Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Begrüßung des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko im Deutschen Bundestag
Es gilt das gesprochene Wort
„Ich begrüße Sie als den gewählten Repräsentanten der neuen, jungen ukrainischen Demokratie. Wir haben alle großen Anteil genommen an dem friedlichen Wandel, dem entschlossenen Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen den versuchten Wahlbetrug der postsowjetischen Machthaber.
Die Ukraine ist nun ein weiteres Glied in der Kette erfolgreicher, friedlicher Revolutionen zur Demokratie. Deshalb war und ist unsere Sympathie mit der orangenen Protestbewegung so groß, weil sie die Freiheitsrevolution von 1989 vervollständigt, die in Polen, Ungarn, Tschechien, Ostdeutschland begann und die kommunistische Diktatur überwand.
Nicht wenige Abgeordnete des Deutschen Bundestages waren in den entscheidenden Tagen und Wochen in Kiew, um ihre Solidarität vor Ort zu zeigen. Ich selbst habe Ihre Amtseinführung miterleben dürfen und wahrnehmen können, mit welcher Begeisterung die ukrainische Bevölkerung dieses Ereignis gefeiert hat. Aber auch welch außerordentliche Hoffnungen und Erwartungen auf Sie gerichtet sind.
Im Namen des deutschen Parlaments wünsche ich Ihnen, Herr Staatspräsident, und dem ganzen ukrainischen Volk die Kraft und das Geschick, die erforderlich sind, um die nun gewonnene Freiheit in sozialer Verantwortung zu festigen und zu bewahren. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Transformation eines Landes zu einer freiheitlichen Demokratie und zu sozialer Marktwirtschaft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und langwierig ist.
Im Westen der Bundesrepublik Deutschland blicken wir nun schon auf 56 Jahre in Freiheit zurück, im Osten sind es 15 Jahre. Die Freiheit erscheint deshalb vielen als etwas Selbstverständliches, das immer schon da war. Manche vergessen, dass sie ein flüchtiges, ein prekäres Gut ist, schwer zu gewinnen und leicht zu verspielen. Das ukrainische Beispiel sollte uns daran erinnern, wie wertvoll die Freiheit ist und wie lange es dauern kann, bis ein Volk sie sich zurückerobert. Niemand leugnet, dass es auch in Freiheit bedrückende Sorgen und Probleme geben kann und gibt, aber die Generationen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, die die alltägliche Gängelung der SED-Diktatur überstanden haben, die Stalinismus und die Willkür machtversessener Oligarchien kennen, in Deutschland die älteren und Alten, in der Ukraine alle gegenwärtigen Generationen, wissen, dass es ohne Freiheit weitaus unwirtlicher ist.
In den letzten Wochen spielt die Ukraine eine Rolle in den innenpolitischen Auseinandersetzungen hier in unserem Land. Wir haben Ihren Hinweis verstanden, Herr Präsident, dass der Eindruck nicht entstehen darf, Besucherinnen und Besucher aus der Ukraine würden pauschal als potentielle Straftäter verdächtigt. Das Gegenteil ist richtig: Ukrainerinnen und Ukrainer sind uns in Deutschland genau so willkommen wie alle anderen Gäste. Die große Sympathie und Solidarität der Deutschen für die tapfere Revolution, den beharrlichen Protest für den Sieg der Demokratie bringen die Fraktionen des Deutschen Bundestages nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass Sie, Herr Staatspräsident Juschtschenko schon so kurz nach Ihrer Wahl eingeladen sind, vor dem Plenum zu sprechen. Um diese Ansprache bitte ich Sie nun: Sie haben das Wort.“