Europäische Union

Experten uneins über Corona-Wiederaufbau­programm der EU

Über Chancen und Risiken der 750 Milliarden Euro umfassenden Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) als Hauptbestandteil des Corona- Wiederaufbauprogramms „Next Generation EU“ hat der Europaausschuss am Montag, 20. Juni 2022, mit acht Sachverständigen bei einer öffentlichen Anhörung diskutiert. Das Geld wird über gemeinsame europäische Anleihen am Kapitalmarkt aufgenommen und den Mitgliedstaaten in Form von Krediten und nicht zurückzahlbaren Zuschüssen ausgezahlt. Das befristete Aufbauinstrument „Next Generation EU“ soll dabei helfen, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern sowie langfristig das Wachstumspotenzial und die Widerstandsfähigkeit der EU-Volkswirtschaft zu stärken. Das Herzstück des Programms bildet die Aufbau- und Resilienzfazilität.

Ein außergewöhnliches Kriseninstrument

Während der Anhörung sprach Prof. Dr. Johannes Beermann, Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, von einem außergewöhnlichen Kriseninstrument. Er hielte es für bedenklich, wenn es als Blaupause für weitere gemeinsame EU-Schulden dienen sollte. Die Europarechts-Expertin Dr. Thu Nguyen vom Jacques Delors Centre der Hertie School bezeichnete die Konstruktion der ARF hingegen als revolutionär für die wirtschaftspolitische Koordinierung der EU. Nach Auslaufen des ARF stelle sich die Frage wie die dann entstehende Lücke geschlossen werden könne.

Bundesbank-Vorstand Beermann schätzte den Wachstumsbeitrag der ARF-Mittel als „schwer zu ermitteln und nicht sicher“ ein. Es sei schließlich möglich, dass die Mitgliedstaaten mit den ARF-Mitteln bereits geplante Maßnahmen finanzieren, statt grundlegende Reformen und wachstumsfördernde Investitionen anzustoßen. Beermann warnte auch davor, den Eindruck entstehen zu lassen, das Programm sei für die Mitgliedstaaten kostenlos. Die EU-Verschuldung wirke wie eine nationale Verschuldung, sei aber weniger sichtbar, weil sie eine Ebene höher anfalle. Die europäische Ebene, so Beermann, müsse daher die Defizite und Schulden transparent ausweisen.

„Das Programm kommt zur Unzeit“

Prof. Dr. Thiess Büttner, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen und seit 2018 Vorsitzender des unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats, hält das mit dem Programm verbundene konjunkturpolitische Ziel für nicht überzeugend. Das Timing sei völlig falsch. „Das Programm kommt zur Unzeit“, so Büttner. Es bestehe die Gefahr, dass es angesichts des aktuellen Inflationsgeschehens kontraproduktiv ist.

Außerdem sei zu beobachten, dass in einzelnen Mitgliedsstaaten mit dem Geld andere Ausgaben finanziert würden. Laut Büttner würden Schulden versteckt, da die EU-Verschuldung in keiner Statistik auftauche. Für Deutschland sehe das Programm Mittel in Höhe von 30 Milliarden Euro vor. Dem stehe ein Finanzierungsanteil von etwa 105 Milliarden Euro gegenüber.

Anreizprobleme durch Kollektivhaftung

Kollektivhaftung schaffe die bekannten Anreizprobleme, gab der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Hans Peter Grüner von der Universität Mannheim zu bedenken. Der EU-Stabilitätspakt werde zudem weiter ausgehöhlt. Das Programm wirke auf ihn, „als wäre aus einer Notsituation hinaus im Wesentlichen eine Transferleistung geschaffen worden, die sich hinter einem recht komplexen Schema verbirgt, von dem vieles für die Zukunft nicht erhaltenswert ist“.

Interessant nannte Grüner den Aspekt der Anreize für Reformen. Allerdings seien die derzeitigen Reformpläne in den nationalen Programmen sehr unkonkret, was die Überwachung der Umsetzung schwierig mache. Aus seiner Sicht wäre es besser gewesen, konkrete nationale Gesetzesvorlagen in das Programm einzubringen und zu prüfen.

Kritik am Mangel demokratischer Legitimation

Von einer „zentralwirtschaftlichen Steuerung auf Basis weicher Pläne“, sprach Prof. Dr. Dirk Meyer von der Universität der Bundeswehr Hamburg. Die Effizienzmängel der Pläne beinhalteten strukturelle Verstöße gegen eine wirtschaftliche Ressourcenverwertung. Zudem gebe es offensichtliche Verschwendungen bei einzelnen Projekten bis hin zu Betrugsfällen.

Meyer sieht zudem einen Mangel an demokratischer Legitimation. Sowohl das Europäische Parlament, wie auch der Bundestag seien in dem Genehmigungsprozess lediglich „mitwirkend“ tätig, beklagte er. Aus seiner Sicht ist der ARF eine Blaupause für zukünftige „Fazilitäten“ auf der Basis von EU-Anleihen mit Gemeinschaftshaftung der EU-Mitgliedsstaaten.

Wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU

Die Konstruktion der ARF ist laut Dr. Thu Nguyen als ein wichtiger Schritt für die wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU zu bewerten. Durch das neue Instrument gebe es für Mitgliedsstaaten erstmals finanzielle Anreize, Reformvorschläge, die die EU-Kommission innerhalb des Europäischen Semesters empfiehlt, tatsächlich umzusetzen. „Mit der ARF könnte die wirtschaftspolitische Koordinierung der EU zum ersten Mal wirklich Biss bekommen“, sagte sie.

Der Erfolg der ARF werde nicht zuletzt auch davon abhängen, dass die Mittel in sinnvolle Projekte fließen und Mitgliedsstaaten im Gegenzug nationale Reformauflagen im Einklang mit europäischen Interessen erfüllen, sagte Thu Nguyen. Dabei sei es besonders wichtig, dass diese beiden Ziele in allen Mitgliedsstaaten gleichermaßen durchgesetzt werden können.

Solidarische Verteilung finanzieller Lasten

Dr. Domenika Biegon vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) nannte es richtig, den wirtschaftlichen Aufbau über gemeinschaftliche Schulden zu finanzieren und die generierten finanziellen Mittel größtenteils in Form von Zuschüssen an die Mitgliedstaaten weiterzugeben. Erstmals würden die finanziellen Lasten einer gemeinsamen europäischen Aufgabe solidarisch verteilt. Die nationalen Schuldenstände seien geschont und eine Währungskrise vermieden worden. Allerdings falle die Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft in die Planungen hinter die bekannten Standards zurück, kritisierte Biegon. Eine effektive Einbindung sei aber nötig, um die Potentiale und Erfahrungen der Beschäftigten, der Unternehmen und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure sinnvoll zu nutzen.

Von einem mutigen Schritt sprach der Volkswirt Christian Odenthal, Autor der Wochenzeitschrift The Economist. Die EU zeige, dass sie in der Lage ist, in einer großen exogenen Krise fiskalpolitisch zusammenzustehen und Transfers in makroökonomisch relevanter Größenordnung in Richtung schwächere Länder zu schicken. Das werde Europa und die Eurozone stabilisieren, befand er. Michaela Holl von der Organisation Agora Energiewende betonte, bei der Bewertung der einzelnen energiepolitischen Maßnahmen im Rahmen von Next Generation EU sollte der Grad der Dekarbonisierung in Betracht gezogen werden. Schaue sie auf die Wiederaufbaupläne der EU-Kommission, falle auf, dass diese in großer Eile aufgestellt worden seien, so Holl. Als nicht gut bewertete sie das geplante Monitoring für die grünen Investitionen. (hau/20.06.2022)

Zeit: Montag, 20. Juni 2022, 15 Uhr
Ort: Berlin

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