Begrüßungsansprache von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des 55. Jahrestages der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages
Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Assemblée Nationale und dem Deutschen Bundestag,
dies ist heute ein Tag der Parlamente: wir debattieren in den Parlamenten in Berlin und in Paris eine Resolution, die allein im parlamentarischen Raum entstanden ist.
Wir wissen dabei: Wir brauchen Regierungen. Gewählte Regierungen, nicht nur geschäftsführende. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat gestern auf ihrem Parteitag für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen gestimmt. Nicht nur die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland warten darauf, dass es nach nunmehr vier Monaten seit den Bundestagswahlen bald eine voll handlungsfähige Regierung gibt. Darauf warten auch unserer Freunde und Partner in Europa und der Welt.
Wir debattieren heute über eine gleichlautende Resolution von Assemblée Nationale und Deutschem Bundestag.
Ich begrüße dazu die Mitglieder der Delegation aus dem französischen Parlament mit seinem Präsidenten François de Rugy an der Spitze. Seien Sie uns herzlich willkommen!
Es ehrt uns, dass Sie unserer Debatte beiwohnen.
Und ich danke Ihnen, lieber François de Rugy, dass Sie gleich zu uns sprechen –
so wie wir heute Nachmittag mit einer eigenen Delegation in Paris zu Gast sein werden und ich die Gelegenheit habe, mich an unsere französischen Kolleginnen und Kollegen zu wenden.
Dieser wechselseitige Besuch folgt fast schon einer Tradition – nach den gemeinsamen Sitzungen unserer beiden Parlamente 2003 in Versailles und 2013 hier in Berlin.
Selbstverständlich ist das trotzdem nicht. Es ist Ausdruck der ganz besonderen Beziehungen unserer beiden Staaten.
An einem 22. Januar wurde in Paris der Elysée-Vertrag unterzeichnet. Das war 1963 – und es hat die politischen Beziehungen Deutschlands und Frankreichs verändert. Glücklich verändert!
Aber die Welt ändert sich auch – beständig. Und mit ihr die Herausforderungen für unsere beiden Länder.
Deshalb nehmen wir den 55. Jahrestag zum Anlass, um gemeinsam die Grundlagen unserer engen Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.
Die dazu in den vergangenen Wochen erarbeitete Resolution trägt den unterschiedlichen Akteuren der deutsch-französischen Freundschaft Rechnung.
Sie nimmt uns als Parlamentarier in die Pflicht.
Und sie fordert die Regierungen auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen.
Beides braucht es. Denn unseren beiden Staaten kommen besondere Aufgaben im zusammenwachsenden Europa zu.
Wir spüren doch die Erwartungen, die sich deshalb an uns richten – gerade auch von unseren Nachbarn.
Wir vergessen darüber nicht die eigentlichen Grundlagen unserer Partnerschaft. Das sind die engen zivilgesellschaftlichen Kontakte: in den Grenzregionen, in den Städte-Partnerschaften, im Jugendwerk und in den zahlreichen deutsch-französischen Gesellschaften.
Sie erst ermöglichten es uns, auch politisch zueinander zu finden.
Dazu brauchte es nach der Epoche verheerender Weltkriege kluge, mutige Menschen, die halfen, aufeinander zuzugehen.
Einer von ihnen war Joseph Rovan.
Vor 100 Jahren wurde er als Joseph Rosenthal in München geboren – 1918, als der Erste Weltkrieg endete. La grande guerre, wie unsere französischen Freunde noch immer sagen.
Später fand er vor den Nationalsozialisten in Frankreich Schutz – und eine neue Heimat.
In der Résistance kämpfte Rovan für die Freiheit, er überlebte das KZ Dachau. Als Franzose mit deutschen Wurzeln erhielt er 1968, vor 50 Jahren, eine Professur für deutsche Geschichte und Politik in Paris.
Wir schulden vielen großen Persönlichkeiten der Aussöhnung Dank. Unter ihnen hat Joseph Rovan wesentlich dazu beigetragen, dass aus Feinden Freunde wurden.
Wenn wir heute über die gemeinsame Resolution debattieren, dann auch im Geiste dieses Mannes.
Denn wir wissen um die Geschichte, natürlich –
aber wir wollen unsere gemeinsame Zukunft gestalten.
So wie es Joseph Rovan auf den Punkt brachte, als er über Deutsche und Franzosen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert schrieb:
„Zwei Völker – eine Zukunft.“
Heute, unter den Bedingungen der Globalisierung, gilt für Frankreich und Deutschland mehr denn je: Diese Zukunft, unsere gemeinsame Zukunft, liegt in Europa!
Monsieur le Président, cher collègue, cher Francois de Rugy: Vous avez la parole!