Zeit:
Montag, 12. Juni 2023,
15.45
bis 17.15 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal MELH 3.101
Gesundheitsexperten begrüßen im Grundsatz die Arzneimittelreform zur Verhinderung von Lieferengpässen, sehen jedoch bei den geplanten Regelungen deutlichen Nachbesserungsbedarf. So warnten die Krankenkassen in einer Anhörung über den Gesetzentwurf (20/6871) der Bundesregierung vor steigenden Kosten. Pharmafirmen beklagten ihrerseits den hohen Kostendruck. Die Sachverständigen äußerten sich am Montag, 12. Juni 2023, in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Das sogenannte Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) sieht Änderungen im Bereich der Festbeträge, Rabattverträge und der Versorgung mit Kinderarzneimitteln vor. Für Kinderarzneimittel gelten künftig weniger strikte Preisregeln, Festbeträge werden abgeschafft. Pharmafirmen können ihre Abgabepreise für solche Arzneimittel einmalig um bis zu 50 Prozent des zuletzt geltenden Festbetrages oder Preismoratoriums anheben.
Der Entwurf sieht außerdem vor, dass Preisinstrumente für versorgungskritische Arzneimittel bei einem Engpass gelockert werden können. Sollte es zu wenige Anbieter geben, können Festbetrag oder Preismoratorium einmalig um 50 Prozent angehoben werden. Ferner müssen Antibiotika mit Wirkstoffproduktion in der EU und im Europäischen Wirtschaftsraum bei Ausschreibungen von Kassenverträgen zusätzlich berücksichtigt werden. Auf diese Weise soll die Anbietervielfalt erhöht werden. Die Verfügbarkeit von Arzneimitteln soll zudem mit neuen Austauschregeln für Apotheken gestärkt werden.
Weltmarktlage und Kostendruck
Der AOK-Bundesverband erklärte, die Freistellung ganzer Arzneimittelgruppen von Rabattverträgen und Festbeträgen sowie die Anhebung von Preisobergrenzen um bis zu 50 Prozent seien kritisch zu hinterfragen. Dem liege die falsche Annahme zugrunde, dass in erster Linie ein zu großer ökonomischer Druck im generischen deutschen Markt ursächlich sei für die Lieferengpässe. Dies sei jedoch kaum nachvollziehbar, denn das Phänomen sei weltweit zu beobachten.
Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) machte hingegen den Kostendruck für die Probleme verantwortlich. Dies führe zu einer Marktverengung auf wenige Produzenten und zur Abwanderung von Produktionskapazitäten in Drittländer mit geringeren Produktionskosten. Das nun einsetzende Umdenken sei zu begrüßen, jedoch umfasse die Arzneimittelversorgung nicht nur die Generikaproduktion, sondern auch die Erforschung und Herstellung innovativer Arzneimittel.
Hinweis auf lange Vorlaufzeiten
Der Verband Progenerika hob die langen Vorlaufzeiten bei der Umstellung der Produktion von Arzneimitteln hervor. Die Vorgaben für die Diversifizierung von Lieferketten müssten für alle Rabattverträge und im gesamten Generikamarkt gelten. Bei versorgungskritischen Arzneimitteln müssten höhere Preise für einen längeren Zeitraum gewährt werden, um Anreize für eine veränderte Produktionsplanung zu schaffen.
Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) gehen die Regelungen teilweise nicht weit genug. Nicht nur Antibiotika und Arzneimittel zur Fiebersenkung von Kindern mit den Wirkstoffen Paracetamol und Ibuprofen seien knapp, sondern auch andere Arzneimittel in kindgerechten Darreichungsformen. Der Entwurf sollte breiter gefasst werden, um Kinder bei der Arzneimittelversorgung nicht zu benachteiligen.
Experte: Keine Lösung der Engpassproblematik
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) verwies auf die zusätzliche Belastung für Apotheker, wenn Medikamente nicht lieferbar sind, und forderte eine angemessene Honorierung. Der vorgeschlagene Zuschlag von 50 Cent für den zusätzlichen Aufwand bei Lieferengpässen sei völlig unzureichend. Die ABDA schlug in der Anhörung einen Zuschlag von 21 Euro vor.
In der Anhörung machten mehrere Vertreter von Pharmaverbänden deutlich, dass mit den jetzt geplanten Regelungen vermutlich keine nachhaltige Lösung der Engpassproblematik zu erwarten ist. Sie verwiesen auf die unterschiedlichen Abschläge, die in ihrem Zusammenwirken keinen Anreiz darstellten, in Deutschland zu produzieren und zu forschen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit einer Reform der Arzneimittelversorgung will die Bundesregierung gegen Lieferengpässe vorgehen. Das sogenannte Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) (20/6871) sieht dazu Änderungen im Bereich der Festbeträge, Rabattverträge und der Versorgung mit Kinderarzneimitteln vor.
Für Kinderarzneimittel gelten künftig weniger strikte Preisregeln, Festbeträge werden abgeschafft. Pharmafirmen können ihre Abgabepreise für solche Arzneimittel einmalig um bis zu 50 Prozent des zuletzt geltenden Festbetrages oder Preismoratoriums anheben. Die Krankenkassen sollen die Mehrkosten übernehmen. In der Zukunft sollen keine Festbetragsgruppen mit Kinderarzneimitteln mehr gebildet werden.
Ziel: Anbietervielfalt erhöhen
Über eine Änderung der Zuzahlungsregelung soll zudem der Preisdruck bei Festbeträgen gedämpft werden. So wird die Zuzahlungsbefreiungsgrenze von 30 auf 20 Prozent abgesenkt. Liegt der Preis mindestens 20 Prozent unter dem Festbetrag, kann der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) das Arzneimittel von der Zuzahlung freistellen. Der Entwurf sieht außerdem vor, dass Preisinstrumente für versorgungskritische Arzneimittel bei einem Engpass gelockert werden können. Sollte es zu wenige Anbieter geben, können Festbetrag oder Preismoratorium einmalig um 50 Prozent angehoben werden.
Ferner müssen Antibiotika mit Wirkstoffproduktion in der EU und im Europäischen Wirtschaftsraum bei Ausschreibungen von Kassenverträgen zusätzlich berücksichtigt werden. Auf diese Weise soll die Anbietervielfalt erhöht werden. Auch die Verfügbarkeit neuer Reserveantibiotika soll sich verbessern durch finanzielle Anreize zugunsten der Pharmaindustrie. So wird den Firmen ermöglicht, den bei Markteinführung gewählten Abgabepreis auch über einen Zeitraum von sechs Monaten beizubehalten. Die Verfügbarkeit von Arzneimitteln soll zudem mit neuen Austauschregeln für Apotheken gestärkt werden. Ist ein Arzneimittel nicht verfügbar, dürfen Apotheker ein wirkstoffgleiches Arzneimittel abgeben. Für den Austausch sollen Apotheken und Großhändler einen Zuschlag erhalten.
Frühwarnsystem zur Erkennung von Lieferengpässen
Ferner werden für Krankenhausapotheken und krankenhausversorgende Apotheken die Bevorratungsverpflichtungen für parenteral anzuwendende Arzneimittel und für Antibiotika zur intensivmedizinischen Versorgung erhöht. Der Versorgungssicherheit dient die verbindliche dreimonatige Lagerhaltung von rabattierten Arzneimitteln. Diese Regelung soll bei kurzfristigen Lieferengpässen oder einem Mehrbedarf die bedarfsgerechte Versorgung sicherstellen.
Um Lieferengpässen bei Arzneimitteln entgegenzuwirken, erhält das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zusätzliche Informationsrechte unter anderem gegenüber Herstellern und Krankenhausapotheken. Zudem soll ein Frühwarnsystem zur Erkennung von drohenden Lieferengpässen eingerichtet werden.
Antrag der Union
Die Unionsfraktion fordert von der Bundesregierung einen Beschaffungsgipfel, um die Versorgungssicherheit für Patienten mit Arzneimitteln zu gewährleisten. Die Versorgungslage mit Arzneimitteln habe sich in den vergangenen Monaten massiv verschlechtert. Fiebersäfte, Antibiotika, Insulin oder Krebsmedikamente seien zurzeit flächendeckend kaum noch erhältlich oder komplett vergriffen, heißt es in dem Antrag (20/5216) der Fraktion.
Eine Ursache für Lieferengpässe sei die Produktionsverlagerung und -konzentration vieler Arzneimittel oder Grundstoffe in asiatische Länder mit der Folge, dass Deutschland seinen Status als „Apotheke der Welt“ verloren habe. Die Abgeordneten fordern in dem Antrag unter anderem, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wichtige Arzneimittel, insbesondere für Kinder und Krebspatienten, wieder primär in Europa produziert werden und eine Reserve für Arzneimittel aufgebaut wird.
Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion fordert eine Neuregelung bei der Finanzierung der medizinischen Rehabilitation. 2018 habe die Arbeitsgemeinschaft Medizinische Rehabilitation bemängelt, dass die Vergütungssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um bis zu 30 Prozent unter den in einem Gutachten für notwendig erachteten Werten lägen, heißt es in einem Antrag (20/5813) der Fraktion. Der Grund sei, dass die in der Rehabilitation anfallenden Medikamentenkosten mit den Tagessätzen abgegolten sind.
Die Abgeordneten schlagen vor, die Medikamentenkosten aus den Tagessätzen herauszunehmen. Sie sollten unabhängig vom Kostenträger der Rehabilitation in voller Höhe von den Krankenkassen übernommen werden.
Antrag der Linken
Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln seien traurige Realität geworden, schreibt Die Linke. Die Apothekerschaft gehe von etwa 20 Millionen verordneten, aber nicht verfügbaren Arzneimitteln pro Jahr aus, heißt es in ihrem Antrag (20/6899). Die Ursachen seien vielfältig und reichten von anfälligen Liefer- und Produktionsprozessen der Industrie über Folgen der Globalisierung bis hin zu Rabattverträgen.
Die Abgeordneten fordern unter anderem, bei der momentan verhandelten EU-Arzneimittelstrategie robuste Liefer- und Produktionsprozesse inklusive der Diversifizierung von Herstellungsorten und Zulieferern sowie eine ausreichende Vorratshaltung zu berücksichtigen. Die Industrie sollte dazu verpflichtet werden, für wichtige Arzneimittel die Vorratshaltung eines Fünf-Monate-Bedarfs zu gewährleisten. Auch sollte ein wirksames Frühwarnsystem für drohende und bestehende Lieferengpässe eingeführt werden. Dazu gehöre eine gesetzliche Verpflichtung der Hersteller, alle bestehenden und erwarteten Engpässe inklusive der Gründe zu melden. Anreize zur Verlagerung von Produktionskapazitäten in die EU oder nach Deutschland sollten nach Ansicht der Fraktion durch Auflagen für mehr Versorgungssicherheit flankiert werden. Rabattverträge sollten ferner durch eine maßvoll verschärfte Festbetragsregelung ersetzt werden, um die Anbietervielfalt zu erhöhen. Die Importförderklausel im SGB V sollte gestrichen werden. (pk/12.06.2023)