Reformdebatte zu den Europawahlen
Der Bundestag hat am Donnerstag, dem 25. Mai 2023, einem Vorschlag für eine umfangreiche Reform der Europawahlen („Direktwahlakt 2022“) zugestimmt und zudem über die deutsche Zustimmung zur geplanten Wiedereinführung einer Sperrklausel beraten.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Als Vorlage diente einerseits ein Gesetzentwurf der Bundesregierung (20/6821), mit dem zunächst ein bereits im Juli 2018 vom Rat der Europäischen Union gefasster Beschluss in deutsches Recht umgesetzt werden soll: Deutschland muss danach für Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) künftig eine Sperrklausel von mindestens zwei Prozent einführen.
Da dies laut der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geltenden Vorgaben des Grundgesetzes widerspricht, ist für die deutsche Zustimmung die verfassungsändernde Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrats erforderlich. Mehrere Redner machten in der rund 70-minütigen Debatte deutlich, dass die Sperrklausel in Deutschland am unteren Ende, also bei zwei Prozent, angesetzt werden sollte. Der Gesetzentwurf wurde im Anschluss an die Debatte zur federführenden Beratung in den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen.
Antrag der Koalitionsfraktionen
Mit der zweiten Vorlage, einem Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (20/5990) zum Direktwahlakt 2022, macht der Bundestag von seinem Recht auf Stellungnahme nach Grundgesetzartikel 23 Gebrauch und empfiehlt der Bundesregierung, den jüngsten Vorschlag des EP für eine noch weitreichendere Reform der Europawahlen zu unterstützen, auch wenn sie „in Einzelfragen noch politischen und juristischen Klärungsbedarf, etwa bei der vorgesehenen Geschlechterparität“ sehen.
Der EP-Vorschlag sieht unter anderem vor, transnationale Listen und einen unionsweiten Wahlkreis zu schaffen und damit das Spitzenkandidatenprinzip zu stärken. Das Wahlalter soll europaweit auf 16 Jahre abgesenkt, ein in allen Ländern einheitlicher Wahltag am 9. Mai festgelegt und eine geschlechterparitätische Besetzung von Wahllisten realisiert werden. Der Antrag wurde mit der Mehrheit der Ampelfraktionen gegen die Stimmen der Opposition verabschiedet. Die Abstimmung erfolgte auf Grundlage einer Beschlussempfehlung des Europaausschusses (20/6891).
Grüne: Sichtbarer, lebendiger und europäischer
Chantal Kopf (Bündnis 90/Die Grünen) betonte, mit den Änderungen würde die Demokratie gestärkt und die Europawahl „sichtbarer, lebendiger und europäischer“. Würden Wahlkampfdebatten bisher aus nationaler Perspektive geführt, könnten sich die Bürgerinnen und Bürger mit gesamteuropäischen Parteiprogrammen und den dazu gehörigen Gesichtern künftig besser mit europäischen Themen auseinandersetzen.
Die Einführung der Sperrklausel, die von den Grünen kritisch gesehen wird, bezeichnete Kopf als „Zwischenschritt“ auf dem Weg zu einem neuen Europawahlrecht.
SPD: Sperrklausel stellt Arbeitsfähigkeit sicher
Jörg Nürnberger (SPD) nannte die Einführung der Sperrklausel notwendig, um die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments sicherzustellen. Um kleinere Parteien aber nicht zu benachteiligen, sollte sie nicht höher als zwei Prozent sein. Gleichwohl sei diese Änderung lediglich „der Spatz in der Hand“, der Direktwahlakt 2022 mit seinen weitergehenden Vorschlägen dagegen „die Taube auf dem Dach“.
Wie zuvor schon Kopf warf er der Union wegen ihrer „Fundamentalopposition“ vor, weil sie den Direktwahlakt 2022 ablehnt.
Union sieht „noch einige offene Fragen“
Für sie begründete Catarina dos Santos-Wintz (CDU/CSU) ihre Kritik. So sei insbesondere die geplante geschlechterparitätische Besetzung der Wahllisten „verfassungsrechtlich angreifbar“. Zwar müsse der Anteil von Frauen in politischen Ämtern erhöht werden, „aber nicht durch ein schlecht gemachtes Gesetz“. Dos Santos-Wirtz verwies auf Urteile der Verfassungsgerichte in Brandenburg und Thüringen, mit denen ähnliche Regelungen gekippt wurden.
Die Unionsabgeordnete sah auch bei den transnationalen Listen und dem Spitzenkandidatenprinzip „noch einige offene Fragen“, nannte im Gegenzug jedoch die Einführung der Sperrklausel eine „dringende Notwendigkeit“. Sie fördere die Funktionsfähigkeit des Parlaments und beuge dessen Zersplitterung vor.
AfD: Bürgerfern und undemokratisch
Ganz anders sehen es die Fraktionen von AfD und Linken. Die Zwei-Prozent-Hürde bedeute eine „schamlose Umgehung der Rechtsprechung der Bundesverfassungsgerichts“, urteilte Jochen Haug (AfD). „Es geht dabei nur darum, die Pfründe der großen Parteien gegenüber den kleinen auszubauen.“
Die Vorschläge des Direktwahlakt 2022 nannte er zudem „bürgerfern und im Kern undemokratisch“. So seien zwingemde Geschlechterquoten für Wahllisten „offensichtlich verfassungswidrig“. Transnationale Listen bedeuteten, dass die Wähler weitgehend unbekannte Personen und Positionen wählen sollten.
Linke begrüßt Absenkung des Wahlalters
Alexander Ulrich (Die Linke) warf den Antragstellern vor, „die Tür des Europäischen Parlaments für Kleinstparteien schließen zu wollen“. Es könne keine Rede davon sein, dass die Arbeitsfähigkeit des Hauses wegen neun deutscher Abgeordneter aus solchen Parteien gefährdet sei, schließlich gehörten acht von ihnen einer Fraktion an, betonte er.
Zur Geschlechterparität sagte Ulrich, es liege in der Hand der Parteien, ihre Listen aufzustellen. Bei der Linken würden immer mehr Frauen als Männer in den Parlamenten sitzen, „Sie haben es selbst in der Hand“. Die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre begrüßte der Linken-Abgeordnete, allerdings fragte er, warum dies nicht endlich auch für die Bundestagswahl geschehe.
FDP: Wählerwillen nicht durch Quoten einschränken
Kritik an der Reform kam auch aus der Ampel selbst. So halte es auch die FDP nicht für sinnvoll, „den Wählerwillen durch Quoten einzuschränken“, stellte Valentin Abel für seine Fraktion klar. Dies sei außerdem nicht vereinbar mit der Verfassung.
Dennoch habe der Direktwahlakt 2022 das Potenzial, die europäische Demokratie und den Dialog der europäischen Institutionen nachhaltig zu stärken. Statt einer Fragmentierung brauche es klare Mehrheitsverhältnisse. Auch die Absenkung des Wahlalters, transnationale Listen und ein unionsweiter Wahlkreis bezeichnete Abel als entscheidenden Schritt zum Zusammenwachsen der europäischen Familie. (joh/25.05.23)