Dirk Reinartz: Innere Angelegenheiten
20. Oktober 2017 bis 25. Februar 2018
Der 1947 in Aachen geborene und 2004 verstorbene Fotograf Dirk Reinartz begann seine Karriere als jüngster Reportagefotograf in der Redaktion des Stern. An der Folkwangschule in Essen bei Otto Steinert ausgebildet, war er von 1977 bis 1982 Teil der Fotografengruppe VISUM – einer Agentur, die 1975 in Essen von seinen Kommilitonen und späteren Kollegen Rudi Meisel, André Gelpke und Gerd Ludwig gegründet wurde und nicht nur versuchte, über die verschiedenen Sicht- und Herangehensweisen der einzelnen Fotografen ein breites Spektrum gesellschaftskritischer Fotografie abzudecken, sondern auch bessere Arbeitsverhältnisse für ihre Mitglieder durchzusetzen.
Reinartz hinterließ ein reiches Oeuvre, das von Künstlerporträts bis zu Landschaftsaufnahmen reichte. Ein Arbeitsschwerpunkt bestand für ihn in der Auseinandersetzung mit der politischen und mentalen Situation in Deutschland. Dafür begleitete er Autoren und Redakteure auf Reportagereisen durch das Land und suchte stets danach, durch seine Bilder eine eigene, vom Text unabhängige Erfahrungsebene zu eröffnen: „Ich glaube, daß Bilder durchaus die Kraft haben, etwas zu vermitteln, ohne daß sie nun ganz genau sagen, was da passiert ist. Sie sind als Bild so stark, daß man etwas Existentielles spürt, etwas von dem, was man gesehen hat. (…) Was wir schuldig sind, ist eine Anstrengung zum Verstehen, und es ist die Genauigkeit des Hinsehens.“ (Gespräch mit Dirk Reinartz und Erich Hartmann, ZEIT-Magazin 47/1994)
Reinartz‘ Arbeiten erschienen in vielen großen Zeitschriften, darunter in Life, Der Spiegel, in den Magazinen der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT oder in der Kunstzeitschrift Art. Darüber hinaus arbeitete er in eigenem Auftrag und widmete sich mit Buchprojekten (alle im Steidl-Verlag erschienen) den aus der Zeit gefallenen Bismarck-Standbildern in westdeutschen Städten (Bismarck, 1980er Jahre) oder er suchte nach bildhaften Zeichen für den Zustand der Republik (Kein schöner Land. Deutschlandbilder, 1978 – 1987, Innere Angelegenheiten, 1989 – 2002 und: Durch die Bank, 1992/96), wobei er seinen Blick nicht auf die prosperierenden Zentren, sondern auf die Randgebiete, auf architektonische Ungereimtheiten und Leerstellen, auf gestalterische Ödnis und städtebaulichen Verfall richtete, also auf das Gegenteil des stolzen Wirtschaftswunderlandes. Reinartz blieb bei diesen Beobachtungen unbeirrt sachlich und unpathetisch, voller Vertrauen auf das Bild als Träger und Übermittler einer Wirklichkeit, die vom Betrachter eingeordnet und mit einer Geschichte versehen werden könnte. Dies erklärt auch, warum er bei diesen Aufnahmen völlig auf die Anwesenheit von Menschen verzichtete. Er dokumentierte nicht nur was er sah, sondern er verstand diese vorgefundenen Bildräume offensichtlich als imaginäre Schauplätze für jeden, der sich in diese Räume hineindenken will.
Besonders konsequent verfolgte er dieses Prinzip bei seinen über Jahrzehnte entstandenen Aufnahmen von Richard Serras Skulpturen, deren räumlicher Präsenz er in adäquaten Bildkompositionen nachspürte. Und in der Serie „totenstill“: mehr als 200 Aufnahmen aus 26 Konzentrationslagern in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Österreich, Frankreich, Tschechien und Polen, für die er acht Jahre lang recherchierte und reiste, um irritierend präzise komponierte, extrem versachlichte Bilder eines Vernichtungsapparats zu machen, dessen Grausamkeit sich für die meisten Künstler der Darstellbarkeit entzieht. Reinartz konzentrierte sich deshalb auf das Sichtbare und Offensichtliche: Er zeigt die penible Ordnung, die strengen Grundrisse, die erschütternd funktionale Logik der Lager, in denen Millionen Menschen systematisch ermordet wurden – und die übrig gebliebene Leere, die nicht nur Symbol für die Abwesenheit der ums Leben gekommenen Menschen ist, sondern auch als Frage nach der schwindenden Erinnerung an sie verstanden werden kann.
Die Ausstellung im Mauer-Mahnmal richtet ihren Fokus auf deutsch-deutsche Fotoserien aus der Zeit vor und nach dem Mauerfall. Denn auch das gehörte selbstverständlich zu Reinartz: Er interessierte sich für nicht nur für die „inneren Angelegenheiten“ der Bundesrepublik, sondern stets für das Deutschland dies- und jenseits der innerdeutschen Grenze. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen dabei die Serien, die von einem überraschenden Wechselspiel aus Nähe und Ferne beider deutscher Staaten und ihrer Bewohner berichtet:
„Besonderes Kennzeichen: deutsch“ (1987) entstand wie alle anderen genannten Serien auch als Reportage gemeinsam mit dem ZEIT-Redakteur Wolfram Runkel. Beide reisten anlässlich der neu geknüpften Städtepartnerschaft zwischen Jena und Erlangen im Jahr 1983 zunächst in die DDR, um elf Menschen in ihrem beruflichen Umfeld zu porträtieren, dann nach Erlangen, um deren professionellen Zwilling zu finden. Die entstandenen Doppelporträts zeigen eine verblüffende Ähnlichkeit der Berufe mitsamt den dazugehörigen Insignien von Uniformen oder Kleidung, Gerätschaften und Maschinen – und letztlich der Menschen, die trotz der so grundsätzlich verschiedenen Gesellschaftssysteme ähnlich typisch deutsch geblieben waren.
„Schnackenburg. Das stille Ende“ (1983) porträtiert die Bewohner des kleinen niedersächsischen Ortes Schnackenburg, einem in die DDR hineinragenden bundesrepublikanischem Zipfel im so genannten Zonenrandgebiet und mutet an, wie eine Reportage aus den neuen Ländern viele Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands: Ein sterbender Ort, in dem die letzten dagebliebenen Alten mit viel Geschichte und wenig Zukunft nach einem Leben suchen, dessen Ende absehbar ist. Reinartz zeigt die Bewohner wie Protagonisten einer geheimnisvollen Welt, in der dichte Wälder, ein verlassener Gasthof und eine leere Kirche zum Schauplatz eines Geschehens werden, das schon bei der Aufnahme wie vergangen wirkt.
In „Go East. Neue Heimat Ost“ (1989) und „Das Drama von Malz“ (1991) begleitete Reinartz eine westdeutsche Familie, die Mitte der achtziger Jahre aus der Bundesrepublik in die DDR übersiedelte, um in Malz, einem brandenburgischen Dorf nahe Berlin, einen geerbten Gasthof zu bewirtschaften. Der erste Teil der Reportage zeigt heiter fasziniert die Ähnlichkeit einer kleinbürgerlichen Lebenswelt, in die sich die Familie fast ohne Schwierigkeiten einpassen kann, weil die Unterschiede zwischen Ost und West kaum ins Gewicht zu fallen scheinen. Teil zwei indes berichtet von Fremdheit und offenem Dissens, mit denen – nach der Vorgeschichte völlig unerwartet – die Dorfbewohner nun gegeneinander leben und ihre Unterschiede als erheblich empfinden.
Schließlich die Serie „Warteschleife“ (1991), deren Bildern etwas seltsam Ikonisches anhaftet. Während der Autor Menschen interviewt, die in einer der vier Telefonzellen an der für den Agentenaustausch berühmt gewordenen Glienicker Brücke die Verbindung in den Westteil der Republik suchen, fotografiert Reinartz vier signalfarbene Zellen, die – bei Tag uneinsehbar und dunkel, bei Nacht geheimnisvoll leuchtend – wie Wunderkammern die Erfüllung eines Wunsches für jeden bereit zu halten scheinen, der sie betritt. Einar Schleef, dessen Telefonzellenbilder vor einigen Jahren ebenfalls im Mauer-Mahnmal ausgestellt wurden, hat sie aus der anderen Perspektive gesehen. Für ihn waren die Zellen ein einsamer Ort, der vor allem von Sehnsucht nach Kontakt, nach Anbindung und nach Aufgenommensein geprägt war. Mit Reinartz‘ bislang unausgestellten Aufnahmen schließt sich damit unerwartet ein Kreis, der zur Erinnerung an das Leben mit der Mauer gehört.
In der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages befinden sich vier Arbeiten aus Reinartz‘ Bismarck-Serie.
Eröffnung
19. Oktober 2017 um 18 Uhr im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages
Begrüßung und Einführung in die Ausstellung: Prof. Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages
Wolfram Runkel, Redakteur der ZEIT und Autor vieler Reportagen, für die Dirk Reinartz fotografierte
Kristina Volke, Kuratorin der Ausstellung
Öffnungszeiten
20. Oktober 2017 bis 25. Februar 2018
Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr
Der Eintritt ist frei.
Mauer-Mahnmal im Deutschen Bundestag
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
Schiffbauerdamm
10117 Berlin
Eingang an der Spree, gegenüber dem Reichstagsgebäude
Weitere Informationen:
Tel. 030-227-32027
kunst@bundestag.de
www.kunst-im-bundestag.de
www.mauer-mahnmal.de