Die vorgesehene Erweiterung der Möglichkeiten zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) hat sich als der heikelste Punkt erwiesen, als Experten am Montag, 17. Mai 2021, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts (19/24785) bewerteten. Der Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat unter der Leitung von Andrea Lindholz (CDU/CSU) lagen zudem Anträge der FDP-Fraktion (19/16875), der Fraktion Die Linke (19/8960) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/8700) zugrunde.
„Unzureichend geregeltes Informationssystem“
Prof. Dr. Matthias Bäcker von der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität stellte fest, das nachrichtendienstliche Informationssystem sei nach wie vor unzureichend geregelt. Die teilnehmenden Behörden seien ermächtigt, umfangreiche und sensible Datenbestände mit Bezug auch zu unverdächtigen Personen anzulegen und nahezu anlasslos weiterzuverarbeiten. Dies trage der hohen Eingriffsintensität eines so umfassenden Datenverbunds nicht Rechnung.
Die geplante Ausweitung auf Einzelpersonen gehe außerordentlich weit. Die vorgesehene Ermächtigung zur Quellen-TKÜ führe die zahlreichen verfassungsrechtlichen Mängel des Artikel-10-Gesetzes fort und vertiefe sie. Er forderte, ein Verbot für das Ausnutzen von Sicherheitslücken festzuschreiben.
„Eigenständige Vorschrift könnte für Klarheit sorgen“
Prof. Dr. Jan-Hendrik Dietrich (Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung) vertrat die Ansicht, dass der Gesetzentwurf im Wesentlichen einer rechtlichen Überprüfung standhalte. Er hob auf die zunehmende und gewünschte Verbreitung von Verschlüsselungstechnologien ab, auf die der Gesetzentwurf reagieren wolle.
Die Ausweitung der Quellen-Telekommunikationsüberwachungen werfe allerdings Fragen auf, insbesondere, wenn es um das Auslesen gespeicherter Kommunikation gehe. Eine eigenständige Vorschrift für diesen Bereich könnte beim Rechtsanwender für Klarheit sorgen, so Dietrich.
„Befugnis genügt Verhältnismäßigkeitsanforderungen nicht“
Für den früheren Bundesverwaltungsrichter Prof. Dr. Kurt Graulich ist die vorgesehene Ausdehnung der Beobachtung auf Einzelpersonen ein fundamentaler Schritt. Er schließe sich in diesem Punkt dem Entwurf an, der einen gangbaren Weg aufzeige. Er gab zu bedenken, dass es sich nicht immer um kopfstarke Bewegungen handeln müsse, die beträchtliche politische Auswirkungen haben können.
Bei der geplanten Ausweitung der Quellen-TKÜ könne es sich im Grunde auch um eine Online-Recherche mit Festplattendurchsicht handeln. Dies sei ein äußerst schwerer Eingriff. Diese vorgesehene Befugnis genüge den Verhältnismäßigkeitsanforderungen auf alle Fälle nicht.
„Verfassungsfeindliche Bestrebungen haben sich verstärkt“
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, verwies darauf, dass sich verfassungsfeindliche Bestrebungen verstärkt hätten. Der Bereich der inneren Sicherheit sei den aktuellen Entwicklungen derart unterworfen, dass folgerichtig die gesetzlichen Regelungen dringend an die Veränderungen angepasst werden müssten. So stelle die geplante Stärkung des personenbezogenen Aufklärungsansatzes eine entscheidende Verbesserung für die Bearbeitung von Vorgängen mit noch nicht gewaltorientierten Einzelpersonen dar.
Insbesondere die Radikalisierung von Einzelpersonen, die im Internet agierten und dabei oftmals keine strukturelle Einbindung in Organisationen oder Gruppierungen hätten, müsse noch vor der Verfestigung einer Gewaltorientierung in den Blick genommen werden. Für ihn gehe es beim Gesetzentwurf nicht um die Erweiterung von Befugnissen, sondern um in der heutigen Welt anzukommen.
„Spannungsfeld zwischen IT-Sicherheit und Verfassungsschutz“
Prof. Dr. Ralf Poscher (Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht) ging auf die im Entwurf enthaltene „Mischform“, wie er es nannte, bei der Quellen-TKÜ ein. Es gehe um Überwachung der laufenden und zugleich der ruhenden Kommunikation mit Hilfe eines Zielsystems.
Es handle sich nicht nur um eine Verfahrensregelung, sondern um eine neuartige Befugnis. Er sprach von einem Spannungsfeld zwischen IT-Sicherheit und Verfassungsschutz. Für ihn sei fraglich, ob der Nutzen der Online-Durchsuchung die Risiken überwiege.
„Ganz erhebliches Missbrauchspotenzial“
Dr. Benjamin Rusteberg von der Göttinger Georg-August-Universität meinte, die Erweiterung mit der Einbeziehung der Beobachtung von Einzelpersonen sei abzulehnen und auch nicht erforderlich. Die Möglichkeit zur Online-Durchsuchung zu eröffnen, sei offensichtlich als verfassungswidrig einzuschätzen.
Der Gesetzentwurf sehe weitgehende Mitwirkungs- und Duldungspflichten der Anbieter von Telekommunikationsdiensten vor, die ein ganz erhebliches Missbrauchspotenzial ermöglichten. Es könne im Prinzip jedem alles auf den Rechner gespielt werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit ihrem Gesetzentwurf „zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts“ (19/24785, 19/24900) will die Bundesregierung „insbesondere auf die aktuellen Ereignisse im Bereich des Rechtsterrorismus“ und -extremismus reagieren. „Diese gebieten, auch Einzelpersonen gezielt in den Blick zu nehmen“ sowie die Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund mit dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) gerade bei der Aufklärung des Rechtsextremismus zu verbessern, schreibt die Bundesregierung in der Begründung des Gesetzentwurfs.
Angesichts gewandelter Kommunikationsgewohnheiten sieht die Vorlage zudem für die Nachrichtendienste „ergänzende Aufklärungsbefugnisse durch die Regelung zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung auch von Messengerdiensten“ vor. Laut Bundesinnenministerium ist die „Quellen-TKÜ“ insbesondere für die Überwachung digitaler und verschlüsselter Kommunikation wichtig, die oft über Messengerdienste erfolgt.
Quellen-TKÜ soll im Endgerät ansetzen
Die Quellen-TKÜ setzt danach im Endgerät an, bevor die Nachrichten technisch verschlüsselt werden beziehungsweise wenn sie wieder entschlüsselt sind. Die Regelung zur Quellen-TKÜ erweitere die rechtlichen Möglichkeiten der Telekommunikationsüberwachung nicht, sondern sorge dafür, „dass die Täter sich der Aufklärung technisch nicht mehr durch Wahl des Kommunikationsmittels entziehen können“. Flankierend sollen den Angaben zufolge die Voraussetzungen für eine verbesserte und erweiterte Kontrolle von TKÜ durch die sogenannte G10-Kommission geschaffen werden.
Zur besseren Bekämpfung des Rechtsextremismus ist in dem Gesetzentwurf eine erweiterte Beobachtung von Einzelpersonen vorgesehen. Die Frühwarnfunktion des Verfassungsschutzes erfordere gerade nach den Anschlägen in Halle am 9. Oktober 2019 und Hanau am 19. Februar 2020 „angesichts eruptiver Radikalisierungsverläufe von Einzelpersonen, Extremisten bereits im Vorfeld militanter Handlungen besser in den Blick nehmen zu können“, heißt es dazu in der Begründung des Gesetzentwurfs.
Danach soll zugleich der Informationsaustausch zwischen den Verfassungsschutzbehörden und dem MAD durch die erweiterte Möglichkeit gemeinsamer Datenhaltung technisch unterstützt werden. Damit werde auch die übergreifende Analysefähigkeit bei Auswertung vorhandener Informationen unter Einbezug des Geschäftsbereichs des Verteidigungsministeriums verbessert. Schließlich sollen mit dem Gesetzentwurf Vorgaben des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes angepasst werden, „um die Durchführung der Sicherheitsüberprüfung in praktischer Hinsicht zu erleichtern und zu verbessern“.
Antrag der FDP
Die Bundesregierung soll nach dem Willen der FDP-Fraktion „im Rahmen ihrer Vorschläge zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechts auf eine Ausweitung der Quellen-Telekommunikationsüberwachung und der Online-Durchsuchung beim Bundesamt für Verfassungsschutz“ (BfV) ebenso verzichten wie auf eine „Streichung der strengeren Voraussetzungen“ für die Speicherung der Daten von Minderjährigen unter 14 Jahren. In ihrem Antrag (19/16875) fordert die Fraktion die Bundesregierung zudem auf, auf die Einführung eines Betretungsrechts von Privaträumen zur Anbringung von Überwachungseinrichtungen für das BfV zu verzichten.
Bevor neue Überwachungsmaßnahmen eingeführt werden, müssten die bestehenden Maßnahmen in einer „Überwachungsgesamtschau“ bewertet werden, heißt es in der Vorlage. Eine solche Gesamtschau zeige Lücken bei den Befugnissen der Sicherheitsbehörden auf, stelle aber auch sicher, „dass die Überwachung der Bürgerinnen und Bürger das erträgliche Maß nicht übersteigt“.
Ferner schreiben die Abgeordneten, dass es „angesichts der im Rahmen der Mordserie des so genannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) aufgedeckten strukturellen Mängel bei der Arbeit des Verfassungsschutzverbundes sowie der Fehler im Zusammenhang mit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016“ einer Reform des Föderalismus im Bereich der Inneren Sicherheit bedürfe. Zu diesem Zweck müssten Bundestag und Bundesrat eine gemeinsame Kommission zur Reform der föderalen Sicherheitsarchitektur einsetzen.
Antrag der Linken
„Zivilgesellschaft stärken, Verfassung wirksam schützen“ lautet der Antrag der Fraktion Die Linke (19/8960), in dem die Fraktion auf eine Neuorganisation des Verfassungsschutzes dringt. Danach solle eine „ministerialfreie Koordinierungsstelle“ eingerichtet werden, „die für Zwecke des Verfassungsschutzes lediglich über umstürzlerische Tätigkeiten Unterlagen sammelt, ohne eigene Befugnisse zur Informationsbeschaffung zu besitzen“. Sie solle Erkenntnisse von Behörden des Bundes und der Länder sowie aus dem Ausland entgegennehmen und den Austausch dieser Erkenntnisse zwischen den Ländern koordiniert sowie das bisherige „Bundesamt für Verfassungsschutz“ (BfV) ablösen.
Auch soll nach dem Willen der Fraktion eine „Bundesstiftung zur Beobachtung, Erforschung, und Aufklärung aller Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Demokratiefeindschaft“ errichtet werden. „Ihr Zweck ist der Schutz der Menschenwürde sowie der Grundrechte und des demokratischen Gemeinwesens durch wissenschaftliche Untersuchung, Information, Dokumentation und Aufklärung über Ursachen und Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Demokratiefeindschaft“, heißt es in dem Antrag. Diese Bundesstiftung soll die von der Koordinierungsstelle gesammelten Informationen entgegennehmen und daneben selbstständig allgemein zugängliche Informationen erheben und wissenschaftlich aufarbeiten sowie unter anderem die Bundesregierung, ihre nachgeordneten Behörden und den Bundestag beraten.
Neue Bundesanstalt für Geheim- und Spionageschutz
Zudem soll beim Bundeskriminalamt der Vorlage zufolge eine mit Geheimschutzmaßnahmen gesicherte Stelle eingerichtet werden, die anstelle des BfV Hinweise und Erkenntnisse ausländischer Nachrichtendienste entgegennehmen soll. Des Weiteren sieht der Antrag die Einrichtung einer „Bundesanstalt für Geheim- und Spionageschutz“ vor, „die im Rahmen des personellen und materiellen Geheimschutzes öffentliche und nicht-öffentliche Stellen berät“ und durch Registerabfragen bei Polizeibehörden und Finanzeinrichtungen zentral für alle öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen Sicherheits- beziehungsweise Zuverlässigkeitsüberprüfungen durchführt.
Darüber hinaus fordert die Fraktion von der Bundesregierung die Vorlage eines Konzepts, „wie der wirtschaftliche Spionageschutz und die illegale Ausfuhr von Rüstungsgütern (Proliferation) in einer nachgeordneten Stelle des Bundeswirtschaftsministeriums effektiver durchgeführt werden kann“. Ferner will die Fraktion evaluiert wissen, welche Maßnahmen bislang vom BfV „im Bereich der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit informationstechnischer Systeme tatsächlich vorgenommen und welche fachlichen Kompetenzen tatsächlich erworben wurden, um auf dieser Basis ein Konzept zu erstellen, wie diese Tätigkeiten zukünftig auf das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik übertragen werden können“.
Antrag der Grünen
Die Grünen dringen in ihrem Antrag (19/8700) auf einen „Neustart des Verfassungsschutzes des Bundes“. Danach soll der Schutz der Verfassung im Bund „strukturell wie inhaltlich neu organisiert werden“. Im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums sollen dazu nach dem Willen der Fraktion ein unabhängiges „Institut zum Schutz der Verfassung (ISV)“ sowie ein „ Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr (BfGS)“ geschaffen werden.
Das neue Institut solle nur öffentliche Quellen analysieren und dabei zuständig sein für die laufende wissenschaftliche Beobachtung und Erforschung von Strukturen und Zusammenhänge demokratie- und menschenfeindlicher Bestrebungen, die gegen den Rechtsstaat und die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind. Alle Bestrebungen, die sich gegen die Grund- und Menschenrechte, die nicht veränderbaren Grundsätze der Verfassung oder das friedliche Zusammenleben der Völker richten, sollen dem Antrag zufolge laufend erforscht und transparent gemacht werden. Das Institut erfülle damit einen Teil der Aufgaben, denen das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV ) bisher nicht in vollem Umfang gerecht geworden sei.
Neues Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr
Ferner sieht der Antrag vor, neben dem ISV ein „strukturell völlig neues Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr“ aufzubauen, „das mit rechtsstaatskonformen nachrichtendienstlichen Mitteln klar abgegrenzt von polizeilichen Aufgaben arbeitet“. Es soll nach dem Willen der Fraktion Informationen über Bestrebungen im Vorfeld konkreter Gefahren sammeln, „die sich gegen die Grund- und Menschenrechte, die nicht veränderbaren Grundsätze der Verfassung oder das friedliche Zusammenleben der Völker richten“ und sich zu diesem Zweck „auf die Anwendung von Gewalt und den Aufbau von auf Gewalt ausgerichteter Handlungsstrukturen vorbereiten oder fortgesetzt solche gewalttätigen Akteure unterstützen oder Kontakt zu diesen suchen“. Außerdem solle das BfGS als Schnittstelle zu ausländischen Nachrichtendiensten fungieren.
In ihrem Antrag schreiben die Abgeordneten, dass das BfV, seine Befugnisse, aber auch seine Struktur „zu Recht regelmäßig in der Kritik“ stünden. Die „seit Jahren erkennbaren Missstände bezüglich Strukturen, Arbeitsweisen, Personal und Kontrollierbarkeit des BfV“ erforderten eine umfassende Antwort. Um die „rechtsstaatliche Gewährleistung der Sicherheit wieder in Einklang mit individuellen Freiheitsrechten zu bringen“, brauche es eine strukturelle Neuorganisation des Verfassungsschutzes in Deutschland. Leitbild müsse dabei sein, „dass in einem Rechtsstaat das Handeln der Nachrichtendienste sowohl kontrollierbar als auch nachvollziehbar sein muss“. (fla/sto/vom/17.05.2021)