Zeit:
Mittwoch, 19. April 2023,
14.45
bis 15.45 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 300
Mediziner und Fachverbände fordern gezielte Hilfe für Patienten, die an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankt sind. Benötigt würden eine spezialisierte Versorgung und eine verstärkte Forschung, erklärten Experten in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses über einen Antrag der Unionsfraktion (20/4886). Die Sachverständigen äußerten sich in der Anhörung am Mittwoch, 19. April 2023, sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Antrag der Union
In dem Antrag heißt es, ME/CFS sei eine schwerwiegende Multisystemerkrankung, die zu krankhafter Erschöpfung (Fatigue) und Verschlechterung der Symptome nach jeglicher Anstrengung (Post-Exertional Malaise/PEM) führe. Die Zahl der weltweit Erkrankten werde auf 17 bis 24 Millionen Menschen geschätzt. ME/CFS schränke die Lebensqualität der Betroffenen stark ein. Oft seien die Patienten auf Pflege durch Angehörige angewiesen. Über 60 Prozent der Betroffenen seien arbeitsunfähig, rund 25 Prozent könnten das Haus krankheitsbedingt nicht mehr verlassen oder seien sogar bettlägerig.
Die Abgeordneten fordern, den Aufbau der im Koalitionsvertrag genannten Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen für ME/CFS unverzüglich finanziell und strukturell zu fördern. Auch sollte Betroffenen der Zugang zu Gesundheits- und Sozialsystemen erleichtert werden. Rehabilitationsangebote für Angehörige müssten gefördert werden, um deren physische und psychische Belastung zu reduzieren und die schulische oder berufliche Teilhabe auch für schwer Erkrankte zu ermöglichen.
„Im toten Winkel des Gesundheitssystems“
Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS ist die Krankheit seit ihrer Einstufung als neurologische Erkrankung durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1969 „marginalisiert oder falsch eingeordnet“ worden. ME/CFS liege seit Jahrzehnten „im toten Winkel des Gesundheitssystems“. Versorgungsstrukturen müssten von Grund auf neu entstehen. Das Ausmaß der Unterversorgung zeigt sich nach Angaben der Gesellschaft im Vergleich zu der ebenfalls neurologischen Erkrankung Multiple Sklerose (MS).
Für ME/CFS gebe es in Deutschland eine Ambulanz für Erwachsene und eine für Kinder und Jugendliche, für MS-Kranke hingegen fast 200 Anlaufstellen. Weiterhin stünden für MS 16 zugelassene Medikamente zur Verfügung, für ME/CFS kein einziges. Es sei über Jahrzehnte versäumt worden, in die ME/CFS-Forschung zu investieren. Der Verband forderte eine langfristig finanzierte Forschung, eine Aufklärungskampagne und spezielle Abrechnungsmöglichkeiten für ME/CFS.
Zunahme von ME/CFS durch Corona erwartet
Die Betroffeneninitiative Long Covid Deutschland (LCD) erklärte, ME/CFS führe zu einem oft lebenslangen und hohen Grad an körperlicher Behinderung. Eine Subgruppe der Patienten mit Post-Covid-Syndrom erfülle nach sechs Monaten die Diagnosekriterien für ME/CFS. Durch die anhaltenden Infektionen mit Sars-Cov-2 sei von einer zunehmenden Zahl von ME/CFS-Erkrankungen im Zusammenhang mit Covid-19 auszugehen.
Da ME/CFS weder heilbar sei, noch ursächlich therapiert werden könne, entwickle sich die Krankheit zu einem zunehmenden Kostenfaktor für das Gesundheits- und Sozialsystem.
Verbesserung der Patienten-Versorgung verlangt
Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) sprach von einer wenig bekannten, sehr schweren Erkrankung. Mit Blick auf den Zusammenhang zwischen ME/CFS und Post/Long-Covid merkte der Verband an, der Verdacht auf zwei zugrundeliegende ähnliche postvirale Infektionssyndrome mit schwerwiegender Multisystembetroffenheit dränge sich geradezu auf.
Die Versorgung müsse sich sowohl für die Patienten mit gesicherter als auch mit Verdacht auf ME/CFS-Diagnose und für solche, die an einer ähnlichen Krankheitsausprägung infolge einer Sars-Cov-2-Infektion litten oder einen Verdacht aufwiesen, deutlich verbessern. Die Krankenhäuser hätten sich bereits um den Aufbau geeigneter Versorgungsstrukturen in Form von Spezialambulanzen bemüht.
Mehr Forschung gefordert
Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist die Diagnose ME/CFS schwierig. Es gebe auch keine objektiven diagnostischen Tests zur Bestätigung der Erkrankung. Erforderlich sei daher fast immer eine aufwendige symptomorientierte, differenzialdiagnostische Abklärung, häufig als Ausschlussdiagnose.
Die KBV befürworte eine Prüfung, inwiefern standardisierte Diagnostikpfade etabliert werden könnten. Unterstützt werde auch die Forderung nach einer intensivierten Forschung zu ME/CFS. Erst eine zielgerichtete Forschung könne effektivere Versorgungsformen ermöglichen.
Chronische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
Von chronischen Erkrankungen betroffen sind auch Kinder und Jugendliche. Die Elterninitiative NichtGenesenKids berichtet von einer stetigen Zunahme an Anfragen und Beitrittswünschen. Eltern und Großeltern wendeten sich an die Initiative, weil zuvor aktive und sportliche Kinder nach einer Corona-Infektion nicht mehr gesund würden oder neue Symptome entwickelten. Viele Eltern seien verzweifelt, weil kompetente Anlaufstellen zur Diagnostik ebenso fehlten wie Therapieoptionen und Verständnis für die Situation. Der Gesundheitszustand mancher Kinder verschlechtere sich so stark, dass ein Schulbesuch nicht mehr möglich ist. Damit breche das komplette soziale Umfeld weg.
In der Anhörung machten Sachverständige deutlich, dass eine frühzeitige Diagnose entscheidend sei, um eine mögliche weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Patienten zu verhindern. Uta Behrends von der Technischen Universität München sagte, die Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen sei aufwendiger als die bei Erwachsenen, zumal die Symptome unspezifischer ausfielen. Berücksichtigt werden müsse zudem, dass betroffene Kinder in der Ausbildung stünden und wichtige Zeit in ihrer Peergroup verlören. (pk/19.04.2023)