Scharfe Kritik der Opposition an Sicherheitsbehörden im Fall Anis Amri
In Anwesenheit Hinterbliebener und Betroffener des Terroranschlags auf den Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 hat der Bundestag am Donnerstag, 24. Juni 2021, den Abschlussbericht des 1. Untersuchungsausschusses („Breitscheidplatz“) beraten (19/30800). Aus den Reihen der Opposition wurde dabei scharfe Kritik am Handeln der deutschen Sicherheitsbehörden laut.
Vor Eintritt in die Debatte sprach Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble den Angehörigen und den teils schwer Versehrten im Namen des gesamten Hauses sein Mitgefühl aus. Die Aussprache über den knapp 1.900 Seiten starken Bericht sei keineswegs parlamentarische Routine, so der Bundestagspräsident. Das Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz habe sich „in unser Gedächtnis eingegraben“, sagte er: „Zum einen, weil so viele unschuldige Menschen ihr Leben verloren haben, so viele verletzt oder traumatisiert wurden. Und zum anderen, weil die Absicht so anmaßend war: Der Attentäter wollte unsere Art, in Freiheit zu leben, zerstören. Unfrieden stiften, kurz vor Weihnachten.“
Der Anschlag habe viele Fragen aufgeworfen, so der Bundestagspräsident, der sich im Anschluss an die Aussprache mit den Hinterbliebenen und Betroffenen zum persönlichen Austausch traf. Die schmerzlichste Frage aber laute: „Warum ist es damals nicht gelungen, den Anschlag zu verhindern? Obwohl der Täter den Sicherheitsbehörden als gefährlich bekannt war?“
CDU/CSU: Die Tat hätte verhindert werden können
In die anschließende Stille hinein nannte Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) insbesondere „zwölf Gründe“, warum der Untersuchungsausschuss über drei Jahre lang dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt nachgegangen sei: Er verlas die Namen der zwölf Todesopfer des Terrorakts. Damit wollte er in Anwesenheit ihrer Angehörigen auch auf die zunächst aufgeworfene Frage eingehen, warum das Geschehen überhaupt vom Parlament aufgearbeitet werden solle, obwohl dadurch das Leid ohnehin nicht gelindert werden könne.
Der Bericht sei der Ausfluss von 132 Sitzungen mit 462 Stunden, 147 Zeugenvernehmungen und der Durchsicht Tausender Aktenordner, zählte er auf. Einige Fragen rund um den Anschlag von 2016 hätten nicht beantwortet werden können – etwa die zur Flucht des Attentäters Anis Amri oder nach der Herkunft seiner Schusswaffe. Es habe individuelle Versäumnisse und Fehlentscheidungen der Sicherheitsbehörden gegeben: „Alle zusammen waren fatal“. Trauriges Ergebnis der Ausschuss-Untersuchungen sei, dass die mörderische Tat hätte verhindert werden können. Die Arbeit habe auch zum Ziel gehabt, darauf hinzuwirken, dass sich ein vergleichbares Geschehen nicht wiederholen könne.
AfD: Amri war kein Einzeltäter
Stefan Keuter (AfD) beklagte sich über Hindernisse, mit denen es der Untersuchungsausschuss bei seiner Arbeit zu tun gehabt habe. Hinsichtlich der Schuldfrage sei für ihn klar, dass Amri kein Einzeltäter gewesen sei.
Dass er den Anschlag beging, hätte verhindert werden können. So sei die Politik der offenen Grenzen ein Fehler gewesen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe ihr Versprechen nach Aufklärung nicht eingehalten. Deswegen solle sie sich schämen.
SPD: Viele Schwächen sind inzwischen behoben
Dr. Fritz Felgentreu (SPD) sprach von verbliebenen Unklarheiten im Detail, aber nicht im Gesamtergebnis. Er verwies auf die Migranten-Situation in den Jahren 2015 und 2016, die Amris Vorgehen begünstigt hätten. Die betroffenen Behörden seien personell überbelastet gewesen, wobei klar gewesen sei, dass sich unter den Flüchtlingen wohl auch Terroristen befänden.
Widerlegt sei die These, dass es sich bei Amri um einen reinen Polizeifall gehandelt und der Verfassungsschutz nicht involviert gewesen sei. Es sei bewiesen worden, dass er in ein islamistisches Netzwerk eingebunden gewesen sei. Felgentreu gab sich überzeugt: „Viele Schwächen, die Amri ausgenutzt hat, sind inzwischen behoben.“
FDP: Aufklärung mit angezogener Handbremse
Benjamin Strasser (FDP) hob auf das Versprechen der Bundeskanzlerin nach umfassender Aufklärung und von Innenminister Horst Seehofer (CSU) nach maximaler Transparenz ab: Tatsächlich sei es zu einer Aufklärung mit angezogener Handbremse – etwa stark geschwärzte Akten – gekommen: „Wir konnten nicht alle Steine umdrehen.“
Er sprach von einem systematischen Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden. Noch immer sei Deutschland auf vergleichbare Terroranschläge nicht hinreichend vorbereitet. Er regte an, den 13. März jedes Jahres nach dem Vorbild von Frankreich und Spanien zu einem nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt zu machen.
Linke: Aufklärungsarbeit wurde behindert
Martina Renner (Die Linke) stellte fest, Amri habe nicht allein gehandelt, sondern sei ideologisch geschult und logistisch unterstützt worden. Wer trotz europaweiter Vernetzung von Terroristen an der Fiktion von Amri als Einzeltäter festhalte, der werde weitere Anschläge nicht verhindern können.
Sie warf Ausschusskollegen vor, die Aufklärungsarbeit behindert zu haben: „Auf welcher Seite steht ihr?“ Renner verlangte eine bessere parlamentarische Kontrolle der Sicherheitsbehörden. Überdies müssten die Rechte der Opfer und die Rechte der Untersuchungsausschüsse weiter verbessert werden.
Grüne: Bundessicherheitsbehörden tragen Verantwortung
Für Dr. Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) tragen die Bundessicherheitsbehörden einen großen Teil der Verantwortung. Nach ihrer Meinung hätte der Anschlag verhindert werden können, wenn man im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum die Gefährlichkeit Amris richtig eingeschätzt hätte. Es habe Hinweise gegeben, dass er Anschläge plane. Doch die seien nicht hinreichend analysiert worden.
Amri sei kein Einzeltäter und kein Kleinkrimineller gewesen, sondern eingebunden in das dschihadistische Netzwerk bis hin zum IS. Dass mögliche Mitwisser und Unterstützer oder Mittäter immer noch freiem Fuß sein könnten, stufte sie als relevante Gefahr ein. Das Bundeskriminalamt habe darauf hingearbeitet, die These vom Einzeltäter zu bestätigen – „ganz nach dem Motto, der Täter ist tot, der Fall ist gelöst“.
Bewertung des Ausschusses
Der am 1. März 2018 eingesetzte Untersuchungsausschuss hatte Akten der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden des Bundes und aller 16 Länder beigezogen, ausgewertet und miteinander abgeglichen sowie rund 180 Sachverständige, Zeuginnen und Zeugen gehört, um die. Umstände aufzuklären, die dazu führten, dass der Attentäter Anis Amri nicht aufgehalten und dieser Anschlag nicht verhindert werden konnte. Der Ausschuss hat nach eigenen Angaben die Überzeugung gewonnen, dass sowohl individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden verantwortlich waren: die mit den Herausforderungen nicht Schritt haltenden Ressourcen der für islamistische Gefährder zuständigen Einheiten der Sicherheitsbehörden, die völlige Überlastung aller mit Geflüchteten befassten Stellen im Sommer und Herbst 2015, die Zersplitterung staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeiten auch bei als Gefährder eingestuften Tatverdächtigen sowie Mängel beim Informationsaustausch und der Koordination des Vorgehens zwischen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum GTAZ.
Keine der individuellen Fehleinschätzungen und Versäumnisse habe für sich genommen besonders schwer gewogen. Doch im Zusammenwirken hätten sie dazu geführt, dass niemand Amri in den Arm fiel und der Anschlag nicht verhindert wurde. Nach Überzeugung des Ausschusses hat es in allen Bereichen inzwischen erhebliche Verbesserungen gegeben, um die strukturellen Probleme zu beheben. Die Ressourcen der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung islamistischen Terrors seien ausgebaut worden, sie könnten nun Gefährder zielgenauer erkennen. Die für die Anwendung des Asyl- und Aufenthaltsrechts zuständigen Stellen hätten neue Befugnisse und mehr Personal und Ressourcen erhalten. Staatsschutzstaatsanwaltschaften können heute leichter alle Verfahren gegen Gefährder konzentriert aus einer Hand führen.
Nötiges sei zu lange nicht umgesetzt worden. Auch in der Gesetzgebung habe es Verzögerungen und Versäumnisse gegeben, wofür der Ausschuss um Nachsicht bittet. Auch wenn für die Sicherheitsbehörden heute die wachsende terroristische Bedrohung durch Rechtsextremisten vielerorts im Vordergrund stehe, bedürfe die Bedrohung durch islamistische Extremisten – auch mit Blick auf die große Zahl von Gefährdern in diesem Bereich – weiterhin höchster Aufmerksamkeit. Mit den Reformen sei die föderale Sicherheitsarchitektur heute viel robuster aufgestellt, um diesen Herausforderungen zu trotzen, so die Bewertung der von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD getragenen Ausschussmehrheit.
Sondervotum von FDP, Linksfraktion und Grünen
Im gemeinsamen Sondervotum der Oppositionsfraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen heißt es, die von den politisch Verantwortlichen nach dem 19. Dezember 2016 vertretene These des selbst radikalisierten „Einzeltäters“ Anis Amri sei nach dreieinhalb Jahren Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss klar widerlegt. Zu den teils ignorierten, teil falsch bewerteten Alarmsignalen und drastischen Hinweisen gehörten eine ganze Reihe von Sachverhalten und Anschlagsplanungen, die Amri mutmaßlich seit seiner Einreise von Italien über die Schweiz nach Deutschland im Juli 2015, ganz sicher aber spätestens ab Ende November 2015 nachweislich verfolgt habe.
Amri sei gerade nicht der „klassische“ Einzeltäter gewesen, der sich selbst radikalisierte und im Verborgenen einen Anschlag plante. Stattdessen habe er viele Monate lang unter den Augen verschiedener Sicherheitsbehörden agiert. Diese hätten ihn observierten, sein Umfeld infiltriert, V-Leute an ihn herangespielt sowie seine komplette digitale Kommunikation teilweise in Echtzeit mitverfolgt. Mindestens eine der V-Personen in seinem Umfeld habe regelmäßig über Amris Umtriebe und Anschlagsplanungen und mit dramatischen Appellen vor seiner Gefährlichkeit gewarnt.
Sondervotum der AfD
Die AfD-Fraktion stellt in ihrem Sondervotum die Frage, ob es zu diesem Anschlag gekommen wäre, wenn die bundesdeutschen Grenzen sowie die Außengrenzen der Europäischen Union und des Schengen-Raumes vor allem 2015 „ordnungsgemäß geschützt“ gewesen wären. Für die Fraktion lautet die „klare Antwort“, dass sich die Wahrscheinlichkeit für den schwersten islamischen Anschlag in der Bundesrepublik sowie damit verbunden das Leid der Angehörigen und Opfer dann erheblich reduziert hätten.
Zusammenfassend stellt die AfD fest, dass das Versprechen der Bundeskanzlerin, dass alles unternommen werde, um das Attentat aufzuklären, nicht erfüllt worden sei. (fla/vom/ll/ste/24.06.2021)