Ein Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zur Änderung der Strafprozessordnung, bei dem es um eine Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß Paragraf 362 der Strafprozessordnung (StPO) geht, war Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz am Montag, 21. Juni 2021. Nach dem Entwurf des „Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ (19/30399) soll eine Wiederaufnahme auch dann möglich sein, wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt.
In der von Prof. Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) geleiteten Anhörung sprachen sich die meisten Sachverständigen für den Entwurf aus. In der ersten Lesung im Bundestag hatte sich die Opposition mit Ausnahme der AfD gegen den Entwurf ausgesprochen. Darin wird explizit auf den Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann verwiesen, der Anlass für eine Petition zur Reform der Wiederaufnahme gewesen sei.
Entwurf liegt Petition zugrunde
Wie es im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt, sind nach derzeitiger Rechtslage im Gegensatz zur Wiederaufnahme zu dessen Gunsten neue Tatsachen und Beweismittel als allgemeiner Wiederaufnahmegrund nicht zugelassen. Dies führe zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass selbst bei den schwersten Straftaten wie Mord und Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein in einem Freispruch geendetes Verfahren selbst dann nicht wiederaufgenommen werden kann, wenn nachträglich Beweismittel einen eindeutigen Nachweis der Täterschaft erlauben. Nach geltendem Recht bleibe es, sofern der Freigesprochene kein Geständnis ablegt, bei dem rechtskräftigen Freispruch.
Neue belastende Informationen könne es insbesondere dann geben, so der Entwurf, wenn nach Abschluss eines Verfahrens neue Untersuchungsmethoden möglich geworden seien. Dies sei beispielsweise seit den späten 1980er-Jahren mit der Analyse von DNA-Material der Fall gewesen. Künftig sei dies auch durch die digitale Forensik zu erwarten.
Diese neuen technischen Verfahren führten dazu, dass zum Zeitpunkt des betreffenden Strafverfahrens bereits vorhandene und den Ermittlungsbehörden bekannte Beweismittel neu ausgewertet werden können, mit denen ein Tatnachweis so sicher geführt werden könne, dass ein Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils einen unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß darstellen würde. Der Entwurf sieht die Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Freigesprochenen um eine neue Nummer 5 im Paragrafen 362 der Strafprozessordnung vor.
Betroffene dringen auf Umsetzung
Der Rechtsanwalt Dr. Wolfram Schädler, Bundesanwalt a. D., der den Vater der ermordeten Frederike von Möhlmann vertritt, betonte, dass der Staat in einem Rechtsstaat nicht Urteile austauschen dürfe, die ihm missliebig seien. Der Gesetzentwurf respektiere diese Grenzsetzung, da sein Anwendungsbereich auf die unverjährbaren Delikte Mord und Völkermord beschränkt sei. Er führe diesen Rechtsgedanken so zu Ende, dass ein falsch freigesprochener Mörder sich niemals seines Triumphes über die Fakten sicher sein könne. Der vorliegende Gesetzentwurf korrigiere die aus dem Lot geratene Rechtswirksamkeit des Paragrafen 362 der StPO wenigstens teilweise.
Auch aus Sicht von Prof. Dr. Jörg Eisele von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen ist der Gesetzentwurf mit Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes vereinbar, es bedürfe daher keiner Grundgesetzänderung. Dies entspreche auch der Sichtweise fast aller wissenschaftlichen Abhandlungen aus jüngerer Zeit. Auch Eisele verwies auf bestehende Durchbrechungen des Grundsatzes „ne bis in idem“. Eine Grenzkorrektur aus Unerträglichkeitsgründen sei geboten, wenn bei den schwersten Straftaten trotz vorliegender Beweismittel eine Verurteilung nicht möglich sei. Dies erschüttere das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung. Eingedenk der Unverjährbarkeit der Delikte sei eine Wiederaufnahme dann auch bei „Altfällen“ möglich.
Grundsatzdurchbrechungen als Grenzkorrektur
Prof. Dr. Klaus F. Gärditz von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hält den Entwurf ebenfalls nicht für verfassungswidrig. Betroffen seien nur die Straftaten des Mordes, des Völkermordes und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nach Unrechtsgehalt, Strafrahmen und sozialer Destabilisierungswirkung für die Rechtsordnung zu den schwersten Verbrechen gehören, die das geltende Strafrecht kenne. Das öffentliche Interesse, eine schuldangemessene Bestrafung herbeizuführen, wenn eine solche nach der aktualisierten Beweislage indiziert sei, habe hier überragendes Gewicht.
Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Kubiciel von der Universität Augsburg erklärte, der Gesetzentwurf greife eine seit fast zwei Jahrzehnten geführte rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Debatte auf und sei das Ergebnis intensiver strafprozessualer und verfassungsrechtlicher Prüfungen. Die Erweiterung der Strafprozessordnung stelle keinen Paradigmenwechsel dar, sondern schreibe einen im geltenden Recht angelegten Grundgedanken für einen klar und eng gefassten Anwendungsfall fort. Dem Gesetzentwurf lasse sich auch nicht entgegenhalten, er lege den Grundstein für weitere Durchbrechungen der Rechtskraft durch künftige Gesetzesnovellierungen.
„Verstoß gegen Verbot der Doppelverfolgung “
Dagegen ist der Entwurf für Prof. Dr. Helmut Aust von der Freien Universität Berlin verfassungswidrig. Die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe stehe im Widerspruch zum Verbot der Doppelverfolgung nach Artikel 103. Die dort auf Verfassungsebene vorgenommene Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit könne nicht durch einen Rückgriff auf allgemeine Erwägungen des letzteren Gesichtspunkts wieder aufgelöst werden. Neben dem Verstoß gegen Artikel 103 würde die vorgeschlagene Regelung bei einer Anwendung auf sogenannte „Altfälle“ zudem gegen das vom Rechtsstaatsprinzip umfasste Verbot der Rückwirkung verstoßen.
Auch für Stefan Conen vom Deutscher Anwaltverein ist das Vorhaben der Koalitionsfraktionen aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen. Bereits 2009 sei ein ähnliches Gesetzesvorhaben gescheitert. 2016 habe sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages erneut der Frage der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit eines solchen neuen Wiederaufnahmegrundes gewidmet und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wertentscheidung des Verfassungsgebers in Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten Freigesprochener entgegenstehe. Dies sei nach wie vor richtig und bei dogmatisch stringenter Auslegung des Artikels gerade auch in Ansehung des nunmehr über den damaligen Vorschlag weit hinausgehenden Entwurf zwingend.
Warnung vor „Bruch mit demokratischen Werten“
Dr. Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, sagte, die Wiederaufnahme-Debatte sei kein gutes Zeichen für den Rechtsstaat. Es werde versucht, einen klaren Normbefehl der Verfassung zu relativieren und zu umgehen. Der Gesetzentwurf bedeute einen doppelten Bruch mit demokratischen Werten.
Zum einen gehe es an den Kern des „ne bis in idem“, und zum anderen gehe es auch darum, ob der Gesetzgeber noch bereit ist, die klaren Grenzen der Verfassung einzuhalten. Nur selten sei ein Verstoß gegen das Grundgesetz so klar wie hier. (mwo/21.06.2021)