Gesundheit

Bilanz zur Migration von Fachkräften im Gesundheitswesen

Zeit: Montag, 22. Mai 2023, 17.15 bis 18.45 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 600

Die Fachkräftelücke im Gesundheitswesen unter anderem mit ausländischen Bewerbern schließen ohne dabei anderen Ländern dringend benötigtes Personal wegzunehmen: Wie das zusammenpasst, darum ging es im öffentlichen Fachgespräch des Unterausschusses Globale Gesundheit am Montag, 22. Mai 2023.

Kritischer Mangel an Gesundheitsfachkräften

Alarmierende Zahlen rief Dr. Tine Hanrieder von der London School of Economics and Political Science in Erinnerung. Demnach fehlten weltweit zwischen, konservativ gerechnet, sieben Millionen bis zu geschätzt 30 Millionen Gesundheitsfachkräfte, von Ärztinnen und Ärzten bis hin zu Pflegekräften, in 55 Ländern herrsche laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein kritischer Mangel an Gesundheitsfachkräften. Wenn die Arbeitsbedingungen nicht mehr stimmten, die Entlohnung zu niedrig sei, oder einfach der Wunsch nach Veränderung bestehe, machten sich die Arbeitnehmer, im Gesundheitswesen seien dies überwiegend Frauen, auf die Suche nach einem neuen Job, oftmals auch im Ausland. Die Fachräftemigration sei eine Realität. Deutschland ein Zielland für viele.

Mehrere hundert private Rekrutierungsagenturen seien zudem von Deutschland aus im Bereich der Anwerbung tätig. Während der Zustrom von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem EU-Binnemarkt leicht rückläufig sei, kämen immer mehr Arbeitskräfte aus Drittländern, von immer weiter weg. Hanrieder wies darauf hin, dass die Rekrutierung ein staatlich schwach regulierter Bereich sei, nur ein Teil der in diesem Bereich tätigen Unternehmen akzeptiere ein selbstverpflichtendes Siegel für faire Anwerbung, und plädierte für eine stärkere staatliche Regulierung. Während die Branche im Großen und Ganzen die für diesen Bereich erlassenen WHO-Regeln von 2010 achte (WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel) und keine Kräfte aus den 55 unterversorgten Ländern rekrutiere, passiere im zwischenstaatlichen Bereich bilateraler Gegenleistungen, die darauf zielten, dass Abwerbungen einen gegenseitigen Nutzen nach sich ziehen müssten, etwa in Form von Infrastrukturinvestitionen, wenig.

Pflegefachkräfte suchen Beratung

Mousa Othman vom Fachbüro Faire Integration beim Deutschen Gewerkschaftsbund Bildungswerk unterstrich, dass vor allem Pflegefachkräfte die Beratungsstellen in Deutschland aufsuchten. Diese hätten zumeist unter sozialem Druck ihre Heimat verlassen und wollten sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Der soziale und wirtschaftliche Erfolg stehe für diese, meist Frauen, an erster Stelle. Das Fachbüro leiste für die auf dem deutschen Arbeitsmarkt unerfahrenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dringend nötige Beratungsarbeit: Welche Rechte und Pflichten haben sie? Was für Lohnansprüche? Wie können sie sich gewerkschaftlich organisieren? „Die Menschen kennen sich nicht aus und fühlen such unter Druck“, sagte Othman. Bedarf herrsche an auch in englischer Sprache ausgefertigten Arbeitsverträgen, Aufklärung über den Umgang mit Arbeitszeiten oder den Umgang mit Klagen.

Ein Teil der Anwerbeagenturen arbeite nicht sauber, behalte originale Dokumente ein, erlege den Vermittlungskunden hohe Gebühren und eine Bindungsdauer auf oder gebe sogar Fehlinformationen, etwa, dass man auch für einen Sprachkurs aufkomme oder bei der Wohnungssuche und Kinderbetreuung helfe. Um die Arbeitnehmer zu schützen, Ausbeutung vorzubeugen und letztlich auch, um den Standort attraktiv zu halten, müsse die privat organisierte Vermittlung besser kontrolliert werden. Die Anmeldung und Überwachung neuer Arbeitsverhältnisse solle durch eine staatliche Institution wie die Bundesagentur für Arbeit geschehen. Auch müssten die Aufenthaltsrechte für Pflegefachkräfte aus Drittstaaten verbessert, die Fristen für Klagen gegen den Arbeitgeber verlängert sowie die Beratungsstrukturen weiter ausgebaut werden.

Einzelne schwarze Schafe und kriminelle Einzelfälle nicht als regelhaft darzustellen wünschte sich Norbert Grote vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e. V., der für 13.000 Mitgliedsunternehmen im Bereich der Langzeitpflege stehe, die ihr Personal unter anderem auch mit Hilfe der privaten Vermittlungsagenturen rekrutierten. Nahezu 100 Prozent der Mitglieder fühle sich an das selbstverpflichtende Gütesiegel des Verbandes ebenso wie an den WHO-Verhaltenskodex zur Fachkräftezuwanderung gebunden. Auf die privaten Agenturen sei man angewiesen. „Sonst kommen wir nicht auf die Menge.“ Man brauche in den kommenden Jahren „hunderttausende“ neue Fachkräfte. Die Arbeitgeber seien in echter Not.

Angebotskrise der Pflegeinfrastruktur

Man erlebe auch, dass nicht immer alles gut laufe. Gegen mehr staatliches Engagement bei Anwerbung und Anerkennung habe man nichts. In den drei Bereichen: „Ausbildung, Beschäftigungspotenzial in Deutschland heben und Zuwanderung“ sei in den vergangen zwanzig Jahren vor allen in den ersten beiden etwas in Bewegung geraten. Beim dritten Punkt sei jedoch „mangelnder politischer Wille dominant“ gewesen. Jetzt versucht man dort gesetzgeberisch voranzukommen. Politik und Gesellschaft hätten die Dimension des Problems erkannt. Man steuere „auf eine schlimme Situation“ zu, die sich bereits jetzt bemerkbar mache: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten entwickele sich die Pflegeinfrastruktur zurück, Angebote im Bereich der ambulanten Tagespflege würden eingestellt. Kunden bestellten diese ab, da sie sich diese nicht mehr leisten könnten. Dabei erlebe man einen starken Anstieg der Bedürftigkeit.

Der Gesetzgeber habe für eine Qualitätssteigerung in der Ausbildung gesorgt. Zudem sollen mehr Pflegekräfte eingesetzt werden. Das sei gut. „Wir tun alles um auszubilden.“ Die Kosten dafür zahlten dabei die Verbrachter, nicht die Versicherungen. Wesentlicher Grund des ausgebremsten Wachstums sei jedoch der chronische Personalmangel. „Wir brauchen die Zuwanderung in dem Bereich. Sonst gehen die Angebote weiter zurück.“ (ll/23.05.2023)