Vor 150 Jahren: Konstituierende Sitzung des ersten Reichstages
Vor 150 Jahren wurde nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 mit dem Bündnis der vier süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt und dem Norddeutschen Bund der erste deutsche Nationalstaat gegründet. Noch während der Belagerung von Paris hatten die Verhandlungen über die Aufnahme der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund begonnen, bis sich die Regierungen im November 1870 auf die Gründung eines Deutschen Bundes mit Wirkung zum 1. Januar 1871 einigten.
Nachdem sie sich in auf die Beitrittsmodalitäten geeinigt hatten, ratifizierte der Reichstag des Norddeutschen Bundes am 9. und 10. Dezember 1870 die verfassungsverändernden „Novemberverträge“, die auch in den süddeutschen Landtagen ratifiziert werden mussten. Symbolisch besiegelte die Proklamation König Wilhelms I. von Preußen (1797-1888) zum deutschen Kaiser im Schloss Versailles bei Paris am 18. Januar 1871 die Gründung des Deutschen Kaiserreichs, das faktisch seit dem 1. Januar 1871 durch die Verfassung des Deutschen Bundes existierte.
Eröffnungssitzung im Berliner Stadtschloss
Nach der Kaiserproklamation am 18. Januar und der ersten gesamtdeutschen Reichstagswahl am 3. März fand am Dienstag, 21. März 1871, am frühen Nachmittag um 13 Uhr die Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Reichstages statt. Nach einem feierlichen Gottesdienst hatten sich Bundesfürsten und Abgeordnete, aber auch Generäle, Diplomaten und Beamte der Ministerien sowie Angehörige des Hofes zur Eröffnung mit großem Zeremoniell im Weißen Saal des Königlichen Schlosses in Berlin versammelt.
Nachdem die anwesenden Räte, Generäle und Abgeordneten ihre Aufstellung vollendet hatten und der Bundesrat unter Vortritt des Bundeskanzlers, Otto Eduard Leopold Graf von Bismarck-Schönhausen (1815-1898), seine Plätze eingenommen hatte, „wurde Seiner Majestät dem Kaiser und König durch den Bundeskanzler davon Anzeige gemacht“. Unter Hochrufen betrat daraufhin die kaiserliche Entourage den Saal.
Feierliches Zeremoniell
Dem Kaiser schritten nach den Hofchargen die Träger mit den Reichsinsignien paarweise voran – der General der Infanterie Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke (1800-1891) mit dem entblößten Reichsschwert, der General der Infanterie Eduard von Peucker (1791-1876) mit dem Reichsapfel auf einem silbernen Kissen, der General der Infanterie und Kriegsminister Albrecht Theodor Emil von Roon (1803-1879) mit dem Zepter auf einem goldenen Kissen, ihm zur Seite der Oberstkämmerer Friedrich Wilhelm Graf von Redern (1802-1883) mit der Königskrone, ebenfalls auf einem goldenen Kissen.
Diesem folgte, geleitet von den Generalleutnants Georg Arnold Carl von Kameke (1817-1893) und Theophil Eugen Anton von Podbielski (1814-1879) der General-Feldmarschall Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel (1784-1877) mit dem Reichspanier.
Bewusstsein der Einheit im deutschen Volke
Nachdem der Kaiser auf dem Thron Platz genommen hatte, überreichte der Bundeskanzler sich verneigend die Thronrede, die Wilhelm I. – wie das Protokoll vermerkt – „unbedeckten Hauptes“ verlas: „Wir haben erreicht, was seit der Zeit unserer Väter für Deutschland erstrebt wurde: die Einheit und deren organische Gestaltung, die Sicherung unserer Grenzen, die Unabhängigkeit unserer nationalen Rechtsentwickelung. Das Bewusstsein seiner Einheit war in dem deutschen Volke, wenn auch verhüllt, doch stets lebendig; es hat seine Hülle gesprengt in der Begeisterung, mit welcher die gesamte Nation sich zur Verteidigung des bedrohten Vaterlandes erhob und in unvertilgbarer Schrift aus den Schlachtfeldern Frankreichs ihren Willen verzeichnete, ein einiges Volk zu sein und zu bleiben.“
Weiter nahm Wilhelm I. in seiner Ansprache auch Bezug auf die Aufgaben des ersten gesamtdeutschen Reichstages: „Die Vorarbeiten für die regelmäßige Gesetzgebung haben leider durch den Krieg Verzögerungen und Unterbrechungen erlitten; die Vorlagen, welche Ihnen zugehen werden, leiten sich daher unmittelbar aus der neuen Gestaltung Deutschlands ab. Die in den einzelnen Verträgen vom November vorigen Jahres zerstreuten Verfassungsbestimmungen sollen in einer neuen Redaktion der Reichsverfassung ihre geordnete Zusammenstellung und ihren gleichmäßigen Ausdruck finden. Die Beteiligung der einzelnen Bundesstaaten an den laufenden Ausgaben des Reiches bedarf der gesetzlichen Regelung.“
Konstituierende Sitzung im preußischen Abgeordnetenhaus
Im Anschluss an die Thronrede trat erneut Bundeskanzler Graf von Bismarck-Schönhausen hervor und verkündete: „Auf Befehl Sr. Majestät des Kaisers erkläre ich im Namen der verbündeten Regierungen den Reichstag für eröffnet.“ Unter neuerlichen Hochrufen verließen der Kaiser und sein Gefolge den Saal, während sich die Abgeordneten für die konstituierende Sitzung in die Räume des preußischen Abgeordnetenhauses am Dönhoffplatz begaben.
Die Sitzung im Abgeordnetenhaus wurde um 15.05 Uhr durch den Alterspräsidenten Wolf Sylvius Leopold von Frankenberg-Ludwigsdorf (1785-1878) von der Konservativen Partei eröffnet: „Mit Sicherheit glaube ich annehmen zu können, dass kein Mitglied dieser verehrlichen Versammlung im Jahre 1785 geboren ist. Ich nehme also Besitz von Ihrem Präsidentenstuhle Behufs der Konstituierung des Reichstages.“ Der Alterspräsident begrüßte besonders die Mitglieder der süddeutschen Staaten und appellierte an die Abgeordneten, die Einigung zu befestigen und an die Werke des Friedens zu gehen.
Wahl des Reichstagspräsidenten
In ihrer zweiten Sitzung wählten die Abgeordneten Dr. Martin Eduard Sigismund Simson (1810-1899) zu ihrem Präsidenten. Der frühere Präsident des Reichstages des Norddeutschen Bundes hatte bereits als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und von Dezember 1848 bis Mai 1849 als ihr Präsident an der gescheiterten Reichsverfassung von 1849 mitgearbeitet.
Der nationalliberale Jurist freute sich besonders über „die hergestellte Einheit unseres Volkes“. „Die Größe unserer Aufgabe, ‚Wahrung und Förderung der deutschen Staatsgemeinschaft in dem Geist, der sie ins Leben gerufen hat‘, bürgt uns auch für ihre Lösung: sie regt jede Kraft in unseren Seelen an.“ Abschließend bat er die Abgeordneten: „Unterstützen Sie mich dabei, hochverehrte Herren, mit Ihrem ganzen Wohlwollen und lassen Sie sich diesen Ausdruck meines ehrerbietigen Dankes freundlich gefallen!“
Die Reichsverfassung von 1871
Eine der ersten wichtigen Aufgaben des Parlaments war es, die vorläufige Verfassung des Kaiserreichs vom ersten Januar 1871 zu überarbeiten. Die „Verfassung des Deutschen Reiches“ wurde schließlich am Freitag, 14. April 1871, mit großer Mehrheit verabschiedet. Nach der Unterzeichnung durch Kaiser Wilhelm I. am 16. April 1871 trat sie am 4. Mai in Kraft und ersetzte die Verfassung des Deutschen Bundes. Inhaltlich glich sie weitgehend der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867.
In der Verfassung wurden neben dem Bundesgebiet und der Reichsgesetzgebung auch die Rollen des Kaisers und des Parlaments festgelegt. Das deutsche Kaiserreich war eine konstitutionelle Monarchie. Dem Kaiser, der zugleich preußischer König und oberster Kirchenherr der Protestanten war, oblag die politische und militärische Führung. Er hatte den Oberbefehl über das Militär. Er entschied über Einberufung, Eröffnung, Vertagung und Schließung des Parlaments und des Bundesrates.
Der Kaiser ernannte und entließ den Reichskanzler, der im Regelfall auch das Amt des preußischen Ministerpräsidenten bekleidete. Über seinen Vorsitz im Bundesrat hatte der Reichskanzler maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung der konstitutionellen Monarchie. Im Zentrum der ursprünglich als Fürstenbund konzipierten Verfassung stand – als Vertreter der 25 Einzelstaaten – der Bundesrat, der formell über weitreichende Befugnisse in Exekutive, Legislative und Judikative verfügte. Die Versammlung der deutschen Fürsten und Städtevertreter konnte Gesetze einbringen und musste Gesetzesvorhaben zustimmen. Die Stimmengewichtung verteilte sich nach der Flächengröße der Länder.
Wahlrecht
Die Abgeordneten des Reichstages wurden in allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht bestimmt. Wahlberechtigt waren bis 1919 allerdings nur männliche Deutsche über 25 Jahre. Militärangehörige und andere Gruppen waren ausgeschlossen. Frauen blieb das Wahlrecht bis 1918 grundsätzlich verwehrt. Das entsprach den Bestimmungen der niemals in Kraft getretenen Reichsverfassung von 1849. Dem Reichstag gehörten zunächst 382, ab 1874 schließlich 397 Abgeordnete an. Sie wurden für eine Legislaturperiode von drei Jahren, ab 1888 für fünf Jahre gewählt. Die Abgeordneten übten ihr Mandat zu Beginn neben ihrem eigentlichen Beruf aus. Sie bekamen keine Diäten und hatten weder Mitarbeiter noch eigene Büros.
Gewinner der ersten Reichstagswahl waren mit 30,1 Prozent die Nationalliberalen, gefolgt von den Konservativen mit 23 Prozent, dem katholisch geprägten Zentrum mit 18,6 Prozent und den Linksliberalen mit 9,3 Prozent der Stimmen. Weit abgeschlagen waren zu diesem Zeitpunkt die Sozialdemokraten mit zusammen 3,2 Prozent der Stimmen.
Befugnisse des Reichstages
Trotz des für seine Zeit vergleichsweise modernen und fortschrittlichen Wahlrechts hatte das gewählte Parlament nur eingeschränkte Befugnisse. Der Reichstag konnte weder die Regierung kontrollieren noch Einfluss auf die Regierungspolitik nehmen. Der Reichskanzler war nicht dem Parlament verantwortlich, sondern allein vom Vertrauen des Monarchen abhängig und konnte deshalb auch nicht vom Reichstag zur Rechenschaft gezogen werden.
Zwar konnte die Volksvertretung das jährliche Budget blockieren oder Gesetzesentwürfe des Reichskanzlers ablehnen, musste dann aber mit ihrer Auflösung rechnen. Gleichwohl besaß der Reichstag die Kompetenz, selbstständig Gesetzesvorlagen einzubringen. Auch die Tagesordnung bestimmten die Volksvertreter autonom.
Großes öffentliches Interesse am Parlamentsgeschehen
Dennoch entstanden in dieser Zeit umfangreiche Gesetzeswerke, mit denen die Parlamentarier die Grundlagen für den heutigen Sozialstaat legten, wie beispielsweise die Kranken-, Unfall- und Altersversicherung. Auch war der Reichstag das Forum seiner Zeit, in dem die wichtigen Fragen der Innen- und Außenpolitik öffentlich verhandelt wurden. Entsprechend groß war das öffentliche Interesse am Parlamentsgeschehen. In den Zeitungen wurden die Reichstagsdebatten meist noch am selben Abend abgedruckt. Während die kritische Berichterstattung massiv behindert wurde, war die wortgetreue Wiedergabe der Reden der Parlamentarier erlaubt.
Auch die Wahlbeteiligung wuchs kontinuierlich. Lag sie bei der ersten Wahl am 3. März 1871 noch bei 50,7 Prozent, stieg sie bis zur 12. Reichstagswahl 1912 auf 84,5 Prozent an (nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 fanden keine Wahlen mehr statt).
Zunächst hatte das Parlament des Kaiserreiches noch im Plenarsaal des preußischen Abgeordnetenhauses am Dönhoffplatz getagt. Dieses war jedoch in einem so schlechten baulichen Zustand, dass die Abgeordneten bereits im April 1871 den Beschluss fassten, ein Reichstagsgebäude „von wirklich monumentalem Charakter“ zu schaffen. Als Übergangslösung zogen die Parlamentarier im Herbst 1871 in das umgebaute Haus der Königlichen Porzellanmanufaktur in der Leipziger Straße 4, bevor sie 23 Jahre später, am 6. Dezember 1894, das neue Reichstagsgebäude beziehen konnten. (klz/17.03.2021)