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Redebeitrag zu Mary Pünjer am 27. Januar 2023 gesprochen von Maren Kroymann

Liebe Mary Pünjer,
eigentlich solltest Du hier stehen und berichten. Solltest uns Deine Sicht auf Deine Lebensgeschichte erzählen, die, trotz mühsam aufgespürter Dokumente, noch immer unvollständig ist.
Selbst über Deinen Tod wurde bis zuletzt gelogen. Angeblich bist Du 1942, mit 37 Jahren, im Konzentrationslager Ravensbrück an Herztod gestorben. Aber Du bist nicht „gestorben“. Du bist ermordet worden – in der Gaskammer einer sogenannten Heilanstalt, die aber auch als Tötungsanstalt missbraucht wurde. Selektiert für die Vergasung von einem deutschen Arzt, der auf der Diagnose-Karte vermerkt, dass Du eine „sehr aktive ,kesse‘ Lesbierin“ gewesen seist. Wie kam der Arzt zu der tödlichen sogenannten „Diagnose“? Was würdest Du uns heute sagen, wenn wir Dir zuhören könnten? 
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Diese Fotos zeigen Dich im März 1941 als Häftling im Konzentrationslager Ravensbrück. Da bist Du 36 Jahre alt. Du hast nur noch etwas mehr als ein Jahr zu leben.
Was wissen wir über Dein Leben bis hierher? Geboren wirst Du 1904 in eine jüdische Kaufmannsfamilie in Wandsbek, das heute zu Hamburg gehört. Deine Eltern führen ein gut gehendes Damenkonfektionsgeschäft. Du kannst eine höhere Schule besuchen und schaffst 1922 Dein Abitur. Danach arbeitest Du zunächst im Geschäft der Eltern mit. Dein Vater stirbt 1926, ab jetzt leiten Deine Mutter und Dein Bruder Herbert das Geschäft. 1929, mit 25 Jahren, heiratest Du den nichtjüdischen Buchmacher Fritz Pünjer. Eure Ehe bleibt kinderlos.
Ab Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 ist auch Euer Familiengeschäft von Boykotten betroffen. Trotz aller Propaganda lässt Dein Mann sich nicht von Dir, seiner jüdischen Frau, scheiden. Das bietet Dir zunächst einen gewissen Schutz. 
Nach dem Pogrom vom November 1938, das die Nazis verharmlosend als „Kristallnacht“ bezeichnen, muss Deine Mutter das Geschäft aufgeben und es, wie auch ihr Wohnhaus, mit Grundstück weit unter Wert verkaufen. Dein Mann Fritz wird gleich nach Kriegsbeginn 1939 als Fahrer zum verstärkten Polizeischutz im besetzten Polen eingezogen, kommt aber immer wieder auch zurück nach Hamburg. 
Warum wirst Du am Abend des 24. Juli 1940 verhaftet? Es gibt darüber weder eigene Aussagen von Dir noch polizeiliche Dokumente. Du wirst zunächst in das Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel gebracht und dann, am 12. Oktober 1940, in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Auf der Zugangsliste ist hinter Deinem Namen das Wort „asozial“ vermerkt, nicht jedoch „jüdisch“. Du erhältst die Häftlingsnummer 4841. Auf Deiner Häftlingskleidung ist der schwarze Winkel der „Asozialen“.
Lagerdokumente aus Ravensbrück weisen ebenfalls aus, dass Du in den Barackenblöcken für „asoziale“ Häftlinge untergebracht bist, nicht in denen für jüdische Häftlinge. Einmal wirst Du vorübergehend zurück nach Hamburg transportiert und im 23. Kriminalkommissariat verhört. In dem Kommissariat, das vor allem für „sexuelle Delikte“ zuständig ist. Auch hier fehlen Protokolle der Verhöre. Jedenfalls scheint Deine langjährige Ehe wenig zu zählen angesichts der dort erhobenen Anklagen wegen lesbischen Verhaltens, die später ein KZ-Arzt gegen Dich verwenden wird.
Verfolgt werden auch Deine Geschwister: 
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Wir sehen Dich hier, vermutlich 1908, in Wandsbek, im Alter von vier Jahren. Du stehst lebensfroh in der Mitte, links neben Dir Dein älter Bruder Herbert und rechts Deine ältere Schwester Ilse. Deine Schwester Ilse wird 1941 als Jüdin zunächst nach Riga deportiert und schließlich im KZ Stutthof ermordet. Eurem Bruder Herbert gelingt mit Frau und Sohn 1938 noch die Flucht nach Amerika. 
Eure Mutter Lina Kümmermann wird im Juli 1942 als Jüdin zunächst nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportiert, wo sie im Mai 1944 mit 71 Jahren ebenfalls ermordet wird. 
Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in der NS-Zeit als „Asoziale“ ermordet wurden, gibt es nicht. Eine Schätzung des US-amerikanischen Holocaust-Museums in Washington aus dem Jahr 2019 geht von circa 70 000 Opfern aus.
Was war anders an Mary Pünjer? Und was genau bedeutete die Häftlingskategorie „asozial“? Anders als bei homosexuellen Männern war lesbisches Verhalten nach keinem Paragrafen im Gesetzbuch strafbar. Unter „asozial“ wurden verschiedene Verhaltensformen zusammengefasst, die im Nazi-Jargon von „arbeitsscheu“ über „Prostitution“, „Vagabundieren und Bettelei“ bis zur „Veruntreuung öffentlicher Unterstützungsleistungen“ reichten. Gefährlich wurde es vor allem dann, wenn sogenannte Fachärzt/-innen eine „Vererbung asozialen Verhaltens“ attestierten und damit auch eine „Ausmerzung erbkranken Lebens“ anordnen konnten.
In einigen Fällen wurden lesbische Frauen gleichermaßen als „asozial“ eingestuft. Diese Einstufung traf auch Mary Pünjer. Aber hatte sie wirklich Kontakte mit lesbischen Frauen? Und war ihre Ehe nur eine Scheinehe, um sie als Jüdin und Lesbe doppelt zu schützen? Oder war eine Denunziation der Auslöser für ihre Verhaftung? Hatte sie wirklich „lesbische Lokale“ in Hamburg „fortgesetzt aufgesucht“ und dort „Zärtlichkeiten ausgetauscht“? 
Damit begründete später der KZ-Arzt Friedrich Mennecke in Ravensbrück seine Selektion. Zusammen mit rund 1 600 anderen Frauen schickte er Mary Pünjer, vermutlich zwischen Februar und April 1942, in die sogenannte Heil- und Pflegeanstalt Bernburg – mit dem Ziel der Ermordung durch Vergasen.
Im Deutschen Bundestag dauerte es bis zum Februar 2020, dass die Opfergruppe der „Asozialen“ als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt wurde. Ein Gedenken im Bundestag steht noch immer aus.
In der Gedenkstätte Ravensbrück mündete ein langer fachlicher Disput erst im letzten Jahr 2022 in einen Kompromiss, um mit einer Gedenkkugel an die lesbischen Frauen zu erinnern, die dort umkamen. Nach Jahrzehnten der Maskierung und Verschleierung können auch heute noch immer nicht alle Geschichten vollständig und eindeutig erzählt werden. Immerhin aber gibt es endlich und zunehmend Bemühungen von Historiker/-innen, nicht mehr zunächst und allein die Kriterien und Gesetze der Nazis als Maßstab für eine Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus zuzulassen.
Nach offiziellen Angaben verstarb Mary Pünjer am 28. Mai 1942 im Konzentrationslager Ravensbrück mit 37 Jahren an „Herzversagen“. Das sind zweifellos Angaben, um die Mordaktion und den wirklichen Tötungsort in der sogenannten Heilanstalt zu verschleiern.
Zwei Tage danach wurde ihrem Mann mitgeteilt, dass er die Urne seiner Frau auf eigene Kosten anfordern könne. Fritz Pünjer tat es und ließ sie am 4. September 1942 auf dem Jüdischen Friedhof Jenfelder Straße in Hamburg beisetzen.
Was würdest Du uns heute sagen, Mary?
Angeklagt als „asozial“, selektiert und ermordet als „Lesbierin“: Was davon stimmte, was wurde Dir unterstellt? 
Was war Dir wichtig? Gab es Liebe und Glück in Deinem Leben?
Immerhin erinnert ein Stolperstein in Hamburg-Wandsbek an Dich. 
Wie gern hätten wir Dir zugehört ...

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