Zeit:
Montag, 16. Mai 2022,
10
bis 12 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal 3.101 (Anhörungssaal)
Das geplante Neun-Euro-Ticket stößt bei Vertretern der Verkehrsverbünde und der Verkehrsbranche, bei den Kommunen sowie bei Umweltverbänden auf ein geteiltes Echo. Es sei einerseits geeignet, um verloren gegangene und neue Kunden für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu gewinnen. Zugleich befürchten sie ein „Strohfeuer“. Der ÖPNV müsse strukturell und langfristig ausgebaut werden. Dies wurde am Montag, 16. Mai 2022, in einer öffentlichen Anhörung des Verkehrsausschusses über den Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes (20/1739) deutlich.
Der Gesetzentwurf sieht eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel um 2,5 Milliarden Euro zur Finanzierung des Neun-Euro-Tickets vor. Dieses soll die bundesweite Nutzung des ÖPNV von Juni bis August 2022 für neun Euro pro Monat ermöglichen. Zudem soll der Bund den Ländern in diesem Jahr weitere 1,2 Milliarden Euro als Ausgleich für pandemiebedingte Einnahmeausfälle zahlen. Thema der Anhörung war zudem ein Antrag der Linksfraktion (20/1733), die eine Verlängerung des Neun-Euro-Tickets bis mindestens Jahresende und einen Ausbau des ÖPNV fordert.
Mit Neun-Euro-Ticket Kunden (zurück-)gewinnen
José Luis Castrillo vom Verkehrsverbund Rhein-Ruhr betonte, dass die finanzielle Entlastung der Bestandskunden des öffentlichen Personennahverkehrs zu begrüßen sei. Der ÖPNV habe während der Corona-Pandemie zehn bis 15 Prozent seiner Kunden verloren. Das Neun-Euro-Ticket biete die Chance, viele dieser Kunden zurückzugewinnen. Auf Dauer sei für die Kundenbindung allerdings die Leistungsfähigkeit des ÖPNV die entscheidende Größe, diese müsse in jedem Fall erhöht werden. Die geplante Evaluation des Neun-Euro-Tickets und die Beobachtung des Nutzungsverhaltens könnten hierfür wichtige Anhaltspunkte liefern, sagte Castrillo.
Auch Robert Dorn vom Bundesverband Schienen-Nahverkehr e.V. zeigte sich überzeugt, dass durch das Neun-Euro-Ticket nicht nur Kunden zurückgewonnen, sondern auch Autofahrer vom ÖPNV überzeugt werden können. Dorn warnte zugleich davor, dass die Regionalisierungsmittel von 2,5 Milliarden Euro nicht ausreichen. Im Gesetz müsse verankert werden, dass der Bund gegebenenfalls weitere Finanzmittel nachschießt.
Sachverständige fordern ÖPNV-Ausbau
Eine deutliche und dauerhafte Erhöhung der Regionalisierungsmittel um zehn Milliarden Euro zur Finanzierung des ÖPNV forderte Jens Hilgenberg vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND). Die angestrebte Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030 gelinge nur, wenn der Autoverkehr gleichzeitig drastisch reduziert werde. Es bestehe die Gefahr, dass das Neun-Euro-Ticket lediglich ein „Strohfeuer“ entfache, wenn der ÖPNV in der Fläche nicht ausgebaut werde. Das Ticket helfe vor allem jenen Menschen, die über einen guten Anschluss zum ÖPNV verfügen. Doch wo jetzt kein Bus fahre, werde allein durch das Neun-Euro-Ticket auch in Zukunft kein Bus fahren, führte Hilgenberg aus.
In diesem Sinne argumentierte auch Prof. Dr.-Ing. Tom Reinhold von „traffiQ - Lokale Nahverkehrsgesellschaft Frankfurt am Main“. Das Neun-Euro-Ticket werde sicherlich zu einem Zuwachs bei den Fahrgastzahlen führen, löse aber nicht die strukturellen Probleme im ÖPNV. Dieser sei unterfinanziert, es fehle an ausreichend Strecken und engeren Takten, Fahrzeugen und Fachpersonal. Reinhold bezeichnete das Neun-Euro-Ticket als „Schnellschuss“. Er hoffe, dass verkehrspolitische Maßnahmen in Zukunft längerfristig vorbereitet werden.
„Riesiges Experiment ohne internationalen Vergleich“
Dr. Jan Schilling vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen wies darauf hin, dass es sich beim Neun-Euro-Ticket in erster Linie um eine sozialpolitische Maßnahme handele und nicht um eine verkehrspolitische. Diese werde zu einem deutlichen Anstieg der Fahrgastzahlen in den Sommermonaten führen. Es müsse auch mit überfüllten Zügen gerechnet werden, vor allem auf den Strecken in touristische Regionen. Derzeit werde mit rund 30 Millionen Nutzern des Neun-Euro-Ticket im Monat gerechnet. Doch dies seien alles nur Schätzungen.
Der Bund müsse damit rechnen, dass die bereitgestellten 2,5 Milliarden Euro nicht ausreichen werden, um die Einnahmeeinbußen im ÖPNV zu decken. Er müsse deshalb bereit sein, mehr Gelder nachzuschießen. Schilling betonte, dass das Ticket ein riesiges Experiment ohne internationalen Vergleich sei. Der Erkenntnisgewinn werde deshalb sehr groß ausfallen.
Sachverständige warnt vor „Liquiditätsproblem“
Auch Hilmar von Lojewski warnte als Vertreter der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände vor einem Liquiditätsproblem bei den Verkehrsbetrieben nach Ablauf des Neu-Euro-Tickets. Wenn der Bund das Angebot im ÖPNV dauerhaft verbessern wolle, dann müsse er bereits jetzt deutlich höhere Regionalisierungsmittel im Gesetz verankern.
Dieser Forderung schloss sich ebenso Dr. Matthias Stoffregen von „mofair e. V. - Bündnis für fairen Wettbewerb im Schienenpersonenverkehr“ an.
„Flatrate für den Fernverkehr“
Sehr kritisch beurteilte Christiane Leonard vom Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer e. V. (BDO) das Neun-Euro-Ticket. Dieses lauf Gefahr, zu einer Art Flatrate auch für den Fernverkehr zu werden. Zum ÖPNV gehöre eben auch der Regionalverkehr, mit dem sich auch weite Strecken zurücklegen ließen.
Darunter würden vor allem die privaten und meist mittelständischen Busunternehmer leiden. Diese seien bereits nicht in den Genuss der Corona-Überbrückungshilfen gekommen, mahnte Leonard. Hinzu kämen die gestiegenen Preise für Energiekosten. Die Eigenkapitaldecke der Branche sei aufgebraucht. Das Neun-Euro-Ticket komme zur falschen Zeit.
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen
Die Bundesländer sollen in diesem Jahr zusätzliche Regionalisierungsmittel vom Bund in Höhe von 3,7 Milliarden Euro für die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) erhalten. Davon sind 2,5 Milliarden Euro für die Umsetzung des sogenannten Neun-Euro-Tickets von Juni bis August dieses Jahres vorgesehen. Mit dem Neun-Euro-Ticket sollen alle Bürger den ÖPNV bundesweit in den Monaten Juni, Juli und August dieses Jahres für neun Euro pro Kalendermonat nutzen können. Mit dem Ticket sollen die Bürger einerseits wegen der stark steigenden Kosten für Strom, Lebensmittel, Heizung und Mobilität finanziell direkt entlastet werden. Zudem soll ein Anreiz zum Umstieg auf den ÖPNV und zur Einsparung von Kraftstoffen gesetzt werden. Die konkrete Ausgestaltung des Neun-Euro-Tickets soll in der Zuständigkeit der Länder erfolgen.
Zusätzliche 1,2 Milliarden Euro soll der Bund zum Ausgleich für pandemiebedingte Einnahmeausfälle an die Länder zahlen. Bereits im Jahr 2020 hatte der Bund die Regionalisierungsmittel um 2,5 Milliarden und 2021 um eine Milliarde Euro zur Finanzierung des ÖPNV erhöht. Nach Prognosen der Branche ist für die Jahre 2020 bis 2022 mit Fahrgeldausfällen von bis zu 10,2 Milliarden Euro zu rechnen, heißt es in der Begründung zum Gesetzesentwurf.
Antrag der Linksfraktion
Nach dem Willen der Linksfraktion soll das geplante Neun-Euro-Ticket im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) über die dreimonatige Laufzeit von Juni bis August hinaus bis mindestens Ende dieses Jahres verlängert werden. Darüber hinaus soll der Bund die Mehrkosten in Höhe von 2,9 Milliarden Euro, die den Bundesländern seit 2019 im ÖPNV durch die Steigerungen der Bau-, Energie- und Personalkosten entstanden sind, mindestens zu 50 Prozent übernehmen.
Zudem fordert die Linksfraktion die Bundesregierung auf, dem Bundestag ein mit den Bundesländern abgestimmtes Konzept zur Angebotsausweitung für den ÖPNV vorzulegen. Ziel müsse es sein, bis 2030 die Zahl der Fahrgäste zu verdoppeln und dauerhaft niedrige Preise bis hin zum Nulltarif, insbesondere für Menschen ohne eigenes Einkommen, einzuführen. (aw/16.05.2022).