Nach einer erneut kontroversen und teils hitzig geführten Debatte über die Zukunft der Pflegeversorgung hat der Bundestag die jüngste Pflegereform verabschiedet. Der Bundestag hat am Freitag, 26. Mai 2023, einer Entlastung von Pflegebedürftigen zugestimmt. In namentlicher Abstimmung wurde ein Gesetzentwurf von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (20/6544) zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege mit 377 Stimmen gegen 275 Stimmen bei zwei Enthaltungen in einer vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung angenommen. Ein gleichlautender Entwurf der Bundesregierung (20/6869) wurde indes für erledigt erklärt. Mit der Reform sollen Pflegebedürftige und pflegende Angehörige entlastet und die Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung (SPV) stabilisiert werden. Ein dazu von der Fraktion Die Linke zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vorgelegter Änderungsantrag (20/6985) zur Finanzierung der häuslichen Pflege wurde mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und AfD gegen die Stimmen der Antragsteller abgelehnt.
Abgelehnt wurde mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen, CDU/CSU und Die Linke ein Antrag der AfD-Fraktion mit dem Titel „Pflegeversicherung – Bürokratie abbauen, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen entlasten“ (20/4669). Ebenfalls keine Mehrheit fand eine Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gute Pflege stabil finanzieren“ (20/6546) gegen das Votum der übrigen Fraktionen. Den Abstimmungen lag eine Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses (20/6983) zugrunde. Zu den Gesetzentwürfen hat der Haushaltsausschuss zudem einen Bericht gemäß Paragraf 96 der Geschäftsordnung des Bundestages zur Finanzierbarkeit (20/6984) eingebracht.
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen
Der Gesetzentwurf sieht bereits zum 1. Juli 2023 eine Anhebung des Pflegebeitrags um 0,35 Punkte auf 3,4 Prozent vor. Das soll Mehreinnahmen in Höhe von rund 6,6 Milliarden Euro pro Jahr bringen. Der Arbeitgeberanteil liegt paritätisch bei 1,7 Prozent. Ebenfalls zum 1. Juli 2023 wird der Pflegebeitragssatz nach der Zahl der Kinder weiter ausdifferenziert. Der Beitragszuschlag für Kinderlose soll von derzeit 0,35 auf 0,6 Beitragssatzpunkte steigen. Für Mitglieder ohne Kinder gilt künftig ein Pflegebeitragssatz in Höhe von vier Prozent.
In der häuslichen und stationären Pflege werden die Leistungen erhöht. So werden das Pflegegeld und die ambulanten Sachleistungen zum 1. Januar 2024 um fünf Prozent angehoben. Zum Jahresbeginn 2025 und 2028 werden die Geld- und Sachleistungen regelhaft und in Anlehnung an die Preisentwicklung dynamisiert. Das Pflegeunterstützungsgeld können Angehörige künftig pro Kalenderjahr für bis zu zehn Arbeitstage je Pflegefall in Anspruch nehmen und nicht nur einmalig. Gestaffelt angehoben werden mit Jahresbeginn 2024 auch die Zuschläge der Pflegekassen an die Pflegebedürftigen in vollstationären Pflegeeinrichtungen. Je länger die Verweildauer im Heim, umso höher der Zuschlag. Neu strukturiert und systematisiert werden die Regelungen beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach Paragraf 18 SGB XI.
Änderungen im Ausschuss
In den Beratungen hat sich der Gesundheitsausschuss auf einige Änderungen verständigt. Insgesamt billigte der Ausschuss zehn Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und FDP, darunter die Zusammenführung von Kurzzeit- und Verhinderungspflege zu einem flexibel nutzbaren Gesamtbetrag. Das sogenannte Entlastungsbudget soll zum 1. Juli 2025 wirksam werden. In der häuslichen Pflege können dann Leistungen der Verhinderungspflege (bisher bis zu 1.612 Euro) und Kurzzeitpflege (bisher bis zu 1.774 Euro) im Gesamtumfang von 3.539 Euro flexibel kombiniert werden. Für Eltern pflegebedürftiger Kinder mit Pflegegrad 4 oder 5 steht das Entlastungsbudget schon ab dem 1. Januar 2024 in Höhe von 3.386 Euro zur Verfügung und steigt bis Juli 2025 auf ebenfalls 3.539 Euro an. Dafür soll die ab 2025 geplante Dynamisierung der Geld- und Sachleistungen in der Pflege von 5 auf 4,5 Prozent abgesenkt werden.
Der Ausschuss ergänzte zudem eine Regelung, wonach die Bundesregierung dazu ermächtigt werden soll, den Beitragssatz in der Pflegeversicherung künftig durch Rechtsverordnung festzusetzen, falls auf einen kurzfristigen Finanzierungsbedarf reagiert werden muss. Eine solche Verordnung darf demnach nur unter bestimmten Voraussetzungen und bis zu einer bestimmten Größenordnung genutzt werden. Zudem muss die Verordnung dem Bundestag zugleitet werden, der sie ändern oder ablehnen kann. Damit werde einerseits die schnelle Reaktionsmöglichkeit gewährleistet, andererseits der Bundestag an dem Verfahren beteiligt, heißt es in der Begründung. Um die vom Bundesverfassungsgericht (BverfG) geforderte Differenzierung der Pflegebeiträge nach Kinderzahl möglichst unbürokratisch und effizient umsetzen zu können, soll bis zum 31. März 2025 ein digitales Verfahren zur Erhebung und zum Nachweis der Anzahl der berücksichtigungsfähigen Kinder entwickelt werden. Bis dahin soll ein vereinfachtes Nachweisverfahren gelten. Mit einer weiteren Änderung wird die Möglichkeit geschaffen, das Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit regelhaft mittels strukturierter Telefoninterviews zu prüfen, jedoch nur bei Folgebegutachtungen und nicht bei einer Erstbegutachtung eines Antragstellers oder bei der Prüfung der Pflegebedürftigkeit von Kindern.
Minister hebt Leistung der Angehörigen hervor
In der Schlussberatung würdigten Redner aller Fraktionen den herausragenden Einsatz pflegender Angehöriger, ohne die die Versorgung nicht zu leisten wäre. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erinnerte daran, dass Deutschland zu den Ländern mit der ältesten Bevölkerung gehöre, was für die Pflege eine besondere Herausforderung sei. Technische Hilfsmittel seien keine Lösung, denn Pflege habe auch mit Zuwendung und Nächstenliebe zu tun. Der Minister betonte, in der sozialen Pflegeversicherung gebe es keine Effizienzreserven. Ohne die Leistung der Angehörigen wäre die Pflegeversorgung nicht zu schultern.
Lauterbach räumte weiteren Reformbedarf ein, warnte aber zugleich davor, die Pflegeversicherung kaputt zu reden. Deutschland habe eine Absicherung in der Pflege, auf die andere Länder verzichten müssten. Die Pflegeversicherung sei trotz aller Defizite großartig, das dürfe nicht kleingeredet werden. „Das ist die Perle unseres Sozialstaates.“ Die Pflege sei auch nicht kaputtgespart worden, sondern die Ausgaben in der Pflege verdoppelten sich alle acht Jahre, das Geld sei richtig angelegt.
Der Minister kündigte für nächstes Jahr Vorschläge für eine breitere Finanzierung der Pflege an. Was die aktuelle Reform betrifft, sagte er: „Es ist keine Schande, mit wenig Geld gute Gesetze zu machen.“
CDU/CSU: Die Koalition fährt auf Sicht
Auch Diana Stöcker (CDU/CSU) sieht in der Pflegeversorgung eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen des Landes, die letztlich alle betreffe, denn alle Menschen hätten ältere Familienmitglieder, für die sie verantwortlich sind. Sie warf der Regierung vor, eine halbherzige Reform vorgelegt zu haben. „Sie hätten mit Ihrem Gesetzentwurf die Chance zu einem großen Wurf gehabt.“ Die Pflegestärkungsgesetzes der vergangenen Legislatur hätten weiterentwickelt werden können, sagte sie und fügte hinzu: „Das, was Sie uns vorlegen, ist keine Reform, sondern ein dürftiges auf Sicht fahren.“
Die Union erkenne zwar an, dass das Entlastungsbudget nun doch komme, allerdings komme es spät. Das sei den pflegenden Angehörigen kaum zu vermitteln. Stöcker mahnte: „Diese pflegenden Angehörigen sind der größte Pflegedienst der Nation. Sie brauchen dringend Entlastung.“ Zu begrüßen seien die Modellvorhaben zur Förderung von Unterstützungsmaßnahmen für Pflege im Quartier. Die Kommunen könnten vor Ort am besten den Handlungsbedarf beurteilen und Konzepte entwickeln. Allerdings brauche eine wirkliche Pflegereform ein nachhaltiges und generationengerechtes Konzept. Die Koalition bleibe mit ihrer Reform weit hinter den Ankündigungen aus dem Koalitionsvertrag zurück.
Grüne: Die Reform nur ein Anfang
Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen) geht davon aus, dass die jetzige Reform nur ein Anfang ist. Das Land stehe in der Pflege vor riesigen Herausforderungen, die schon seit Jahrzehnten absehbar gewesen seien. Alte Menschen seien immer öfter auf Unterstützung angewiesen. Die besondere Situation in der Pflege bestehe darin, dass die Nachfrage steige, es jedoch zu wenige Fachkräfte gebe. Insofern könne das Gesetz nur ein Schritt von mehreren sein.
Die pflegenden Familien müssten mehr Aufmerksamkeit bekommen, ohne sie wäre die Versorgung längst zusammengebrochen. Deswegen seien in der Reform Entlastungen vorgesehen. Schulz-Asche versprach: „Es ist heute nur ein Anfang einer weitreichenden Pflegereform.“ Jahrelang verpasste Reformen müssten nachgeholt werden.
AfD: Anhebung der Leistungsbeträge ist zu gering
Auch die AfD hält eine viel weiter reichende Reform für unerlässlich. Thomas Dietz (AfD) kritisierte in der Debatte die aus seiner Sicht zu geringe Anhebung der Leistungsbeträge. Die erste Erhöhung der Pflegeleistungen seit 2017 stehe in keinem Verhältnis zur offiziellen Inflation. Seiner Ansicht müssen die pflegenden Angehörigen wesentlich stärker unterstützt werden. „Dieses Gesetz ist eine Notoperation an einem schwer kranken Patienten, dem deutschen Pflege- und Gesundheitssystem.“ Über Jahrzehnte habe die Politik dabei zugesehen, wie dieser Patient an seine Belastungsgrenze komme.
Dietz rügte, es gebe einen Mangel an Investitionen und motivierten Fachkräften. Stattdessen würden Fachkräfte aus Ländern rekrutiert, die ein schwächeres Gesundheitssystem hätten. „Das ist unsoziales Verhalten und entspricht nicht unserem Verständnis von Fairness und Nachhaltigkeit.“
FDP: Umlageverfahren stößt an seine Grenzen
Nicole Westig (FDP) verteidigte die Reform und hob die zahlreichen Verbesserungen hervor. Sie räumte ein, dass die Verhandlungen nicht einfach gewesen seien und verwies auf die angespannte Finanzlage. „Wir mussten Prioritäten setzen, obwohl wir gerne mehr ermöglicht hätten.“
Die jetzt auf den Weg gebrachten Reformen kosteten viel Geld, daher müssten die Beiträge erhöht werden. Die FDP habe dem zugestimmt, um etwa Steuererhöhungen auszuschließen. Sie fügte hinzu, das Umlageverfahren in der Pflegeversicherung stoße an seine Grenzen. „Um die Pflege gerecht zu finanzieren, müssen wir umsteuern.“ Die Möglichkeiten dazu würden derzeit von Experten geprüft.
Linke fordert gerechte und nachhaltige Finanzierung
Ates Gürpinar (Die Linke) warf der Bundesregierung vor, sich einer gerechten und nachhaltigen Finanzierung der Pflege seit Jahren zu verweigern. Das Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege verdiene den Namen nicht, denn das nötige Geld werde von den Beitragszahlern genommen, darunter vielen armen Menschen.
Angesichts der hohen Inflation würden Leistungen faktisch gekürzt. Menschen würden belastet, nicht entlastet. „Es ist absurd, was Sie da tun.“ Die Dynamisierung der Pflegeleistungen komme so spät, dass jetzige Pflegefälle davon gar nicht mehr profitieren könnten. Dabei lägen die Lösungen durchgerechnet auf dem Tisch. Gürpinar forderte: „Lassen Sie uns jetzt umsteuern.“
SPD: Die Reform stellt wichtige Weichen
Dagmar Schmidt (SPD) erinnerte daran, dass von den Pflegeregelungen ganz konkret mehr als zehn Millionen Menschen betroffen seien, als Pflegebedürftige oder Angehörige. Die Pflege sei ein fundamentaler Wert der Daseinsvorsorge, der auch finanzielle Wertschätzung verdiene.
Sie räumte ein, dass mehr von den Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag hätten umgesetzt werden können, gleichwohl würden mit der Reform wichtige Weichen gestellt, durch die Familien entlastet würden, etwa über das Pflegeunterstützungsgeld. Die Reform sei jedoch nur ein erster Schritt, weitere müssten folgen.
Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion fordert in ihrem Antrag (20/4669) eine Entlastung der Pflegeversorgung von bürokratischen Vorgaben. Die Abgeordneten sprechen sich dafür aus, wieder eine Regelung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit ohne Hausbesuch nach Aktenlage durch einen Gutachter zu ermöglichen.
Beratungseinsätze sollten ohne Bezug zur Covid-19-Pandemie oder sonstige Befristung wieder per Telefon, digital oder per Videokonferenz stattfinden können. Hausbesuche sollte es nur geben, wenn Pflegebedürftige dies wünschten oder sich aus Sicht der Pflegeversicherung nach telefonischer, digitaler oder per Videokonferenz stattgefundener Beratung im Einzelfall die Notwendigkeit ergebe. Auch die Häufigkeit der routinemäßigen Beratungseinsätze sollte verringert werden.
Antrag der Linken
Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag (20/6546) eine nachhaltige und gerechte Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung. Die Bundesregierung lege einen Gesetzentwurf vor, der auf Kosten der Beitragszahler die Pflegeversicherung kurzfristig zu stabilisieren versuche. Neben der finanziellen Sanierung der Pflegeversicherung brauche es auch bessere Leistungen für die Versicherten und bessere Löhne für die Beschäftigten in der Pflege.
Die Abgeordneten fordern unter anderem, zur Gegenfinanzierung von sofortigen Leistungsverbesserungen übergangsweise Steuermittel des Bundes einzusetzen. Die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze sollten abgeschafft werden. Die Beiträge der Pflichtversicherten müssten auf alle Einkommensarten, also auch auf Kapitaleinkommen, ausgeweitet werden. Privat Pflegeversicherte sollen vollständig in das System der sozialen Pflegeversicherung einbezogen werden.
Das Pflegegeld, ambulante Sachleistungen, Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege sowie Zuschläge für langfristige stationäre Leistungen sollten um 20 Prozent angehoben werden. Alle Leistungen müssten zudem künftig jährlich entlang der aktuellen Teuerungsrate dynamisiert werden, heißt es in dem Antrag. (pk/26.05.2023)