Menschenrechte

Expertenurteile zu Menschenrechts­ver­letzungen an den Uiguren

Wie die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren völkerrechtlich bewertet und geahndet werden können, haben Sachverständige unterschiedlich beurteilt. Das zeigte eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe am Montag, 17. Mai 2021, unter der Leitung von Gyde Jensen (FDP). Während manche Experten wegen der Vorgänge in der chinesischen Provinz Xinjiang durchaus die Möglichkeit für ein Strafverfahren in Deutschland sahen, zeigten sich andere skeptisch. Unterschiedlich waren auch die Einschätzungen dazu, ob die Straftatbestände des Völkermordes oder der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeben seien. Gefordert wurden aber größere internationale Anstrengungen, um die Vergehen zu untersuchen und zu beenden.

Zerstörungsabsicht als Merkmal für Völkermord

Der Strafrechtler Prof. Dr. Florian Jeßberger und der Rechtsanwalt Prof. Dr. Hartmut-Emanuel Kayser bezweifelten die Möglichkeit der juristischen Einordnung der Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren als Völkermord: „Zentrales Merkmal des Völkermord-Straftatbestands ist die Zerstörungsabsicht“, unterstrich Jeßberger. Diese sei „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ nicht hinreichend belegt, so der Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Näher liegt aus seiner Sicht eine vorläufige Einordnung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Möglichkeit einer Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) stuften Jeßberger und Kayser jedoch als „praktisch aussichtslos“ ein: Ohne die Mitwirkung Chinas lasse sich die Gerichtsbarkeit nicht begründen. Anders jedoch sei es um ein Verfahren in Deutschland bestellt, so Jeßberger: Der Generalbundesanwalt könne – etwa in einem Strukturermittlungsverfahren – gegen „Ausführungstäter“ ebenso wie gegen höherrangige Verantwortungsträger in Staat und Partei ermitteln.

„Keine belastbare Belege für Völkermord“

Zurückhaltender in seiner Bewertung zeigte sich Dr. Norman Paech, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg: Dass im Zuge des Kampfes der chinesischen Regierung gegen sich radikalisierende „fundamentalistische Muslime“ in Xinjiang Menschenrechte sehr wahrscheinlich verletzt worden seien, räumte er ein – „Großverbrechen“ wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezweifelte er jedoch.

Es gebe bislang keine belastbaren Beweise für umfassenden Freiheitsentzug, für systematische Verfolgung und Folter, so Paech. Die Einschaltung der Generalbundesanwaltschaft würde er daher nicht befürworten.

„Flächendeckender und systematischer Angriff“ 

Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, betonte hingegen, die chinesische Regierung habe sich fast aller der in Artikel 7 des Statuts von Rom des ICC aufgelisteten Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht: Mord, Folter, Überwachung, kulturelle und religiöse Auslöschung, sexuelle Gewalt und Zwangsarbeit seien Teil eines „flächendeckenden und systematischen Angriffs“ auf die Bevölkerungsgruppe der turkstämmigen Muslime und hätten ein nie zuvor dagewesenes Ausmaß erreicht.

Um die Verantwortlichen zu bestrafen und die chinesische Regierung zu einem Kurswechsel zu bewegen, forderte der Menschenrechtsexperte ein „koordiniertes Vorgehen der internationalen Gemeinschaft“. Es brauche vor allem die Einrichtung einer Untersuchungskommission durch den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN).

„UN-Völkermordkonvention verpflichtet zum Handeln“

Dafür sprach sich auch Prof. Eva Pils, Professorin an der School of Law des King’s College London, aus. Sie unterstrich, es gehe der chinesischen Regierung um eine Zerstörung des Selbstverständnisses der Uiguren durch Zufügung schwerer mentaler und physischer Traumata.

Anders als einige Völkerrechtsrechtsexperten sah die Juristin und Sinologin zumindest einen „Anfangsverdacht“ für eine Absicht zum Genozid. Ihrem Verständnis nach löst die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes schon beim „Kennen oder Kennenmüssen eines ernsthaften Risikos von Völkermord“ Verpflichtungen zur Verhütung aus.

„Open Source Intelligence ausbauen und Vorgänge untersuchen“

Prof. Dr. Christoph Safferling, Professor unter anderem für internationales Straf- und Völkerrecht an der Universität Nürnberg-Erlangen, erläuterte, die divergierenden Bewertungen der Sachverständigen Jeßberger und Paech spiegelten einen Grundkonflikt des Völkerstrafrechts, das Problem der Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten wider: Wenn ein Staat Maßnahmen gegen Terror und Separationsbestrebungen ergreife, sei das zwar vom Völkerrecht „zunächst einmal zu akzeptieren“.

Allerdings dürften spezifische Gruppen nicht kriminalisiert werden. Um eine internationale Untersuchung zu fördern, regte Safferling an, die Bundesregierung solle die Mittel der Open Source Intelligence ausbauen, um verstärkt Informationen aus frei verfügbaren Quellen wie etwa Internetberichte sowie Satellitenbilder auswerten zu können.

„Risiko eines schleichenden Genozids“

Adrian Zenz, Professor an der European School of Culture and Theology, kritisierte anknüpfend an Pils‘ Hinweis auf die Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten der UN-Völkermordkonvention, dass in der Vergangenheit die Feststellung des Straftatbestandes stets viel zu spät erfolgt sei, um Genozide zu ver- oder wenigstens zu behindern. Es bedürfe daher einer frühzeitigen Risikobewertung von potenziellen Genoziden, mahnte der Sozialanthropologe, der an der Aufdeckung der Verbrechen gegen die Uiguren maßgeblich mit beteiligt war.

Im Fall von Xinjiang bestehe das Risiko eines „schleichenden Genozids“. Deutschland müsse handeln, forderte der Experte: „Eine passive Zuschauerrolle wäre für unser Land ein Akt unentschuldbarer Verantwortungslosigkeit.“ (sas/18.05.2021)