10.05.2021 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Begrüßung bei der Konferenz der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten der EU-Mitgliedstaaten und des Präsidenten des Europäischen Parlaments (EU-PPK)

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Wir haben diese Konferenz in den Mai verschoben, weil wir gehofft haben, uns dann persönlich zu treffen. Hier in Berlin.

Die Pandemie hat uns – wie so oft in letzter Zeit – einen Strich durch diese optimistische Rechnung gemacht. Der folgende, kurze Film lässt hoffentlich ein wenig Berliner Flair aufkommen, wo immer Sie gerade vor Ihren Bildschirmen sitzen:

[Eingespielter Kurzfilm mit Berlin-Impressionen]

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Digitalisierung eröffnet enorme Möglichkeiten. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie wir diese Pandemie ohne Internet, ohne digitale Technologien bewältigen würden. Ohne Webkonferenzen, die wenigstens eine virtuelle Zusammenkunft wie unsere erst möglich machen.

Aber Demokratie nur digital – das geht nicht. Das Politische braucht die Begegnung, das Miteinander und Gegeneinander in der realen Welt. Vielleicht bin ich aber auch nur zu sehr ein digital immigrant, um es mir anders vorstellen zu können.

Mit dem Internet verband sich einst die Hoffnung auf eine bessere, eine „demokratischere“ Demokratie. Und es stimmt ja auch: Die Digitalisierung erleichtert es, sich einzubringen, sie ermöglicht neue Formen der Teilhabe. Der Bürgerrat zur Rolle Deutschlands in der Welt, mit dem der Deutsche Bundestag dieses Format der Bürgerbeteiligung erprobt hat, wäre als offline-Format in dieser Zeit gar nicht erst zustande gekommen. Auch die gestern gestartete „Konferenz zur Zukunft Europas“ setzt auf digitale Tools, um möglichst viele Europäerinnen und Europäer einzubeziehen.

Mehr Teilhabechancen heißt aber nicht automatisch mehr Partizipation – und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende getroffenen Entscheidungen.

Internet und soziale Medien fordern das Prinzip der Repräsentation heraus. Sie verändern das, was wir die Öffentlichkeit nennen fundamental. Die algorithmengesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie im Netz zementiert Teilöffentlichkeiten, befördert Hass und Desinformation und polarisiert unsere Gesellschaften. Die klassischen Medien verlieren ihre zentrale Filter- und Mittlerfunktion. So schwindet der gemeinsam geteilte Erfahrungs- und Diskursraum, in dem wir uns im kollektiven Gespräch über die wichtigen Fragen verständigen. Genau darauf ist die Demokratie aber angewiesen  – insbesondere in der vielfältiger werdenden Gesellschaft!

Die Funktionslogik der digitalen Öffentlichkeit lässt wenig Raum für den demokratischen Streit und die mühsame Suche nach Ausgleich und Kompromiss. Sie befördert im Gegenteil die populistische Versuchung, den eigenen Willen mit dem der Mehrheit gleichzusetzen. Die Möglichkeit, sich unmittelbar und vernehmbar im Netz zu äußern, scheint mit dem Anspruch einherzugehen, dass die eigene Meinung unmittelbar in politische Wirklichkeit umzusetzen sei. Das widerspricht nicht nur den Kernprinizpien der demokratischen Entscheidungsfindung, sondern führt unweigerlich zur Enttäuschung. Auf lange Sicht gefährdet das die Legitimation gewählter Repräsentanten, für alle verbindliche Entscheidungen zu treffen. Deshalb braucht es Antworten von uns, den Parlamenten als zentrale Legitimationsinstanzen der repräsentativen Demokratie, auf diese entscheidende und immer dringlichere Frage: Wie gelingt es uns, die Vorzüge des repräsentativen Prinzips gegen die Tendenzen einer digitalen Stimmungsdemokratie zu behaupten?

Hinzu kommt die enorme Machtkonzentration in den Händen der großen Internetkonzerne, die nicht nur ordnungspolitisch problematisch ist. Google, Facebook und Co. sprechen zwar viel vom Gemeinwohl, weisen aber jede Verantwortung dafür zurück. Sie sind nur mit Mühe und Not dazu zu bringen, Hass und Hetze einen Riegel vorzuschieben. Zugleich kontrollieren sie nach Gutdünken den Zugang zum Diskurs.

Ihr Geschäftsmodell basiert auf den gigantischen Datenmengen, die sie sammeln und die sich kommerziell und politisch verwerten lassen – unter anderem, um durch gezielte Desinformation das Vertrauen in demokratische Institutionen zu untergraben und Wahlen zu beeinflussen. Für einige Akteure ist das offenkundig zu einem gängigen Instrument ihrer Außenpolitik geworden.

Wie machen wir unsere Demokratien resilienter gegen die Gefahren, die mit der fortschreitenden Digitalisierung einhergehen?

Wie sichern wir das Primat der Politik gegenüber den großen Playern im Netz?

Wie nutzen wir die Chancen der digitalen Technologien in unserem Sinne?

Und: Wie werden wir Europäer innovativer und souveräner in Sachen Digitalisierung und KI?

Nur wenn das gelingt, kann Europa seinen Gestaltungsanspruch einlösen: eine digitale Welt, die unseren freiheitlichen Werten entspricht.

Zugeschaltet sind uns zwei ausgewiesene Expertinnen zum Thema. Ich begrüße herzlich Francesca Bria und Jeanette Hofmann!

Frau Professor Hofmann ist Gründungsdirektorin des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft und forscht insbesondere zu den Wechselwirkungen von Kommunikationstechnologie, Gesellschaft und Politik. Sie leitet derzeit Forschungsgruppen am Wissenschaftszentrum Berlin und am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft.

Frau Professor Bria ist Präsidentin des italienischen Nationalen Innovationsfonds und eine international gefragte Beraterin in Fragen digitaler Politik. Sie hat das europäische Forschungsprojekt DECODE geleitet und als Technologie- und Innovationsverantwortliche der Stadt Barcelona erprobt, wie Bürger die Hoheit über ihre Daten erlangen und zugleich aktiv in die Kommunalpolitik eingebunden werden können.

Herzlichen Dank an Sie beide, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind! Ich bin sehr gespannt auf Ihre Impulse – zumal Sie beide die Entwicklungsoffenheit der Digitalisierung betonen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

das ist heute nicht nur unsere erste digitale EU-Parlamentspräsidentenkonferenz. Wir haben auch zum ersten Mal eine professionelle Moderatorin. Anke Plättner moderiert als Journalistin seit vielen Jahren politische Sendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Danke, Frau Plättner, dass Sie uns heute durch die Debatte führen.

Ich freue mich auf einen offenen, lebendigen Austausch mit Ihnen allen. Und ich bin sicher, das geht auch Ihnen so, Herr Bundesratspräsident.

Sie haben das Wort.

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