1. Untersuchungsausschuss

Experten: Zusammenbruch Afghanistans durch Doha-Abkommen beschleunigt

Zeit: Donnerstag, 2. März 2023, 13.15 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal, PLH 4.900

Im 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan), der den Abzug aus Afghanistan und die chaotische Evakuierungsaktion nach dem Fall der Hauptstadt Kabul untersucht, haben am Donnerstag, 2. März 2023, in einer öffentlichen Anhörung Experten der USA und der Nato das Geschehen aus ihrer Perspektive geschildert.

Sowohl der Sondergeneralinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR), John Sopko, als auch SIGAR-Teamleiter David Young betonten, der Zusammenbruch der afghanischen Regierung sei durch zwei Entwicklungen beschleunigt worden: das Doha-Abkommen zwischen der Trump-Administration und den Taliban und die spätere Entscheidung des heutigen US-Präsidenten Joe Biden, die US-Truppen abzuziehen. Der Ausschluss der afghanischen Regierung von den Verhandlungen in Doha habe die Regierung in Kabul geschwächt. Außerdem sei das Abkommen sehr schwach gewesen, die Taliban hätten sich deshalb als Gewinner des Krieges inszenieren können.

„Fehler beim Aufbau der afghanischen Armee“

Die Experten unterstrichen jedoch auch, dass es kein anderes Ergebnis gegeben hätte, wäre die internationale Gemeinschaft länger in Afghanistan geblieben. Denn auch das Potenzial starker Staaten, wie die USA oder Deutschland, sei begrenzt. Daher müsse in Zukunft vor solchen Operationen überlegt werden, wie wichtig Länder wie Afghanistan für die eigene Sicherheit seien.

John Sopko hat zehn Jahre lang im Auftrag des US-Kongresses den Afghanistan-Einsatz der USA evaluiert. Dabei habe er systemische Herausforderungen festgestellt und diese dokumentiert, berichtete er im Ausschuss. So seien beim Aufbau der afghanischen Armee Fehler gemacht worden. „Wir haben eine moderne Armee geschaffen und sie mit hochtechnologischen Waffen ausgestattet“, sagte Sopko. „Doch als die Unterstützung aus dem Ausland beendet wurde, konnten die Afghanen diese Systeme nicht aufrecht erhalten.“

Konfliktdynamiken und Wiederaufbau

David Young sagte mit Blick auf die USA, dass man sich auf den Wiederaufbau von Staaten vorbereiten und die Konfliktdynamiken in diesen Ländern kennen müsse. „Auch die Schwäche unserer Institutionen hat zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung geführt“, urteilte Young: „Wir haben Menschen hingeschickt, die sich in den Bereichen nicht auskannten, in denen sie eingesetzt wurden. Als sie angefangen haben, Erfahrungen zu sammeln, haben wir sie wieder ausgeflogen.“

Auf die Frage, ob eine Institution wie SIGAR auch in Deutschland nützlich sein könne, antwortete John Sopko, er würde eine unabhängige Evaluierung empfehlen. Experten, die für Regierungsinstitutionen die Arbeit evaluiert hätten, seien zu ihm gekommen und hätten sich beschwert, weil ihre Berichte nur nach einer Autorisierung weitergeleitet worden seien. Man solle niemanden in eine Lage bringen, durch die eigene Arbeit finanzielle Nachteile zu befürchten, sagte er. Das sei jedoch seine persönliche Meinung.

Kurz vor dem Einmarsch der Taliban

Die Experten der Nato, John D. Manza und Stefano Pontecorvo, informierten die Mitglieder des Ausschusses über die Ereignisse in Kabul kurz vor dem Einmarsch der Taliban. Die Schwierigkeit bei der Evakuierung sei gewesen, dass die US-amerikanischen und britischen Truppen, die für die Sicherheit der Botschaften und des Flughafens verantwortlich gewesen seien, nicht mehr unter Nato-Kontrolle gestanden, sondern ihre eigenen nationalen Befehlsstrukturen gehabt hätten, erklärte der ehemalige Zivile Repräsentant der Nato, der Italiener Pontecorvo. Man habe auch gedacht, dass bis Oktober oder November Zeit für eine Evakuierung sei. Doch dann habe sich die Sicherheitslage sehr schnell geändert. Nachdem die privaten Sicherheitsdienste und afghanischen Sicherheitskräfte ihre Posten in der Grünen Zone verlassen hätten, sei er selbst zum Flughafen gegangen und habe dort die Evakuierung organisiert. Es sei alles sehr hektisch gewesen.

Manza, als ehemaliger Sekretär der Nato verantwortlich für die Operationen, berichtete, er habe mehrmals Vorschläge gemacht, den Nato-Einsatz einzuschränken. Seiner Meinung nach sei zu viel Geld für eine nicht nachhaltige Entwicklung ausgegeben worden. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung sei eine minimalistische und zivile Folgemission im Gespräch gewesen.

Nach dem Nato-Abzug

Er habe den Taliban nie vertraut, betonte Manza. Seiner Meinung nach hätten sie lediglich auf den Nato-Abzug gewartet, um dann das Land militärisch unter ihre Kontrolle zu bringen. Manche westliche Diplomaten seien optimistisch gewesen und hätten gedacht, die neue US-Administration würde eine andere Haltung einnehmen als die Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump. Manza erklärte aber, der endgültige Abzug aus Afghanistan sei in der Nato einvernehmlich beschlossen worden.

Es gebe eine alte Tradition in Afghanistan, erzählte Young. Wenn sich das Regime des Landes ändere oder die Eroberung einer Provinz durch den Feind bevorstehe, wechselten viele die Seiten. Die Taliban hätten die nicht öffentlichen Teile des Doha-Abkommens für ihre psychologische Kriegsführung benutzt und die Soldaten überzeugt, sich zu ergeben, anstatt für eine verlorene Sache ihr Leben zu lassen.

Situation bei der Luftwaffe

Im zweiten Teil der Anhörung konzentrierten sich die US- und Nato-Experten auf strategische Fehler beim Afghanistan-Einsatz der internationalen Gemeinschaft und die Evakuierung der Ortskräfte. John Sopko erklärte, dass sowohl er als auch viele Vertreter der Nato immer wieder darauf hingewiesen hätten, dass die Ziele der Operation nicht nachhaltig gewesen seien. Viele hätten nach dem Abschluss des Doha-Abkommens auch davor gewarnt, dass das vom Abkommen vorgegebene Zeitfenster zum Auseinanderfallen der afghanischen Regierung führen würde.

Die Abhängigkeit der afghanischen Streitkräften von US-Luftunterstützung sei bekannt gewesen. Denn die afghanische Luftwaffe selbst sei von ausländischen Subunternehmern abhängig gewesen, die die Flotte gepflegt und repariert hätten. „Wir haben gesagt, falls die Subunternehmer gehen, kollabiert die Luftwaffe und dann die afghanische Armee. So ist es auch gekommen“, sagte Sopko.

Wende auf dem Schlachtfeld

Pontecorvo teilte Sopkos Meinung: „In den zehn Jahren vor dem Doha-Abkommen haben afghanische Truppen keine Schlacht gegen die Taliban verloren. Nachdem die Subunternehmer das Land verlassen haben, verloren sie jede Schlacht.“

Die Experten waren sich einig, dass der Afghanistan-Einsatz zu keinem Zeitpunkt Erfolgsaussichten hatte. Die Kultur sei den westlichen Vorstellungen fremd gewesen, es sei nicht möglich gewesen, das Land zu entwickeln. John D. Manza wies darauf hin, dass man versucht habe eine Wirtschaft aufzubauen, doch es sei eine Fake-Wirtschaft entstanden. „Wir haben gesehen, dass die Leistung der Regierung zurückging, je mehr Geld wir ihr gegeben haben“, hob Manza hervor und fügte hinzu: „Auf gescheiterte Staaten können wir weniger Einfluss nehmen, als wir denken.“

Geldflüsse nach Afghanistan

Manza, räumte ein, dass es in Afghanistan auch einige Erfolge gegeben habe. Diese seien jedoch nicht nachhaltig gewesen. Heute könne man beispielsweise die Gehälter der Menschen nicht zahlen, denen die internationale Gemeinschaft Beschäftigung gebracht habe. Die Afghanen seien sehr glücklich gewesen, weil durch die Präsenz der internationalen Truppen Geld ins Land geflossen sei und die Wirtschaft geboomt habe. Das sei aber nur der Elite zugutegekommen. „Viele sind reich geworden“ unterstrich Manza. Für die Armen habe sich jedoch nichts geändert.

Pontecorvo bezeichnete die Zeit kurz vor und nachdem Kabul in die Hände der Taliban fiel als „unbeschreiblich und unüberschaubar“. „Wir hatten keine Angst vor den Taliban. Sie wollten den Abzug nicht verhindern. Doch wir machten uns Sorgen über andere Gruppen, wie Al-Qaida oder dem Islamischen Staat“, sagte Pontecorvo.

„Es wird ähnliche Missionen in der Zukunft geben“

Es habe mehrere Tage gedauert, bis sie entschieden hätten, die Ortskräfte zu evakuieren. Denn sie seien unverzichtbar für die Evakuierungsoperation gewesen. Erst am 18. August, also drei Tage nach dem Fall Kabuls, hätten sie den Beschluss gefasst, die Ortskräfte der Nato, lokale Mitarbeiter internationaler Organisationen und der Nichtregierungsorganisationen sowie besonders gefährdete Personen auszufliegen. „Was sonst passierte, was in Washington oder andere Hauptstädte diskutiert wurde, war vollkommen irrelevant“, so Pontecorvo: „Diese Entscheidung haben wir vor Ort getroffen. Niemand hat uns auch gesagt, wir sollten Busse organisieren. Das alles haben wir gemacht.“

Zum Schluss empfahl Pontecorvo, Afghanistan auch in der Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren. Denn nachdem die Taliban die Macht übernommen hätten, hätten mehrere Terrororganisationen ihre Zentrale in das Land am Hindukusch verlegt. Sopko erklärte daraufhin, er glaube nicht, dass die internationale Gemeinschaft jemals wieder in Afghanistan intervenieren werde. Dennoch gebe es viel aus dieser Erfahrung zu lernen. „Es wird ähnliche Missionen auch in der Zukunft geben“, sagte Sopko, „und diese werden wahrscheinlich nicht mehr so weit weg von Deutschland stattfinden, wie es in Afghanistan der Fall war.“

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/03.03.2023)