Vor 65 Jahren: Bundestag beschließt Gleichberechtigungsgesetz
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – so sagt es das Grundgesetz. Doch was heute selbstverständlich erscheint, begann im politischen Prozess mit versäumten Fristen und stundenlangen Debatten. Vor 65 Jahren, am 3. Mai 1957, beschloss der Deutsche Bundestag das „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, das sogenannte Gleichberechtigungsgesetz. Die neuen Regelungen hatten zum Ziel, die in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes festgeschriebene Gleichberechtigung von Mann und Frau im Bundesrecht umzusetzen.
Die Frist läuft ab
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – darauf hatten sich die vier Mütter und 61 Väter des Grundgesetzes 1949 geeinigt. Bestimmt wurde die Realität der jungen deutschen Bundesrepublik jedoch noch von einem patriarchalischen Ehe- und Familienverständnis, das sich auf Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) von 1896 stützte: der Mann war das Oberhaupt der Familie, der in allen ehelichen Angelegenheiten in letzter Instanz entschied. Die Ehefrau war dagegen verpflichtet, den Haushalt zu führen.
Das noch geltende bürgerliche Recht, insbesondere auf dem Gebiet von Ehe und Familie, stand den Zielen der Gleichberechtigung im neuen Grundgesetz entgegen. Doch auch daran hatte man 1949 gedacht. Artikel 117 des Grundgesetzes sollte den rechtlichen Übergang regeln: Bis der Gesetzgeber eine neue Lösung findet, bleibt das alte Gesetz in Kraft. Eine beachtliche Aufgabe für das erste Parlament, denn das Grundgesetz schrieb eine Frist vor – bis zum 31. März 1953 galt es, ein neues Gesetz auszuarbeiten und abzustimmen. Dies sollte die Vorgaben des BGB an den Grundsatz der Gleichberechtigung anpassen.
Zweite und dritte Lesung 1957
Doch es kam anders: Erst 1954 waren ein Entwurf der Regierung (2/224) und Anträge der FDP-Fraktion (2/112) und der SPD-Fraktion (2/178) zum Gleichberechtigungsgesetz an den Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht übermittelt worden. Unter der Leitung von Dr. Karl Weber (CDU/CSU) beschäftigte sich schließlich ein neu gegründeter Unterausschuss „Familienrechtsgesetz“ von 1955 bis 1957 mit den ausstehenden Fragen und Änderungen.
In der abschließenden zweiten und dritten Lesung am 3. Mai 1957 diskutieren die Abgeordneten lange und hitzig: über die Möglichkeiten von Frauen, erwerbstätig zu sein, den Güterausgleich bei Trennung und die Wiedereinführung des Letztentscheids, der 1956 mit knapper Mehrheit abgeschafft worden war.
Die Gesetzeslage im Paragrafen 1354 des BGB ermöglichte es dem Mann, bei ungleichen Meinungen in der Ehe, die abschließende Entscheidung für die gesamte Familie zu treffen. Dieser Letztentscheid oder auch Stichentscheid war nach einer heftigen Debatte im Unterausschuss „Familienrechtsgesetz“ 1956 knapp mit acht zu sieben Stimmen abgelehnt worden.
CDU/CSU fordert Wiedereinführung des Stichentscheides
Die Debatte 1957 begann mit einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion - man wollte das Letztentscheidungsrecht des Mannes wieder aufnehmen. Karl Weber (CDU/CSU) argumentierte für seine Fraktion, dass der Paragraf 1354 notwendig sei, da er „die äußere Gestaltung des Ehelebens“ regele und dafür eine Ordnungsvorschrift gebe. Zudem sei die Entscheidung des Mannes mehr „Pflicht“ als Privileg und besonders sinnvoll im Sinne von Artikel 6 des Grundgesetzes, der den Schutz von Ehe und Familie durch den Staat gewährleistet.
Gemeinsame Verantwortung statt Letztentscheid
Die Vertreter von SPD und FDP sprachen sich hingegen gegen den Stichentscheid aus. Karl Wittrock (SPD) betonte die gemeinschaftliche Verantwortung der Ehepartner gegenüber einer „Letztverantwortlichkeit“ in der Ehe. Eine psychologische Ebene bei der Entscheidung durch nur einen Ehepartner hoben Marie Elisabeth Lüders (FDP) und Ludwig Metzger (SPD) hervor.
Es kann „gar kein Zweifel daran sein, dass die Autorität der Mutter in den Augen der Kinder erheblichen Schaden leiden muss“, argumentierte die langjährige Abgeordnete und Alterspräsidentin. Ihr Kollege Metzger betonte hingegen die Gefahr, sich überhaupt nicht einigen zu wollen oder zu müssen, weil schließlich immer der Mann entscheide.
Christliche Ethik der Ehe
Wie gespalten die Meinungen nicht nur in der Debatte waren, zeigte sich im weiteren Verlauf. Dr. Elisabeth Schwarzhaupt (CDU/CSU) votierte entgegen der mehrheitlichen Meinung in ihrer Fraktion für eine Streichung des Paragrafen 1354. Jedoch argumentierte sie geschickt im Sinne einer christlichen Ethik: Sie sei generell zwar für eine vorgeordnete Stellung des Mannes „weil es aus einer Ordnung kommt, die tiefer begründet ist als das staatliche Recht“.
Trotzdem sei die Bestimmung des Paragrafen 1354 und damit der Letztentscheid entbehrlich. Denn schließlich verpflichteten sich beide Ehepartner in der Lebensgemeinschaft. Darin regele sich dann das Zusammenleben – dazu bräuchte es keine gesonderte Entscheidung des Mannes. Nach langer Debatte kam es endlich zur namentlichen Abstimmung: Mit 186 zu 172 Stimmen bei sechs Enthaltungen wurde der Antrag zur Wiedereinführung des Stichentscheides abgelehnt.
Keine Einigung in Sicht
Die Reihen im Plenarsaal waren zu diesem Zeitpunkt der Debatte immerhin schon dichter gefüllt als zu Beginn. Wie das Plenarprotokoll berichtet, verschob der amtierende Präsident, Prof. Dr. Carlo Schmid (SPD), auf Wunsch einiger anwesender Abgeordneten die zuerst auf den Vormittag angesetzte Sitzung aufgrund der Abwesenheit zahlreicher Abgeordneter und Minister. Grund dafür waren einerseits vier zeitgleich tagende Ausschüsse, in denen viele Volksvertreter anwesend sein mussten. Andererseits aber wohl auch die Tatsache, dass die meisten schon wussten, wie sie abstimmen würden; schließlich diskutierte man seit einiger Zeit kontrovers zum Thema Gleichberechtigung.
Die Regierung Adenauer und der zuständige Justizminister Thomas Dehler (FDP) hatten die Thematik am 27. November 1952, vier Monate vor Ablauf der Frist aus dem Grundgesetz, das erste Mal zur Beratung in den Bundestag eingebracht. Die Stimmung war aufgeladen, die Oppositionsfraktion der SPD befürwortete mehrheitlich die Änderungen zur Gleichberechtigung. Kanzler Adenauer hatte seine Fraktion und auch seinen Justizminister auf den Contra-Kurs eingeschworen. Die Debatte ging nach dem Plenum in den Ausschüssen weiter, ohne dass man sich einigen konnte.
„Ich beuge mich dem Stichentscheid meines Mannes“
Schon im Vorfeld der Debatte 1957 hatten die Parteien versucht, ihre Mitglieder einzustimmen, besonders nach dem knappen Verlust der Abstimmung über den Stichentscheid im Unterausschuss ein Jahr zuvor. Schon damals wurden die Fronten deutlich: Die Journalistin Marianne Feuersenger berichtete zum Beispiel von einem Vorfall, wie einige CDU-Abgeordnete sich bemühten ihre Fraktionskollegin Ingeborg Geisendörfer für eine Abstimmung zugunsten des Paragrafen 1354 zu gewinnen.
Sie entschloss sich, ihren Ehemann um Rat zu fragen, worauf dieser geantwortet haben soll: „Dass du dich unterstehst, für das männliche Entscheidungsrecht bei 1354 einzutreten!“ Geisendörfer darauf: „[…] ich beuge mich dem Stichentscheid meines Mannes und stimme gegen den Stichentscheid im 1354.“
Anerkennung veränderter Strukturen
Doch auch wenn die Letztentscheidung des Mannes mit den Entscheidungen 1956 und schließlich 1957 abgeschafft wurde – in Fragen der Erziehung blieb das Vorrecht des Mannes im neuen Gleichberechtigungsgesetz bestehen. Die Modifizierung der Paragrafen 1628 und 1629 des BGB, die das Letztentscheidungsrecht und den Alleinvertretungsanspruch des Vaters für die Kinder regeln, wurde abgelehnt - trotz Änderungsanträgen von SPD, FDP und Teilen der CDU. Die Änderungen betrafen vor allem die Idee, die Vormundschaft auf beide Eltern zu übertragen und in kritischen Fällen ein Vormundschaftsgericht entscheiden zu lassen.
In der Debatte standen sich theoretische und realpolitische Argumente gegenüber. Frieda Nadig, Abgeordnete der SPD-Fraktion, führte an, dass die Letztentscheidung des Vaters gegen die neue Rolle der Mutter stehe: „Aber wie ist es denn im praktischen Leben? Da übt die Mutter fast täglich das Recht der Vertretung des Kindes aus.“ Für einen mutigen Schritt gegen patriarchalische Rechte und die Anerkennung einer veränderten Gesellschaftsstruktur votierte auch Margot Kalinke von der Deutschen Partei (DP).
Kompromisse und Zugewinne
Besonders kritisch wurde der Vorschlag der SPD zur Einführung eines Vormundschaftsgerichtes aufgenommen. „Der Staat hat in der Frage der Erziehung und Pflege der Kinder nur zu überwachen und nicht zu ersetzen […]“, argumentierte Eduard Wahl (CDU/CSU). Die Entscheidung eines Richters sei zudem immer auch die Entscheidung für eine Position und damit für einen Elternteil, sagte Hanns Seidl (CDU/CSU). Den weiteren Verlauf der Debatte bestimmten vor allem verfassungsrechtliche Argumente und die Frage, ob die Gleichberechtigung in Artikel 3 oder der Schutz der Ehe in Artikel 6 des Grundgesetzes überwögen.
Umstritten war zudem das Thema Erwerbstätigkeit. Bisher konnte der Ehemann seiner Frau verbieten, einen Beruf auszuüben. Im Plenum einigte man sich nun auf einen Kompromiss: Eine Frau durfte auch gegen den Willen ihres Mannes arbeiten gehen, solange sie Mann und Kinder nicht vernachlässigte.
Ein großer Schritt im Sinne der Gleichberechtigung war jedoch die Regelung zur sogenannten Zugewinngemeinschaft. Alles, was beide Ehepartner zusammen in der Ehe erwirtschaftetet hatten, wurde nun zu gleichen Teilen unter den Partnern aufgeteilt; und auch das von der Frau in die Ehe mit eingebrachte Vermögen gehörte nicht mehr automatisch dem Mann.
Keine vollständige Emanzipation
Die Emanzipation der Frau, die schon Elisabeth Selbert, eine der Mütter des Grundgesetzes gefordert hatte, konnte das erste Gleichberechtigungsgesetz nicht vollständig umsetzen. Die Gleichberechtigung und die Überwindung eines klassischen Rollenverständnisses von Mann und Frau war mit den neuen Regelungen, die schließlich am 1. Juli 1958 in Kraft traten, nicht erreicht worden.
Jedoch war das Gesetz ein bedeutender Schritt zur Gleichberechtigung in der sich wandelnden Nachkriegsgesellschaft. 1958 wurde das Letztentscheidungsrecht in Fragen der Erziehung vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Neue Regelungen zum Mutterschutz oder über die Rechte nichtehelicher Kinder folgten wenige Jahre später. Mit dem ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts wurde schließlich 1977 eine vorgeschriebene Aufgabenteilung in der Ehe abgeschafft. 1994 wurde dann Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes um folgenden Passus ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Im gleichen Jahr trat das zweite Gleichberechtigungsgesetz in Kraft, das unter anderem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern sollte. (lau/27.04.2022)