Geschichte

Plädoyer für Bildung und Austausch bei der Jugend­begegnung des Bundestages

Sich verstecken, nicht zeigen können, wer man ist – das verbindet die Lebensgeschichten von Rozette Kats und Klaus Schirdewahn, die nach ihren Reden anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Plenum des Deutschen Bundestages mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu einer Diskussion mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der diesjährigen Jugendbegegnung zusammen kamen.

Wie bereits im Plenum schilderte Rozette Kats am Freitag, 27. Januar 2023, eindringlich, dass das Unterdrücken der eigenen Identität sie krank gemacht habe. „Alles, mit dem ich nicht umgehen konnte, habe ich in einen Eimer gesteckt, den ich in mir drin getragen habe, ein großer schwarzer Eimer. Als ich ungefähr 50 Jahre alt war, ist der Eimer übergelaufen und ich habe eine Therapie begonnen.“ Diese Therapie zusammen mit einer Konferenz in Amsterdam, auf der sie andere Menschen kennenlernte, die wie sie den Holocaust nur deshalb überlebt hatten, weil ihre jüdische Identität verheimlicht wurde, hätten ihr geholfen, sie selbst zu sein und sich befreit zu fühlen. Sie appellierte deshalb: „Junge Menschen sollen wissen, wie wichtig es ist, Verantwortung für sich und das eigene Leben und für andere zu übernehmen.“ 

Kats: Raus aus den Blasen

Leonhard Klepikow, Teilnehmer der Jugendbegegnung, der sich im Begegnungsprojekt Meet a Jew engagiert, sagte, dass die Bundesregierung zwar bereits viel getan habe, um jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer zu machen, aber dass dies noch nicht ausreiche. So wollte er von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas wissen, was die Ursache dafür sei, dass Antisemitismus zunehme, und was dagegen unternommen werden könne.

„Vielleicht fehlt die Begegnung“, antwortete die Präsidentin. „Wir müssen gegenseitiges Interesse aneinander haben, übereinander lernen und uns austauschen.“ Wenn man jemanden persönlich kenne, ändere das vieles. Über die persönliche, die emotionale Begegnung könne man Empathie entwickeln. Aber dazu brauche es auch den Willen. Einen Beitrag dazu könne auch gute Bildungsarbeit leisten und diese zu gewährleisten, sei Aufgabe des Staates. Nur so könne es gelingen, Mythen zu entkräften, die zwischen Menschen stünden. Dem pflichtet Rozette Kats bei. „Raus aus den Blasen“, forderte sie. Der persönliche Kontakt sei entscheidend. 

Bewusstsein schaffen in der Schule

Auf die Frage von Lena Schmidt, die über das Internationale Auschwitz-Komitee an der Jugendbegegnung teilnahm, welche Unterschiede Kats bei ihren Besuchen in Schulen in Deutschland und den Niederlanden wahrnehme, antwortete die Zeitzeugin, dass sie erstaunt darüber gewesen sei, wie viel Schülerinnen und Schüler in Deutschland über die Zeit des Nationalsozialismus wüssten. Dennoch würden die meisten ihr sagen, dass sie es als Bereicherung empfänden, mit ihr sprechen zu können. In den Niederlanden sei das Thema Holocaust kaum in den Stundenplänen vorgesehen. Es hänge dort deshalb immer sehr von den Lehrerinnen und Lehrern ab, wie gut die Klassen vorbereitet seien.

Dem stimmte Klaus Schirdewahn, der zweite Gastredner der Gedenkstunde, zu. Wenn er Schulen besuche, um darüber zu berichten, dass er nach Paragraph 175 des Strafgesetzbuches wegen der Liebe zu einem Mann in der Bundesrepublik Deutschland verurteilt und erst 2017 rehabilitiert worden sei, entscheide die Vorbereitung der Lehrer darüber, wie gut der Austausch mit der Klasse funktioniere. Er wolle Öffentlichkeit für das Thema schaffen und sich nicht mehr verstecken. Zugleich zeigte er sich besorgt, dass der queeren Community aus der Gesellschaft vielfach noch „das Gegenteil von Akzeptanz“ entgegengebracht werde. Der Paragraph 175 Strafgesetzbuch stellte seit dem Kaiserreich den Geschlechtsakt zwischen Männern unter Strafe. In beiden Teilen Deutschlands galt der Paragraph nach 1945 weiter – in der Bundesrepublik bis 1969 sogar in der Fassung der Nationalsozialisten. Vollständig gestrichen wurde er erst 1994. 

„Eine Generation, die es besser machen kann“

Dass sich dies ändern müsse, forderte auch die Bundestagspräsidentin. „Wir müssen zu einer Selbstverständlichkeit kommen“, sagte sie mit Blick darauf, dass homosexuelle Menschen nicht allein auf ihre sexuelle Orientierung reduziert werden sollten. „Sie sind einfach Menschen“, so Bas. Seit dem Jahr 2011 arbeite man im Bundestag an einem Konzept für das Gedenken an diejenigen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität von den Nationalsozialisten verfolgt, inhaftiert oder ermordet worden seien.

„Manchmal hängt es an Menschen, dass so etwas so lange dauert, manchmal ist einfach die Zeit noch nicht reif“, so Bas. Jetzt sei die Zeit reif gewesen, auch um in dieser Gedenkstunde über den Paragraphen 175 zu sprechen und damit zu zeigen, dass Verfolgung und Stigmatisierung für viele Menschen 1945 noch nicht vorbei gewesen seien. Sie verstehe die diesjährige Gedenkstunde als Auftakt für eine Debatte und ermutigte die jungen Menschen, ihren Beitrag für Akzeptanz und gegen Diskriminierung zu leisten: „Wir sitzen hier einer Generation gegenüber, die es besser machen kann.“

Die Podiumsdiskussion war einer der zentralen Programmpunkte der viertägigen Jugendbegegnung, im Rahmen derer sich rund 60 junge Erwachsene auf Einladung des Bundestages intensiv mit der Verfolgung sexueller Minderheiten im Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Neben Workshops und Diskussionen besuchten die Jugendlichen gemeinsam Erinnerungsorte wie die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen im Berliner Tiergarten. (nt/27.01.2023)