ende des internationalen Engagements in dem Land, die begangenen Fehler und die Erkenntnisse für künftige Einsätze.
UNAMA habe es als ihre Aufgabe verstanden, die unterschiedlichen internationalen Akteure in Afghanistan zusammenzubringen, von der Nato bis zu den Geberländern, sowie auch die afghanische Regierung, damit die Staatengemeinschaft eine „gemeinsame Wissensbasis“ als Handlungsgrundlage habe. „Wir haben mit allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft gearbeitet und waren ein wichtiger Gesprächspartner.“ Man habe eine „sehr effiziente Rolle gespielt“ und geschaut, dass alle ihre Ziele erreichen.
Geringe Einflussmöglichkeiten der UN
Diese koordinierende Rolle sei lediglich dadurch limitiert worden, dass das zugrundeliegende Mandat der UNAMA nicht die nötige führende Rolle zugedacht habe, sowie durch das Vorpreschen einzelner Länder mit ihren unterschiedlichen Ressourcen, Ängsten und Interessen. Und schließlich habe auch UNAMA kaum Einflussmöglichkeiten auf die de facto bilateralen Verhandlungen in Doha zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban gehabt. Es wäre besser gewesen, wenn der UN stärker in die Verhandlungen einbezogen worden wäre und die Staatengemeinschaft geschlossen hinter UNAMA gestanden hätte, so Lyons.
Mit der Nato habe sich die Zusammenarbeit sehr gut entwickelt. UNAMA habe sich als Plattform entwickelt, auf der die Botschafter vor Ort miteinander in Kontakt gekommen seien. Ebenso mit Deutschland, das bei dem Einsatz stets ein Teamspieler gewesen sei.
Grassierende Korruption in Afghanistan
Lyons hob die zerstörerische Kraft der grassierenden Korruption in Afghanistan hervor. „Es ist der stille Terror, der unsere Bemühungen vor Ort untergräbt.“ Die Korruptionsbekämpfung müsse künftig einen noch höheren Stellenwert erhalten. Man müsse zudem aus dem Afghanistan-Einsatz lernen, die Nachbarländer bei einem Engagement stärker einzubeziehen. Diese müssten schließlich mit den Ergebnissen der internationalen Politik leben. Und man müsse bei internationalen Kriseneinsätzen immer eine nachhaltige Strategie verfolgen und ein geschlossenes Erwartungsmanagement betreiben.
Ihre Organisation habe sämtliche Themen der Sicherheit und wirtschaftlichen und staatlichen Aufbaus bearbeitet, berichtete Lyons. Mit elf Büros in den einzelnen Provinzen habe man den Kontakt zur Bevölkerung gesucht. Auch über den Zusammenbruch des internationalen Engagements im August 2021 hinaus habe man es geschafft in dem Land weiterzumachen. Leider hätten mittlerweile bei den Taliban wieder die hardliner die Führung inne. Aber: „Man muss vor Ort bleiben und dem Volk beistehen.“ Die Arbeit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages leiste zur Aufarbeitung und für künftige Kriseneinsätze wertvolle Arbeit.
Abzug und Verhandlung
Die Mitglieder der Kommission möchten unter anderem erfahren, wie die Sachverständigen die Pläne der Trump- und der Biden-Administration in Bezug auf den Abzug der US-Truppen seinerzeit einschätzten, wie sich das auf die politischen Optionen in dieser Phase auswirkte und welche Lehren sie aus diesen Erfahrungen für künftige Engagements ziehen würden.
Darüber hinaus möchte die Enquete-Kommission in Erfahrung bringen, wie sie die letzten Wochen des internationalen Engagements in Afghanistan wahrgenommen haben und wie sie die Abstimmungen vor Ort in Kabul mit den internationalen Partnern und der afghanischen Regierung in dieser Zeit einschätzen. Schließlich möchte die Kommission von den Sachverständigen wissen, wie damals aus ihrer Sicht die Zusammenarbeit zwischen der UN Assistance Mission in Afghanistan (Unama) und der Nato funktionierte und wie die Rolle Deutschlands zu bewerten war. (ll/19.06.2023)