Zeit:
Mittwoch, 19. Oktober 2022,
14.30
bis 16.30 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal 3 1001
Die von der Bundesregierung geplante Triage-Regelung wird von Fachverbänden im Grundsatz begrüßt. Allerdings fordern die Experten einige Nachbesserungen am Gesetzentwurf, um die Reform in der Praxis handhabbar zu machen. Die Sachverständigen äußerten sich in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses am Mittwoch, 19. Oktober 2022, sowie in schriftlichen Stellungnahmen. Zu der Anhörung waren mehr als 70 Fachverbände und Einzelsachverständige geladen.
Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) reagiert die Bundesregierung auf die sogenannte „Triage-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Der Gesetzentwurf (20/3877) diene dazu, das Risiko einer Benachteiligung insbesondere aufgrund einer Behinderung bei der Zuteilung aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten zu reduzieren, heißt es in der Vorlage. Demnach darf die Zuteilungsentscheidung nur nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patienten getroffen werden. Mit der Neuregelung werde klargestellt, dass bei der Zuteilungsentscheidung niemand benachteiligt werden dürfe, insbesondere nicht wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Der Entwurf enthält ferner Regelungen zum Verfahren bei der Zuteilungsentscheidung.
Unsicherheiten im Krankenhausalltag
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Dezember 2021 vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie entschieden, dass sich aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes für den Staat der Auftrag ergibt, Menschen mit Behinderung bei knappen intensivmedizinischen Kapazitäten vor Benachteiligung zu bewahren. Bestehe das Risiko, dass Menschen bei der Zuteilung knapper Ressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichte sich der Schutzauftrag zu einer konkreten Schutzpflicht.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte, gesetzliche Klarstellungen zu den ethisch hochproblematischen Triage-Entscheidungen seien zu begrüßen. Allerdings sei der Bezugspunkt einer übertragbaren Krankheit unspezifisch und könne im Krankenhausalltag zu Unsicherheiten führen. Der Krankenhausverband plädierte für eine Eingrenzung der Vorgaben auf eine Pandemie. Zudem könne es nicht nur aufgrund einer ansteckenden Krankheit oder Pandemie zur Triage kommen. Zahlreiche weitere Notsituationen seien denkbar, die eine Priorisierung bei der Behandlung erforderten, etwa Unfälle und andere Großschadenereignisse oder Naturkatastrophen mit vielen Verletzten. Ferner sollte nach Ansicht der DKG in den gesetzlichen Regelungen berücksichtigt werden, dass die geplanten Entscheidungsabläufe nur dann eingehalten werden können, wenn ein geordnetes Verfahren überhaupt noch möglich ist. Ärzte seien in absoluten Krisensituationen gezwungen, Zuteilungsentscheidungen sehr schnell zu treffen, gab der Verband zu bedenken.
Ex-Post-Triage untersagt
Nach Ansicht des Sozialverbandes VdK müssen Bund und Länder alles tun, um Triage-Situationen zu verhindern. Dazu gehörten neben einem Monitoring des Infektionsgeschehens und einem wirksamen Infektionsschutz auch ausreichende Behandlungskapazitäten. Zu begrüßen sei, dass der Abbruch einer intensivmedizinischen Behandlung zugunsten eines Patienten mit größeren Überlebenschancen (Ex-Post-Triage) ausdrücklich untersagt werden solle. In dem Gesetzentwurf fehle jedoch eine Meldepflicht für Kliniken zu Triage-Fällen an eine zentrale Stelle und eine Evaluation dieser Fälle.
Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und der Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) fordern hingegen nachdrücklich die Möglichkeit einer rechtssicheren Ex-Post-Triage, weil es andernfalls keine Zuteilungsentscheidungen in der Intensivmedizin geben würde und das Gesetz ins Leere liefe. Dem Entwurf zufolge wäre die in einer Notaufnahme oder im präklinischen Rettungsdienst unter maximalem Zeitdruck und mit einer unvollständigen Datenlage getroffene Entscheidung für eine Therapie unumkehrbar, selbst wenn sich im weiteren Verlauf der Behandlung die Überlebenswahrscheinlichkeit des Patienten als gering herausstellen sollte. Ein Verbot der Ex-post-Triage würde die Ärzte erheblich verunsichern, weil die Befürchtung bestünde, dass eine einmal begonnene Intensivbehandlung nicht abgebrochen werden dürfe, argumentierten die Medizinverbände. Die Bundesärztekammer (BÄK) und andere Sachverständige äußerten sich in der Sitzung ähnlich. Die Frage der Ex-Post-Triage spielte in der Anhörung eine herausgehobene Rolle.
„Behinderte im Gesundheitswesen benachteiligt“
Die Risiken für Menschen mit Behinderung bleiben nach Einschätzung des Beirates der Angehörigen im Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) mit der Reform bestehen. Eine Triage-Entscheidung auf Basis aktueller und kurzfristiger Überlebenswahrscheinlichkeit könne kaum objektiv sein. Es sei nicht auszuschließen, dass die Entscheidung durch die negativ geprägte Sicht des Arztes auf die Grunderkrankung oder Behinderung beeinflusst werde. Es könne sein, dass Ärzte kaum Erfahrungen mit speziellen Behinderungen hätten. Daher werde das Zuteilungsverfahren abgelehnt.
In der Anhörung beklagten Sachverständige, dass Menschen mit Behinderung bei der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs nur unzureichend berücksichtigt worden seien, obwohl die Reform auf einer Verfassungsbeschwerde Betroffener gründe. Die Alltagserfahrungen von Menschen mit Behinderung bei Ärzten und im Krankenhaus wären als Grundlage für den Gesetzentwurf wichtig gewesen, hieß es, zumal Behinderte im Gesundheitswesen strukturell benachteiligt würden.
Die Diakonie Deutschland forderte, auch die „Triage vor der Triage“ zu verhindern. In der Pandemie sei es verschiedentlich dazu gekommen, dass Menschen, die in Pflegeeinrichtungen lebten, von einer Krankenhausaufnahme ausgeschlossen worden seien, damit die knappen Ressourcen zur Behandlung von Patienten mit besserer Prognose genutzt werden konnten. Eine solche „Triage vor der Triage“ müsse gesetzgeberisch untersagt werden. Ein diskriminierungsfreier Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung erfordere zunächst, dass alle Menschen überhaupt bis dorthin vorgelassen würden. (pk/19.10.2022)