Zeit:
Montag, 17. April 2023,
14
bis 16 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4 900
Dass die Nahrungsmittelversorgung gesichert werden muss, darin waren sich am Montag, 17. April 2023, in einer Anhörung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft alle Sachverständigen einig. Wie der Weg dahin und das Ergebnis einer Anpassung der landwirtschaftlichen Produktion sowie der Lebensmittelherstellung in Zukunft aussehen werden, darüber herrschte unter den insgesamt acht Experten Dissens. Im Rahmen einer öffentlichen Anhörung wurde über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel „Nahrungsmittelversorgung sicherstellen - Selbstversorgungsgrad in Deutschland und Europa erhalten“ (20/5215) ausführlich diskutiert.
Importabhängigkeit der Landwirtschaft
Benedikt Bösel, Geschäftsführer des 3.000 Hektar großen Land- und Forstbetriebes „Gut und Bösel“ in Briesen, Ost-Brandenburg, plädierte für einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad bei Lebensmitteln in Deutschland. Seit dem Ukraine-Krieg habe man unter anderem auch erfahren, dass die deutsche Landwirtschaft zu stark von Importen abhängig sei, gerade auch bei Düngemitteln. Er warb für eine stärkere Ausrichtung zu einer regionalen, ökologischen Landwirtschaft, die Nährstoffkreisläufe schließe und Biodiversität fördere.
Auch Kerstin Pezda, Geschäftsführerin und Vorstandsmitglied von zwei Agrarbetrieben im Südosten Brandenburgs, die insgesamt 4000 Hektar bewirtschaften, warb für den Ausbau der Versorgung mit regional angebauten Lebensmitteln und für mehr Kreislaufwirtschaft. Der ländliche Bereich stelle bereits heute nicht nur Produktionsfläche bereit, sondern sorge für Arbeitsplätze. Damit das in Zukunft so bleibe und möglicherweise noch ausgebaut werde, forderte sie für ihre 80 Mitarbeiter und deren Familien „umsetzbare Rahmenbedingungen und mehr Planungssicherheit von der Politik“. Die Menge an Auflagen stelle auch für große landwirtschaftliche Betriebe oftmals Herausforderungen dar, bei denen viele nicht mehr konkurrenzfähig seien. Anstatt zu mehr regionaler Produktion komme es seit Jahren zu mehr Importen, geplante Handelsabkommen wie Mercosur würden diesen Trend noch verschärfen.
Einsatz neuer Technologien und Strategien
Dem schloss sich Richard Fuchs, Klimaforscher am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), in Garmisch-Partenkirchen, an. Europa habe sich in der Vergangenheit sehr von Lebensmittelimporten abhängig gemacht, mit dem geplanten Mercosur-Abkommen würden die Importraten noch weiter steigen. Er halte es für angebracht, die einheimische Produktion von Lebensmitteln zu erhöhen, dabei solle die Landwirtschaft jedoch auf „Praktiken einer nachhaltigen Intensivierung“ umsteuern. Dazu sei der Einsatz neuer Technologien wie beispielsweise neuer Gentechnik wie Crispr-Cas sinnvoll. Auch die Verbraucher müssten sich umorientieren und weniger Fleisch und Milchprodukte zu sich nehmen, dafür stärker auf Gemüse und Obst umschwenken.
In „der Anpassung des Konsumverhaltens und der Reduzierung von Lebensmittelverschwendung“ sieht auch Christian Henning vom Institut für Agrarpolitik und Agrarökonomie der Christian-Albrechts Universität Kiel einen gangbaren Ansatz. Jedoch bedarf es seiner Meinung nach „innovativer politischer Interventionen wie des Nudgings, also von Strategien zur Verhaltensänderung, die allerdings eher langfristig ihre Wirkung entwickeln“, so dass kurz- und mittelfristig der Hauptfokus auf der politischen Steuerung der Agrarproduktion liegen werde. Zusätzlich solle eine sozial gerechte und auch politisch durchsetzbare Umsetzung der Green Deal Ziele der Europäischen Union durch entsprechende Transferzahlungen an Verbraucher mit niedrigen Einkommen flankiert werden.
Transformation als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Dem schloss sich Peter Strohschneider, Vorsitzender der Zukunftskommission Landwirtschaft beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, an. Er wies auf die Transformation der Landwirtschaft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe hin. „Der Konsens, den Landwirtschaft, Wirtschaft und Verbraucher, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie die Wissenschaft gefunden haben, ist ein Wert, den es zu bewahren und zu mehren gilt“, sagte Strohschneider. Der Umbau des Agrar- und Ernährungssektors werde jedoch nicht ohne gesamtgesellschaftliche Anstrengungen möglich sein, aber er biete auch „große Chancen“, so der Experte.
„Diese Chance sollten Politik und Gesellschaft nützen“, sagte Peter Röhrig, geschäftsführender Vorstand beim Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW). Deutschland und Europa stünden in einer doppelten Verantwortung. „Wir müssen für eine ausreichende Agrarproduktion und Ernährung sorgen, aber auch Boden, Artenvielfalt und sauberes Wasser und ein ausgeglichenes Klima sichern, um die Produktionsmittel für die Landwirtschaft für künftige Generationen zu erhalten“, sagte Röhrig. Dem sei mit der heutigen Produktionsweise der Landwirtschaft nicht beizukommen. Bereits heute sei sichtbar, dass im Öko-Landbau natürliche Regelmechanismen gezielt eingesetzt würden, indem auch funktionelle Biodiversität gefördert werde. Die anhaltend großen Verluste bei der Artenvielfalt in Agrarlandschaften erforderten eine Umorientierung bei der Landbewirtschaftung. „Mit dem Artensterben haben wir eine Krise, die keinAufschieben engagierter Maßnahmen erlaubt“, warnte Röhrig. Essenziell sei, dass eine wirksame Reduktion von Einsatz und Risiko von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln erfolge.
Krieg, EU-Auflagen und steigende Energiepreise
Christian Ufen, Vorsitzender der Bundesfachgruppe Gemüsebau beim Zentralverband Gartenbau, warnte vor zu „harten und schnellen Maßnahmen“. Aktuell liege der Selbstversorgungsgrad von Gemüse in Deutschland bei rund 38 Prozent, bei Obst bei 20 Prozent. In der Regel seien es kleine und mittlere Familienunternehmen, die diese Kulturen anbauten. Der Ukraine-Krieg, die Auflagen der EU und steigende Preise für Energie hätten im vergangenen Jahr „eine kostentreibende und strukturwandeltreibende Dimension erreicht“. Ufen forderte „ein Bund- und Länderkonzept, um der extrem schwierigen Situation des deutschen Gartenbaus gerecht zu werden“.
Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Ernährungsindustrie, appellierte ebenfalls an die Verantwortung der Politik. Damit Deutschland auch in Zukunft Produktionsstätte für Lebensmittel bleibe, müssten die Energieversorgung für die kritische Infrastruktur der Ernährung sowie zielführende Maßnahmen für mittel- und langfristig wettbewerbsfähige Energiepreise gesichert und EU-Regeln zur Kreislaufwirtschaft harmonisiert werden. Die Ernährungsindustrie sei der viertgrößte Industriezweig Deutschlands mit rund 218 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2022. 35 Prozent der Produktion gingen in den Export. Die mit dem europäischen Green Deal angestrebte Transformation „zu einer nachhaltigen, aber auch resilienten Lebensmittelproduktion in Deutschland“ setze die Verfügbarkeit von landwirtschaftlichen Rohstoffen und Produktionsmitteln zu bezahlbaren und damit wettbewerbsfähigen Preisen voraus. Die nachhaltige und wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Erzeugung in Deutschland und Europa hänge somit unabdingbar mit einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Lebensmittelverarbeitung zusammen.
Antrag der Union
In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass der Green Deal der Europäischen Union „neu gedacht wird“. Die Ziele des Green Deal müssten weiterhin erreicht werden, aber im landwirtschaftlichen Bereich müssten die Fragen der Ernährungs- und Versorgungssicherheit sowie der Resilienz der Ernährungssysteme bei der Zielerreichung deutlich in den Vordergrund gerückt werden.
Um den Selbstversorgungsgrad in Deutschland und Europa zu erhalten, solle sich die Bundesregierung zudem dafür stark machen, dass es beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln nicht zu einem generellen Verbot in den sogenannten sensiblen Gebieten komme, wie es die EU-Kommission in ihrem ursprünglichen Vorschlag über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln vorsehe. Darüber hinaus gelte es, sich dafür einzusetzen, dass der Anwendungsbereich der EU-Industrieemissionsrichtlinie im Bereich der landwirtschaftlichen Tierhaltung nicht ausgeweitet werde. Der von der Bundesregierung geplante Umbau der Nutztierhaltung solle auf Grundlage der Empfehlungen des Kompetenznetzwerkes Nutztierhaltung (Borchert-Kommission) „unverzüglich“ angegangen werden und eine langfristige Finanzierung sichergestellt werden. (nki/17.04.2023)